Fragen Sie Dr. Watson

Vor drei Jahren glänzte IBMs Supercomputer Watson in einer Quizshow. Seither hat sich viel getan: IBM will Watson zum unverzichtbaren Entscheidungshelfer machen – egal ob es um Geld oder Gesundheit geht.

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Von
  • Boris Hänßler
Inhaltsverzeichnis

Vor drei Jahren glänzte IBMs Supercomputer Watson in einer Quizshow. Seither hat sich viel getan: IBM will Watson zum unverzichtbaren Entscheidungshelfer machen – egal ob es um Geld oder Gesundheit geht.

Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Während man beim Versicherungsberater einen Cappuccino schlürft, liest eine Software alle Unterlagen gewissenhaft durch und meldet dann sämtliche Versicherungslücken und überflüssigen Verträge. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, engagiert die australisch-neuseeländische ANZ Bank einen notorischen Spieler: Watson. 2011 hatte er in der Quizshow "Jeopardy!" den 74-maligen Champion Ken Jennings geschlagen. Watson ist kein Mensch, sondern eine intelligente Software, die auf 90 Servern mit 3,5 Gigahertz schnellen Acht-Kern-Prozessoren läuft. Sie versteht und beantwortet Fragen in gesprochener Sprache und kann überall zum Einsatz kommen, wo Menschen Fragen haben, deren Antworten prinzipiell vorhanden, aber in einem großen, unstrukturierten Informationshaufen verborgen sind. Damit will IBM nicht nur die Art und Weise fundamental verändern, wie wir Computer nutzen. Das Unternehmen gibt auch einen Ausblick darauf, wie künstliche Intelligenz unser Leben verändern wird.

Nach dem "Jeopardy!"-Erfolg suchte der Konzern offensiv nach Unternehmen und Einrichtungen, die mit Watson arbeiten wollen. Im Januar 2014 verkündete er, eine Milliarde Dollar für die weitere Entwicklung von Watson lockerzumachen. Daraus entsteht eine eigene Geschäftseinheit namens IBM Watson Group mit Sitz in New York und 2000 Mitarbeitern. Um zu beweisen, wie gut Watson arbeitet, hat sich IBM mit dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center (MSKCC) zusammengetan, das weltweit zu den besten und größten Krebskliniken zählt. Das Problem, das Watson dort lösen soll, ist kein geringes: Krebs besser zu behandeln. Tumore sind tückisch. Es gibt Hunderte verschiedener Typen, jeder besitzt eigene genetische Merkmale – und entsprechend unterschiedliche Angriffspunkte für Therapien. Laut Mark L. Graber, Gründer der "Society to Improve Diagnosis in Medicine", sind bis zu 20 Prozent aller medizinischen Diagnosen in den USA nicht korrekt, nach einer Studie in "The Mayo Clinic Proceedings" sind es sogar 26 Prozent. Im "Journal of Patient Safety" heißt es, 210000 Menschen sterben jährlich an einer falschen Behandlung im Krankenhaus. In Deutschland gibt es laut AOK jährlich rund 19000 Behandlungsfehler mit tödlichen Folgen.

Dabei sind Fachzeitschriften voll von Studien zur Wirksamkeit neuer Behandlungen. Doch Ärzte ziehen selten das aktuelle Wissen sowie die komplette Krankengeschichte der Patienten zu Rate. Insbesondere abseits der hochspezialisierten Krebszentren sei das ein Problem, beklagt MSKCC-Arzt Mark Kris. Niedergelassene Onkologen hinken oft Jahre hinter dem aktuellen Forschungsstand her – behandeln nach Kris' Schätzungen jedoch 85 Prozent der Krebspatienten. Genau an dieser Stelle kommt Watson ins Spiel: Mediziner haben nämlich nicht die Zeit, alle Fachzeitschriften-Artikel und Patientenakten vollständig zu lesen. Watson hingegen braucht dafür nur ein paar Minuten – wenn nicht sogar Sekunden.

Erhält ein Patient zum Beispiel die Diagnose Lungenkrebs, stellt der Arzt per Texteingabe seine Fragen an Watson. (In früheren Versionen geschah dies per Spracheingabe über ein Mikrofon, aber das hat sich nicht bewährt.) Watson geht dann alle Daten durch. Dazu gehören die elektronisch vorliegenden Patientenakten mit bisherigen Erkrankungen und Behandlungen, Studien aus Tausenden von wissenschaftlichen Zeitschriften, Behandlungsrichtlinien und die Datenbanken des Krankenhauses, in denen bisherige Therapie-Erfolge dokumentiert sind. In wenigen Minuten erhält der Arzt eine Liste möglicher Behandlungsoptionen – mit einer Prozentangabe, welche am besten passt. Außerdem listet das System aktuelle medizinische Studien auf, an denen der Patient teilnehmen kann. Watson schlägt sogar noch ein paar Fragen an den Patienten vor, um die Diagnose abzusichern. Fließen alle Erkenntnisse in die Behandlung ein, können die Ärzte spezifische Tumore relativ gut behandeln. "Der evidenzbasierte Ansatz mit Watson wird die Krebsfürsorge komplett verändern, weil sich relevante Forschungsergebnisse unglaublich schnell verbreiten werden", ist Kris daher überzeugt.

Am Ende entscheidet jedoch immer der Arzt, welchen von Watsons Vorschlägen er mit dem Patienten bespricht. Weil das Computersystem natürliche Sprache versteht, kann auch der Patient seine Wünsche äußern, etwa: "Meine Tochter heiratet in sechs Monaten. Egal wie Sie mich behandeln, ich möchte auf jeden Fall noch so lange leben." Der Arzt kann zudem Watsons Entscheidungsgrundlagen zurückverfolgen. Per Klick bekommt er immer tiefere Einsichten in die Daten, die Watson für seine Vorschläge berücksichtigte.

Bis Watson wirklich im Arztalltag angekommen ist, wird freilich noch etwas Zeit vergehen. Derzeit bauen die Ärzte zusammen mit den IBM-Entwicklern den digitalen Korpus für das Medizin-Know-how auf. In zwei bis drei Jahren aber soll der Zugang dazu weltweit über das Internet möglich sein. Wenn sich die Technik bewährt und die Mediziner mitziehen, würde ein Teil der ärztlichen Kunst in die Cloud wandern. Die Furcht, dass damit selbst hochqualifizierte Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, wäre dann durchaus real. Klaus-Peter Adlassnig, Informatiker an der medizinischen Universität Wien und Chefredakteur der Zeitschrift "Artificial Intelligence in Medicine", ist allerdings noch skeptisch. Watson sei zwar eine sehr gute Suchmaschine, sagte er gegenüber "Businessweek". Aber das von ihm generierte Wissen sei so weit gefasst, dass es den klinischen Alltag eher lähme.