Kommentar: Die Zeitung der Zukunft

Die Krautreporter, eine Gruppe von 25 Reportern, haben genug Unterstützer gefunden, um ihr geplantes Projekt in die Tat umzusetzen: ein Online-Magazin herauszubringen. Der Philosoph Jörg Friedrich nimmt dazu Stellung.

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Von
  • Jörg Friedrich
Inhaltsverzeichnis

Die Krautreporter können starten, sie haben ihr Crowdfunding-Ziel erreicht. Für die Zukunft des Text-Bild-Journalismus ist das eine Chance, etwas Neues, Interessantes zu schaffen. Allerdings ist zu bedenken, dass die Krautreporter für den Online-Journalismus, den sie reparieren wollen, keine überzeugende innovative Idee vorgelegt haben. Schon der Begriff Online-Journalismus ist dabei eigentlich ein alter Hut, denn jeder Journalismus ist schon heute in irgendeiner Form online – Fernsehen und Rundfunk schon seit Jahrzehnten, und interaktiv sind sie spätestens seit der Einbeziehung des Telefonanrufs in Live-Sendungen. Wenn aber alles online ist, dann kann man diesen Zusatz auch weglassen.

Das Besondere an dem Journalismus, um den es den Krautreportern geht, ist nicht, dass er "online" ist, sondern dass er im Ergebnis noch immer durch Texte dominiert ist, die durch Bilder illustriert werden. Zu diesem Journalismus-Feld zählt offenbar das, was die Krautreporter machen wollen, es ist das Feld, das bisher von den Zeitungen im Tages-, Wochen- oder Monatsrhythmus bestellt wird. Es geht also um die Zukunft der Zeitung – oder um die Zeitung der Zukunft. Um die Frage, ob das journalistische Produkt "Bündel aus aktuellen Texten und Bildern" eine Zukunft hat und wie dieses Produkt in Zukunft aussehen wird.

Ein Kommentar von Jörg Friedrich

Jörg Friedrich ist Philosoph und Geschäftsführer eines Münsteraner Softwarehauses. Im vergangenen Jahr erschien bei Telepolis sein Buch "Kritik der vernetzten Vernunft - Philosophie für Netzbewohner".

Schon heute wird die gesamte Zeitung, ihre Struktur und ihre einzelnen Elemente, digital erstellt, und ihre Vergegenständlichung auf Papier ist bereits jetzt ein teurer Medienbruch, der einschließlich der aufwändigen Transportlogistik schon bald nicht mehr notwendig sein wird. Alle, die heute sagen, dass sie das schöne große Papier so sehr mögen und es keinesfalls auf dem Frühstückstisch missen möchten, werden sich schnell von den Vorteilen der kleinen Lesegeräte überzeugen lassen, so wie frühere Generationen sich schnell von den Vorzügen der modernen Telefonie beeindrucken lassen haben.

Ändert sich also alles? Steht die Zukunft der Zeitung selbst in Frage, weil Online-Nachrichtenportale sie verdrängen? Vieles spricht dagegen, denn die Zeitung hat weitere Vorteile, die sie unverzichtbar machen: Sie hat klare Erscheinungstermine, sie ist textorientiert und sie ist Produkt einer arbeitsteiligen, organisierten Redaktion. Das sind, auch wenn manche Online-Aktivisten darüber lächeln, vermutlich am Ende die Eigenschaften, die dafür sorgen, dass Zeitungen sich im Informationsmarkt behaupten.

Digitale Zukunft heißt eben nicht, dass die Zeitung der Zukunft eine sich ständig aktualisierende Sammlung einzelner Beiträge, ob Text, Bild, oder auch Video- und Tonschnipsel ist. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Zeitung auch in Zukunft und auch bei Internet-gestützter digitaler Verbreitung in Tagesausgaben erscheinen wird. Vielleicht wird es wieder, wie vor vielen Jahrzehnten, eine Morgen- und eine Abendausgabe geben, aber das Erscheinen wird an bestimmte Momente im Tagesverlauf gebunden bleiben. Die Menschen in der modernen Welt werden sicherlich auch in den nächsten Jahrzehnten ihr Leben nach einem Tagesablauf strukturieren. Ein periodisierter Alltag, an dem vom Erwachen bis in den Abend die notwendigen Verrichtungen auf immer gleiche Weise aufeinander folgen, ist eine Kulturtechnik, die tief verankert und lang eingeübt ist, und auf der viele gemeinschaftliche Techniken beruhen. Auch wenn zu erwarten ist, dass sich die Tagesabläufe diversifizieren, so werden die meisten Menschen weiterhin je ihren typischen Tagesablauf haben. Und in diesem Tagesablauf wird zu einem bestimmten Zeitpunkt, vielleicht auch zweimal, die Zeitung aufgeschlagen.

Wer in so einem Augenblick zur Zeitung greift, sei sie aus Papier oder eine App auf dem Tablet, der will auf der Titelseite nicht die Meldungen sehen, die der Zufall gerade in der Sekunde zuvor an die Spitze gespült hat, sondern das, was in den vergangenen 24 Stunden – aus Sicht der Redaktion, der er vertraut, wichtig war, das, worüber es sich an diesem Tag nachzudenken lohnt. Der Gegenstand der Zeitung ist die Gegenwart, und diese wird nicht zufällig mit dem Wort "heute" bezeichnet. Dieses Heute reicht in seiner Bedeutung über den einzelnen Tag zwar hinaus, aber es sollte täglich bedacht werden, und ein Zeitungsleser nimmt sich dazu täglich eine gewisse Zeit. Die Zeitung wird auch in Zukunft durch ihr tägliches Erscheinen definiert, dadurch, dass sie die Themen eines Tages behandelt und mit bestimmt.

Doch noch mehr als das. Auch die Zeitung der Zukunft wird, so ist zu vermuten, ein textorientiertes Medium sein, in dem der geschriebene Text durch Abbildungen und Fotos, vielleicht auch durch Ton- und Filmsequenzen ergänzt, aber nicht verdrängt wird. Das Lesen eines geschriebenen Textes lässt sich am besten mit dem eigenen Gedankenfluss synchronisieren, es lässt sich unterbrechen, wiederholen und abkürzen, wie es mit keinem anderen Informationsstrom möglich ist. Aus dem gleichen Grund wird das Standbild, sei es Foto oder Grafik, in der Zeitung nicht durch Videosequenzen verdrängt werden.

Zeitungen waren nie eine Ansammlung von Einzeltexten, die zusammenhangslos nebeneinander stehen. Sie widmen sich den Themen des Tages aus verschiedenen, aber verknüpften journalistischen Perspektiven, als Bericht, Kommentar, Analyse, Reportage oder Hintergrundinformation. Die zukünftige digitale Zeitung wird dieses abgestimmte und koordinierte Text-Netz perfektionieren, sie wird es den Lesern einfacher machen, im Netz der Tageszeitung und darüber hinaus zu navigieren, sie wird Texte vorheriger Ausgaben einbeziehen und auf externe Quellen und Ressourcen verweisen. Sie wird neben der Standard-Anordnung des heutigen Zeitungslayouts weitere Gruppierungen von Texten ermöglichen.

Gerade dieses Vernetzen und Gruppieren setzt aber voraus, dass nicht einzelne Autoren oder Redakteure schlicht Beiträge in ein System einspeisen, sondern dass eine Redaktion eine Ausgabe als Gemeinschaftsprodukt produziert. Welche Themen in welcher Tiefe und in welchem Umfang behandelt werden, ob ein Schwerpunkt über mehrere Ausgaben entwickelt werden soll, ob eine Debatte organisiert wird, das sind Entscheidungen, die in einer Redaktion mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten herbeigeführt und umgesetzt werden.

Ob eine Zeitungsredaktion auch in Zukunft an einem Ort konzentriert ist, ob jeder Redakteur einen festen Schreibtisch, jedes Ressort seine festen Büros hat, ob Redaktionskonferenzen an runden Tischen mit Blick auf die Heimatstadt der Zeitung stattfinden, ist sekundär. Das ändert sich, wie sich der Arbeitsalltag vieler Menschen durch die Digitalisierung ändert. Aber Redakteure wie ihre Leser sind Menschen mit einem Tagesablauf, und so, wie die Leser ihre Zeitung zu einem bestimmten Moment des Tages zur Hand nehmen, so werden die Entscheidungen der Redaktionen zu bestimmten Zeitpunkten am Tag getroffen: Auch aus Perspektive der Redaktion bleibt die Zeitung also Tageszeitung.

Sicherlich werden die Grenzen zwischen den verschiedenen journalistischen Erzeugnissen in der digitalen Welt verwischen oder neu gezogen. Aber die Zeitung wird ihrem Wesen nach erkennbar bleiben, und sie wird – als wichtiges aktives Element der öffentlichen Meinungsbildung – auch notwendig bleiben, ob das Einzelexemplar am Kiosk oder im App-Store gekauft wird, ist dafür ohne Belang. In diesem Sinne wird – im besten Falle – das Produkt der Krautreporter in ein paar Jahren schlicht "Zeitung" genannt werden können. (anw)