Filme für das VR-Zeitalter

Fortschritte bei der Technik für virtuelle Realität lassen sich nicht nur für Spiele nutzen: Einige Studios experimentieren bereits mit Filmen, bei denen de Zuschauer tief ins Geschehen eintauchen.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Rachel Metz

Fortschritte bei der Technik für virtuelle Realität lassen sich nicht nur für Spiele nutzen: Einige Studios experimentieren bereits mit Filmen, bei denen de Zuschauer tief ins Geschehen eintauchen.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl, ziehen ein Headset über die Augen und Kopfhörer über die Ohren. Auf einmal befinden Sie sich auf einem Felsen in einer von der Sonne beschienenen Lichtung, umgeben von hohen Bäumen und den Geräuschen des Waldes. Sie sind allein – bis Sie den Kopf drehen und plötzlich Reese Witherspoon sehen. Sie trägt einen riesigen Rucksack, kommt auf Sie zu und sieht aus wie eine gestresste Camperin.

Ungefähr das erlebt man in der Anfangsszene von Wild – The Experience, einem kurzen VR-Trailer für Witherspoons neuen Film Wild, basierend auf einem Buch von Cheryl Strayed über ihre Wanderung entlang des Pacific Crest Trail. Man spürt zwar noch das sperrige Headset auf dem Kopf, doch eine Zeitlang fühlt man sich tatsächlich in eine andere Realität transportiert. Man nimmt die Ruhe der Natur wahr und sieht sie überall um sich herum – ein interessanter Kontrast zu der merkwürdigen Erfahrung, links von sich Witherspoon eine Pause einlegen zu sehen, ohne dass sie einen bemerkt.

Dies ist nur eine der immersiven Erfahrungen, die Félix Lajeunesse und Paul Raphaël mit ihren Felix & Paul Studios realisiert haben, einer Filmproduktionsfirma aus Montreal, die sich auf 3D-Filme mit echten Schauspielern und virtueller Realität konzentriert. Ihr Studio und einige andere erkunden Möglichkeiten, virtuelle Realität auch jenseits von Spielen einzusetzen. „Wir sehen virtuelle Realität nicht als Medium für Horrorgeschichten und heftige adrenalingetriebene Emotionen. Stattdessen wollen wir damit die menschliche Erfahrung erweitern“, sagt Lajeunesse.

Die Welt der Virtuelle-Realität-Filme ist noch klein – bislang bietet sie nicht viel mehr als ein paar Experimente, und stets braucht man dafür irgendeine Art von Headset. Allerdings schreitet die Entwicklung bei VR-Brillen wie Oculus Rift, Gear VR von Oculus und Samsung oder Project Morpheus von Sony schnell voran. Dies könnte ein Signal dafür sein, dass immersive Display-Technologien auf dem Weg in den Mainstream sind.

Lajeunesse und Raphaël jedenfalls hoffen, dass mit zunehmender Nachfrage nach VR-Technik auch das Interesse an neuen Formen filmischen Ausdrucks zunimmt. „Wir glauben, dass eine neue, vollkommen andere Kunstform entstehen wird“, sagt Lajeunesse. Hollywood scheint angetan: Wild – The Experience wurde von Fox Searchlight Pictures in Auftrag gegeben, von dem auch der Wild-Film selbst stammt. Auf konkrete Anfragen dazu reagierte das Studio nicht. Bei einer anderen Gelegenheit hat Mike Dunn, President des Heimunterhaltungsgeschäfts von 20th Century Fox, jedoch bereits gesagt, er rechne damit, in diesem Jahr mit dem Verkauf von Virtual-Reality-Clips zu Fox-Filmen zu beginnen.

Die Produktion von VR-Filmen unterscheidet sich sehr von der klassischen. Zum einen ist es bei ihnen viel schwieriger zu steuern, wohin der Zuschauer seine Aufmerksamkeit richtet. Und es bestehen noch viele Herausforderungen bezüglich der Frage, wie man Nutzern die Möglichkeit gibt, eine virtuelle Welt mit echten Schauspielern so zu erkunden wie eine animierte oder virtuelle Spiele-Welt. Die ersten Beispiele zeigen jedoch schon, wie mitreißend das Ergebnis sein kann, und lassen das Potenzial von virtueller Realität auch jenseits von Unterhaltung, etwa für Bildung oder gemeinsame Arbeit, erkennen.

Lajeunesse und Raphaël stammen aus dem traditionellen Filmgeschäft und konzentrieren sich bei virtueller Realität bislang auf kurze Realfilme. Ihr erstes Werk dieser Art war Strangers mit dem Singer-Songwriter Patrick Watson aus Montreal. Die Zuschauer sitzen darin auf einem Sitzkissen in Watsons Studio und können dabei sein, während er Musk macht. Die Premiere lief auf dem Festival SWSX in Texas im Jahr 2014. Seitdem hat das Duo einige weitere Produktionen fertiggestellt, darunter Herders, die Zuschauer in die Welt der Yak-Hirten in der Mongolei bringt, und eine Szene aus Zarkana, einer Show des Cirque de Soleil.

Um ihre Filme real aussehen und klingen zu lassen, haben Lajeunesse und Raphaël ein stereoskopisches 360-Grad-Kamerasystem und ein Audiosystem entwickelt, das Töne aus allen Richtungen aufnimmt. Auch eine eigene Software für die Postproduktion haben sie geschrieben, und beim Schnitt mussten sie im Prinzip selbst ein Gear-VR-Headset tragen, wie Lajeunesse erklärt. Beim Schneiden definieren die Produzenten einen virtuellen Ort, von dem aus der Zuschauer das Geschehen verfolgt.

Wild – The Experience ist der erste Film, bei dem Felix & Paul auch Reaktionen vorgesehen hat. Das Verhalten des Zuschauers beim Betrachten, etwa seine Blickrichtung, hat also Einfluss darauf, ob eine zweite Figur erscheint oder nicht: in diesem Fall die Mutter von Strayed (gespielt von Laura Dern), die in dieser Szene als ein Produkt der Fantasie der Schauspielerin auftritt.

„Wir mögen die Idee von Reaktivität, weil sie das Gefühl der Präsenz verstärkt“, sagt Lajeunesse. Selbst die Grundlagen des VR-Filmemachens aber sind noch eine Herausforderung. Anfangs war es für Felix & Paul am schwierigsten, herauszufinden, wie sich die Szenen so filmen lassen, dass der Maßstab der virtuellen Welt nicht manchen Zuschauern merkwürdig vorkommt. Und bislang sehen die Filme des Studios keine computergenerierten Effekte vor, die dem Zuschauer einen Körper geben. Also fühlt man sich zum Zusehen ein wenig wie ein Geist – wenn man seinen echten Arm vor das Gesicht hält, verändert sich nichts.

Hinzu kommt das Problem beim Aufstehen oder Herüberlehnen. Zwar ist es möglich, bei VR-Spielen und –Filmen computergenerierte 3D-Modelle zu nutzen, mit denen die Position eines Nutzers erfasst und die Perspektive entsprechend angepasst wird. Bei Realfilmen in VR-Technik aber funktioniert das bislang noch nicht. Zurzeit ist es beispielsweise möglich, sich beim Anschauen eines der Werke von Felix & Paul umzudrehen, denn sie sind ja in 360 Grad gefilmt. Doch wenn man aus dem Stuhl aufsteht, bewegt sich das ganze Universum mit.

Trotz dieser Probleme hält Jeremy Bailenson, Associate Professor an der Stanford University und Gründungsdirektor des dortigen Virtual Human Interaction Lab, virtuelle Realität für ein spannendes Medium für realistische Kurzfilme. Mit solchen Werken, so sagt er, „kann man das nutzen, was ich als das Paradox der virtuellen Realität bezeichne: Das Gehirn behandelt die Szene als real, aber trotzdem ist alles möglich.“

(sma)