Die Welt wird softwareförmig

Anmerkungen zu den geheimen Fortbewegungsmethoden unbelebter Gegenstände, Umzügen sowie dem grassierenden Speicherwahn.

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Von
  • Peter Glaser

Anmerkungen zu den geheimen Fortbewegungsmethoden unbelebter Gegenstände, Umzügen sowie dem grassierenden Speicherwahn.

Manche Dinge ziehen unverlangt und rätselhafter Weise ganz von alleine um. Der USB-Stick, den man mit einhundertprozentiger Gewissheit am Vortag auf seinen Schreibtisch gelegt hat, ist nicht mehr da. Auch nicht unter den Papierschichtungen, die da liegen. Auch nicht auf den Boden oder in den Papierkorb gefallen. Auch nicht irrtümlich in der Hosentasche oder gedankenverloren ins Bad mitgenommen. – Was ist geschehen?

Es gibt eine Theorie, die besagt, dass unbelebte Gegenstände manchmal in die dem Menschen nicht zugängliche fünfte Dimension abrücken, wie auch immer. Vielleicht steht ihnen auch Urlaub zu und wir wissen es nur nicht. Es ist eine bestimmte Kategorie von unbelebten Gegenständen, die manchmal plötzlich nicht mehr da ist. Dinge, die man in einer Hand tragen kann (wie übrigens oft auch in James-Bond-Filmen, in denen das die bevorzugte Größe der Gadgets ist, mit denen die Welt zerstört respektive gerettet werden kann). Dagegen hat man noch nie etwas davon gehört, dass jemand beispielsweise seine Zentralheizung nicht mehr gefunden hätte. Manche dieser von allein umziehenden Dinge kehren wieder zurück. Nachdem man sein ganzes Büro kubikzentimeterweise durchsucht – und bei der Gelegenheit vielleicht gleich aufgeräumt oder eine Inventur gemacht – hat, liegt der USB-Stick wieder da, ziemlich genau dort, wo man angefangen hat, ihn zu suchen.

Manche sehen in solchen Dingen, die sich davonmachen, ein Zeichen dafür, dass sich eine größere Veränderung ankündigt. Leichter gemacht wird einem das heute auch dadurch, dass sozusagen auch Immobilien immer mobiler werden. Man muss sein Büro gar nicht verlassen, um immer wieder kleine, umzugsartige Vorgänge beobachten zu können. Was auch damit zu tun hat, dass von der Büroeinrichtung bis zu den Geräten heute alles immer flexibler, beweglicher und tragbarer wird. Und weil es so leicht geht, schiebt man eben mal Teile der Einrichtung von hier nach da, von den stets mitwandernden Laptops, Tablets und Smartphones, die uns inzwischen regelrecht bewohnen, ganz zu schweigen. Die materielle Welt versucht, sich der Wendigkeit, Modularität und Flexibilität von Software anzupassen.

Gleichfalls ohne Umzugskartons gehen auch digitale Umzüge vonstatten. Von einem alten Speichermedium auf ein neues beispielsweise, oder von einem Running System auf ein Na-hoffentlich-läufts-da-auch (NHLDA). Bei der Gelegenheit kann man übrigens auch mal seine Datenkonvolute aufräumen. Und aufräumen heißt auch: löschen. Aus der Welt der Dinge kennt man den Satz: Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt. Etwas weniger martialisch ausgedrückt heißt das: Gelegentlich etwas Ballast abzuwerfen, ist eine wunderbare Idee. Das wird einem inzwischen aber immer schwerer gemacht.

Früher war Löschen eine unumkehrbare Entscheidung. Heute leben wir in einem Zeitalter des umfassenden Speicherwahns. Jeder hebt alles auf, jedenfalls in digitaler Form, denn Daten wiegen nichts und nehmen keinen Raum ein. Die Hersteller von Speichermedien können gar nicht so schnell liefern, wie der Platz auch schon wieder vollgestopft ist. Die Neigung, nichts mehr zu löschen und auch sämtliche verwackelten Urlaubsfotos aufzuheben, führt zu einer gefährlichen Entwicklung. Denn nicht nur Individuen sammeln immer mehr Daten, sondern, wie wir dank Edward Snowden in dramatischer Deutlichkeit wissen, auch Behörden.

Vor allem: Was ich vor Jahren einmal ins Netz geschrieben habe, ist da meist unverändert zu lesen. Es hält einen Zustand meiner Persönlichkeit fest, die sich längst weiterentwickelt hat. Das Netz besteht darauf, dass ich immer noch so bin, wie ich einmal war. Also umziehen, als eine Maßnahme der Selbst-Innovation. Damit ich immerhin nicht mehr da bin, wo ich einmal war. (bsc)