Menschenrechtskommissar: "Wir haben die Lektion von Snowden schnell wieder vergessen"

Der Menschenrechtskommissar des Europarats hat einen Bericht veröffentlicht, in dem er die Geheimdienstkontrolle in den Mitgliedsstaaten als lückenhaft beschreibt. Im Interview mit c't kritisiert er Europas Umgang mit den Überwachern.

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Von
  • Monika Ermert

Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit Geheimdienstinformationen auszutauschen, Europas Regierungen sind an die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Verfassungen gebunden, sagt Nils Muižnieks, Menschenrechtskommissar des Europarates. Aktuell aber klaffen Lücken in der Aufsicht der Dienste in praktisch allen 47 Mitgliedsländern, warnt Muižnieks in einem aktuellen Papier und drängt massiv auf eine Reform in allen Mitgliedsländern. Im Gespräch mit c't führt er das aus.

c't: Herr Muižnieks, in ihrem aktuellen Papier schreiben Sie, es sei höchste Zeit, eine wirklich effektive Aufsicht über die Geheimdienste zu etablieren. Wie schlimm ist die Situation?

Nils Muižnieks, der Menschenrechtskommissar des Europarates

Nils Muižnieks: Die Aufsicht ist in praktisch allen 47 Mitgliedsländern lückenhaft und muss gestärkt werden. Das haben uns in den letzten Jahren mindestens zwei Episoden klar vor Augen geführt: Zum einen die Beteiligung von mehr als 25 Mitgliedsländern an rechtswidrigen Auslieferungen von Terrorverdächtigen an den US-Geheimdienst CIA. Wo waren da die Kontrolleure? Zum anderen durch die Enthüllungen zur Massenüberwachung von Edward Snowden. Die haben noch einmal gezeigt, dass die Aufsicht nicht funktioniert. Ich habe deswegen begonnen, die Kontrolle der Geheimdienste zum Gegenstand meiner Ländervisiten zu machen. Bislang habe ich bei Besuchen in den Niederlanden, Norwegen, Serbien und Deutschland mit Geheimdienstkontrolleuren und Vertretern der Dienste gesprochen. In Zukunft wird der Themenkomplex ein fester Bestandteil all meiner Ländervisiten werden.

c't: In ihrem Papier erklären Sie auch, dass es ein Mythos sei, dass man sich mehr Sicherheit durch eine gewisse Preisgabe von Grundrechten erkaufen könne. Wie sind wir auf diesen Mythos verfallen?

Nils Muižnieks: Zum einen verfolgen Geheimdienste ein eigenes Interesse als Organisation in dem Sinn, dass sie mehr Gelder, ein größeres Budget erhalten wollen. Zum anderen geraten Politiker immer wieder unter Druck von Seiten der Öffentlichkeit, ganz schnell etwas zu tun, um die Sicherheit zu verbessern oder vermeintlich zu verbessern, ohne die Konsequenzen zu bedenken.

NSA-Skandal

Die NSA, der britische GCHQ und andere westliche Geheimdienste greifen in großem Umfang internationale Kommunikation ab, spionieren Unternehmen sowie staatliche Stellen aus und verpflichten Dienstleister im Geheimen zur Kooperation. Einzelheiten dazu hat Edward Snowden enthüllt.

Ich war überrascht, wie sich die öffentliche Meinung nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo gedreht hat. Erst gab es eine breite Debatte über die Gefahren der Massenüberwachung für Vertraulichkeit und Privatsphäre. Nach dem Anschlag kam der Wind sofort aus der anderen Richtung. Sofort war die Tür offen für wirklich schlechte Gesetze. Wir haben die Lektion von Edward Snowden sehr schnell vergessen.

c't: Ist es die ängstliche Öffentlichkeit der Treiber oder sind es Politiker, die mit den Ängsten der Öffentlichkeit spielen?

Nils Muižnieks: Es ist eine Kombination von beiden. Es gibt durchaus legitime Ängste darüber, dass plötzlich Waffen enormer Durchschlagskraft gegen die Polizei gerichtet werden und dass jüdische Einrichtungen angegriffen werden.

c't: Sie spielen mit ihrer Kritik nicht zuletzt auf das vorgelegte französische Gesetz an, das sie an verschiedener Stelle kritisch kommentiert haben. Was ist das Hauptproblem daran?

Nils Muižnieks: Das Hauptproblem ist der geplante Verzicht auf eine Kontrolle durch die Gerichte und der Übergang von einer gezielten Überwachung zu einer Massenüberwachung. Das ist in hohem Maße problematisch.

c't: Bei der Ankündigung ihres Berichts schreiben Sie sogar, dass die fortgesetzte Missachtung der Grundwerte durch unkontrollierte Geheimdienstarbeit Verachtung für das Rechtssystem als solches erzeugt und letztlich undemokratische Bewegungen nährt. Wo sehen Sie das?

Nils Muižnieks: Wenn wir Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mit Füßen treten, bedienen wir letztlich die Ideologien von Extremisten. Die Auslieferungen und die Folter von Gefangenen, etwa wenn man liest, wie jemand wieder durch Waterboarding gefoltert und dauerhaft ohne Anklage festgehalten wird: Das bedient Vorwürfe des ethnischen Profiling, das sich gegen Moslems richtet oder gegen muslimische aussehende Menschen. Das ist ein Nährboden für den Extremismus.

Ein anderer Aspekt ist, dass die Massenüberwachung uns am Ende unsicherer macht. Der von Pieter Omtzigt vorbereitete Bericht der Parlamentarischen Versammlung liefert starke Argumente dafür, dass die massenhafte Überwachung Mittel abzweigt, die für die Aufklärung terroristischer Gefahren benötigt werden.

c't: Sie sind mehrfach auf die rechtswidrigen Auslieferungen von Gefangenen an die US-Behörden zu sprechen gekommen, wurde dafür denn schon jemand zur Verantwortung gezogen in Europa?

Nils Muižnieks: Es sind immerhin drei Fälle anhängig beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, einer gegen Mazedonien und zwei gegen Polen. Außerdem werden wir noch mehr Verfahren sehen. Ich bin sehr dafür, dass Regierungen die Verletzung der Grundrechte und die Versäumnisse in Bezug auf ihre Rechenschaftspflichten auf nationaler Ebene klären. Das gilt auch für die Massenüberwachung. Ich hoffe, dass die jüngsten Enthüllungen die Debatten über die demokratische Aufsicht der Geheimdienste befördern. Die Debatte in Deutschland, besonders die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Geheimdienstaffäre ist für mich ein ermutigendes Zeichen.

Das gibt es in vielen Ländern nicht.

c't: Was sind die Hauptempfehlungen zur Verbesserung der Aufsicht in Ihrem aktuellen Bericht? Massive Eingriffsrechte für die Parlamente, reicht das schon aus?

Nils Muižnieks: Ich habe darüber mit Vertretern der Dienste und der Aufsicht in Deutschland gesprochen. Beim NSA-Untersuchungsausschuss habe ich gefragt: Woher wisst ihr, dass ihr alles, was ihr sehen müsstet, auch wirklich zu sehen bekommt. Und die Antwort war, dass die Ausschussmitglieder das nicht wissen und dass sie daher gerne Inspektionen direkt beim BND machen würden. In Norwegen oder auch in den Niederlanden gibt es das bereits.

Das Norwegische EOS-Utvalget Komitee und CTIVD in den Niederlanden können die Dienste zu einer Prüfung aufsuchen und sich vor Ort Datenbanken und Dokumente anschauen. Das ist ein mächtiges Instrument, aber alleine reicht es auch nicht. Die Aufsicht durch die Gerichte, die vorab Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit Überwachungsaktionen prüfen, sind wichtig.

c't: Das gilt für gezielte Überwachung, oder meinen Sie auch Programme zur massenhaften Überwachung?

Nils Muižnieks: Massenüberwachung sollte es grundsätzlich gar nicht geben. Sie birgt zu viele Risiken, wie ich das für den französischen Gesetzesvorschlag öffentlich dargestellt habe. Es ist aber heute klar, dass wir Massenüberwachung durch viele nationale Dienste in Europa und durch Dienste aus anderen Ländern, etwa die NSA, haben.

Behindert wird die Kontrolle, auch eine mit starken Rechten ausgestattete, durch die rasche Entwicklung der Technik – das wurde mir auch in Deutschland gesagt. Es ist sehr schwer für die mit der Aufsicht betrauten Gremien, auf dem Stand der Technik zu bleiben, um die Maßnahmen beurteilen zu können. Ich habe daher gesagt, wenn Geheimdienste ihre Budgets erhöhen, ist das in Ordnung. Aber das Budget der Aufsicht sollte immer parallel mit erhöht werden.

c't: Ein anderer Vorschlag in ihrem Papier lautet, dass jede einzelne Phase der geheimdienstlichen Arbeit einer unabhängigen Aufsicht unterworfen sein muss. Wie könnte das aussehen?

Nils Muižnieks: Ein geht darum, den Missbrauch der geheimdienstlichen Mittel von vorn herein zu verhindern.

Maßnahmen müssen vorab durch Gerichte autorisiert werden. Durch Inspektionen wird verhindert, dass Missbrauch sich dem Radar der Kontrolle einfach entzieht. Es gibt interessante Kontrollmechanismen in einzelnen Ländern, etwa Freiheitsinformationsgesetze, die der Zivilgesellschaft und den Medien erlauben, den Geheimdiensten effektiv auf die Finger zu schauen. In Polen haben Bürgerrechtsorganisationen gute Arbeit geleistet. In Serbien kann ein Ombudsmann Inspektionen machen und alle Daten prüfen, ähnlich wie Datenschutzbeauftragte bei Telecom-Unternehmen. Der Untersuchungsausschuss in Deutschland, wie gesagt, könnte beispielgebend sein. Ein Problem bleibt dabei allerdings der Bereich der Zusammenarbeit mit anderen Diensten, etwa der NSA.

c't: Zeigt der Streit um die Selektoren in Deutschland nicht die Beschränkung der Arbeit des Untersuchungsausschusses? Die Bundesregierung verweist ja auf die aus ihrer Sicht notwendige Zustimmung aus den USA bevor sie die Selektoren vorlegen will.

Nils Muižnieks: In vielen Fällen gibt es diese internationale Zusammenarbeit und private Übereinkommen, manchmal sogar einfach mündliche Absprachen, über Informationen und deren Quellen Stillschweigen zu bewahren. Viele Regierungen machen das und wenn sie alles preisgeben würden, so ihr Bedenken, wäre das das Ende der Zusammenarbeit. Aber europäische Regierungen bleiben gebunden an die Europäische Konvention für Menschenrechte.

c't: Ihr aktueller Bericht ist bei weitem nicht der erste, vorangegangen sind etwa Berichte der Vereinten Nationen und der Venedig-Kommission des Europarates. Was macht Sie glauben, dass ihre aktuellen Empfehlungen nicht wohlwollend aufgenommen, aber ohne Folgen bleiben werden?

Nils Muižnieks: Ich hoffe, dass die Enthüllungen von Edward Snowden dazu führen werden, dass die heute geführte Debatte in echte Reformschritte bei der Aufsicht münden wird. (mho)