Der Futurist: Strom im Überfluss

Was wäre, wenn Kernfusion funktionieren würde?

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Was wäre, wenn Kernfusion funktionieren würde?

Die Wundermaschine war zwar fünf Jahre später fertig und 450 Prozent teurer als geplant. Doch als der erste Kernfusionsreaktor im Jahr 2045 endlich ins Netz einspeiste, störte das kaum jemanden. Es war schon Sensation genug, dass er tatsächlich einigermaßen zuverlässig lief. Damit schien der alte Menschheitstraum von unbegrenzter Energie in Reichweite.

Doch wer sollte aus dem Prototyp ein praxistaugliches Kraftwerk entwickeln und es betreiben? Seit Jahrzehnten hatte niemand mehr eine Anlage mit mehr als ein paar Hundert Megawatt Leistung gebaut. Also gründeten die Europäer ein Industriekonsortium mit staatlicher Beteiligung. "Wir haben die Technik mit Steuergeldern geschaffen, nun müssen wir sie auch nutzen", hieß es.

Schnell stellte sich heraus: Das Konzept macht nur dann Sinn, wenn es groß angegangen wird. Mindestens 50 Gigawatt sollte der erste Reaktor leisten, installiert auf dem Gelände des ehemaligen Kernkraftwerks Philippsburg am Rhein. 2062, acht Jahre später und 1200 Prozent teurer als anvisiert, ging die Monster-Stromfabrik in Betrieb.

Doch wohin mit der ganzen Energie? Wegen der zunehmend dezentralen Stromerzeugung sind die alten Übertragungsnetze seit den 2030er-Jahren kaum noch ausgebaut worden. Die geplanten neuen Hochspannungs-Gleichstromleitungen von Philippsburg nach Paris, Manchester, Riga, Sofia, Rom und Madrid waren noch nicht fertig. Die Landesregierungen hatten ihren Ausbau nur mit gebremstem Eifer vorangetrieben. Einige meinten auch: sabotiert. Dazu beigetragen hatte die Lobby der erneuerbaren Energien.

Wind und Sonne lieferten 60 bis 80 Prozent des Stroms in ganz Europa. Fusionsenergie würde die Nachfrage kollabieren lassen. Die Öko-Verbände starteten eine erfolgreiche Kampagne gegen die Stromtrassen, die lokale Bürgerinitiativen willig aufgriffen. Um mit dem Strom irgendwas anzufangen, subventionierte die EU die Ansiedlung energieintensiver Betriebe in unmittelbarer Nähe des Reaktors. Bald war die ganze Gegend gesäumt von Gewächshäusern, Aluminiumhütten, Titanfabriken, Carbonfaserwerken und Rechenzentren.

Leichtbauwerkstoffe wurden so billig, dass sich einige Kommunen sogar Straßenlaternen aus Titan und Bushaltestellen aus Carbonfaserkunststoff gönnten. Außerdem verlegten sie elektrische Heizmatten unter die Fahrbahnen und Bürgersteige. Eine ganze Generation von Kindern kannte Eis und Schnee nur noch aus dem Internet.

Doch all das reichte nicht als Stromsenke für das gewaltige, kaum regelbare Fusionskraftwerk. Als Nächstes baute die EU mit Steuergeldern eine Meerwasser-Pipeline an den Rhein, wo mitten im Binnenland eine Entsalzungsanlage entstand. Das erzeugte Süßwasser wurde mit Tankschiffen in den Nahen Osten verfrachtet. Der Transport verbrauchte zwar mehr Energie als eine Entsalzung vor Ort, aber dank großzügiger Subventionen lohnte sich das.

Eines kalten Februartages im Jahr 2075 geschah dann das Unfassbare: Rund um Philippsburg gingen die Lichter aus. Die vielen Verbraucher hatten es tatsächlich geschafft, das Stromnetz in die Knie zu zwingen. Da es bisher immer nur darum ging, überschüssigen Strom abzuführen, gab es keinen Plan dafür, plötzliche Stromlücken aufzufüllen. Der letzte Strombroker, der sich mit so etwas auskannte, war 2066 in Rente gegangen. Ein neues 50-Gigawatt-Monstrum aber wollte niemand mehr errichten. Also bauten Investoren in Windeseile neue Kohlekraftwerke – mit freundlicher Unterstützung des Staates. (grh)