Leser-Reporter sind eine Plage

Als Leser-Reporter muss man nichts können, sondern nur im richtigen Moment schmerzfrei mit dem Smartphone draufhalten. Wer heute am Unfallort knipst statt zu helfen, kann obendrein mit einer schönen Belohnung rechnen.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Sascha Steinhoff

Ein Promi denkt er sei unbeobachtet? Es brennt im Nachbarhaus? Auf der Autobahn gibt's eine Massenkarambolage? Sofort filmen und fotografieren, es lockt Bargeld! Wer ein Smartphone hat, kann alles was ihm vor die Linse läuft, ablichten und an die Medien schicken.

Soziale Netzwerke leben von User-generated Content, und von dem leckeren Kuchen wollen sich natürlich auch große Medienhäuser mehr als nur ein Scheibchen abschneiden. Eine sehr unrühmliche Rolle spielen hier Boulevardmedien wie beispielsweise die Bild, die nicht nur Promis ihre Leser-Reporter auf den Hals hetzt.

Bild bewirbt die hauseigene Fotocommunty 1414 offensiv mit Verdienstmöglichkeiten. Seit dem Jahr 2006 hat die Bild eigenen Angaben zufolge 22.000 Bilder aus der Community im Print und Online veröffentlicht und dafür 3,2 Millionen Euro bezahlt. Für eine Veröffentlichtung gibt's im Schnitt also rund 150 Euro, nicht wenige Profis verdienen mit einem Bild weniger. Der Leser-Reporter ist eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte für beide Seiten.

Für besonders wertvolle Leserbeiträge hat die Bild neulich erst goldene Handys (iPhone, 699 Euro) ausgelobt. Die Themenauswahl der Siegerbilder ist so, wie man das vom Boulevard erwartet. Die Bandbreite reicht vom Elch im Flur über einen mißglückten Feueranschlag bis hin zum Unfall-Selfie an der Tankstelle. Das Unfallselfie hat eine junge Frau (Sarah K., blond, 29) beigesteuert. Sie war Zeugin, wie hinter ihr ein Auto mit Schmackes durch eine Schaufensterscheibe krachte. Als gewiefte Leserreporterin hat sie auf den Crash medienkompentent mit einem Spontan-Selfie reagiert. Ohne vorher nach dem Unfallfahrer zu gucken, so liest sich jedenfalls die Bildunterschrift.

Ein Kommentar von Sascha Steinhoff

Sascha Steinhoff ist Redakteur bei c't Digitale Fotografie und schreibt seit 2008 regelmäßig über techniklastige Fotothemen. Privat ist er seit analogen Zeiten bekennender Nikon-Fanboy, beruflich ist er da flexibler. Als Softwarespezialist kümmert er sich insbesondere um die Themen Raw-Konvertierung, Bildbearbeitung und Bildarchivierung.

Die Botschaft an die Leser-Reporter ist eindeutig: Filmen oder Fotos zu machen ist wichtig, das Unfallopfer ist nicht wichtig. Die Auswirkungen dieser erfolgreichen Kampagnen kann man nun an beinahe jedem Unfallort bestaunen. Einfach nur Gaffen ist inzwischen völlig out, der moderne Gaffer reckt dabei sendungsbewußt sein Smartphone Richtung Unfallort. Dass Rettungskräfte, Polizei und Sanitäter ihre schwierige Tätigkeit vor einer Wand von Smartphones verrichten ist heute der bedauerliche Normalfall. Der Weg durch eine Traube hartnäckig filmender Gaffer verzögert zunehmend Rettungseinsätze in denen Sekunden zwischen Leben und Tod entscheiden können. Dass es für die Verunfallten möglicherweise auch eher unangehm ist in ihrer Lage gefilmt zu werden, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Und welcher ungeschulte Ersthelfer traut sich angesichts der unerbittlichen Beobachung überhaupt noch, lebensrettende Sofortmaßnahmen einzuleiten?

Diese Leser-Reporter sind kein Zeichen für den Fortschritt, sondern ein Indikator für eine bedauerliche gesellschaftliche Fehlentwicklung. Die Fototechnik hat sich in den letzten Jahren bei den Smartphones rasant weiterentwickelt. Das Sozialverhalten vieler Smartphone-Besitzer hat sich leider mindestens ebenso rasant zurückentwickelt. (sts)