Pixel statt Fleisch: War ja klar, wofür Virtual Reality benutzt wird

Ursprünglich sollte die von Oculus und Co vorangetriebene Virtual-Reality-Technik sollte die Spielewelt revolutionieren. Doch erstmal beflügelt die Fantasie-Erfüllungsmaschine die Pornowelt. Ein Feldversuch.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Jan-Keno Janssen
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Manga-Porno: Fühlt sich echt an, sind aber nur Pixel.

Was waren wir alle naiv zu Beginn der Virtual-Reality-Welle vor zwei Jahren. Wirklich alle, auch Oculus VR, die Begründer des Hypes, glaubten fest daran: Natürlich werden es die Gamer sein, die VR zum Durchbruch verhelfen. Egoshooter, Simulationen – alles total toll mit Mittendrin-Gefühl.

Pustekuchen. Lange hat es nicht gedauert, bis auch den glühendsten VR-Verfechtern dämmerte, dass die gängigen Spielkonzepte nicht in der virtuellen Realität funktionieren, zumindest nicht mit aktuellen Eingabegeräten. Einen klassischen Egoshooter mit WASD-Steuerung wie Team Fortress 2 (einer der ersten Titel mit Oculus-Unterstützung) können nur die wenigsten Menschen mit VR-Brille für mehr als ein paar Minuten spielen – danach wird ihnen speiübel. Wenn der Gleichgewichtssinn meldet "Ich sitze gerade am Schreibtisch", die anderen Sinne aber davon überzeugt sind, mit einem Maschinengewehr durch eine Festung zu rennen, kommt nach dem Chaos im Gehirn das Tohuwabohu im Magen. Egal, wie gut die Technik ist.

Die VR-Entwicklergemeinde hat das ziemlich schnell begriffen – und damit begonnen, statt klassischer Spiele eine komplett neue Form der elektronischen Unterhaltung zu bauen: sogenannte Experiences, die man nicht aktiv "spielt", sondern einfach nur "erlebt". Zu den populärsten dieser wirklich faszinierenden, Erlebnisse gehören neben etlichen virtuellen Achterbahnen Titel wie Titans of Space (durchs Weltall schweben und mit offenem Mund Planeten begucken) und Sightline – the Chair (virtueller LSD-Trip). Künftig wird es aber auch "echte" Spiele geben, die von VR profitieren; das unglaublich immersive Elite Dangerous gibt einen Vorgeschmack darauf, was uns erwartet.

Was schon jetzt gut funktioniert ist das, wofür Fantasieerfüllungsmaschinen geradezu prädestiniert sind: Porno. In den dunklen Ecken des Internets findet man inzwischen etliche Programme, in denen man computergenerierte Figuren begatten kann – meist handelt es sich um unangenehm jung aussehende Manga-Zeichentrickmädchen, es gibt aber auch Titel mit aus dem Programmcode gerippten Computerspielfiguren wie Elizabeth aus BioShock Infinite.

Virtual Real Porn: Umgekehrter Phantomschmerz.

(Bild: Virtual Real Porn)

Technisch sind die meisten dieser Homebrew-Titel extrem krude umgesetzt: Irgendwo liegen, stehen oder sitzen sexuell empfangsbereit drapierte 3D-Figuren herum, die sich genretypisch bewegen. Besonders seltsam ist in dieser Hinsicht das Programm Sex Room: In einem kleinen Zimmer befinden sich vier Anime-Figuren in unterschiedlichen Positionen, die unentwegt Koitus-Bewegungen vollziehen – egal, ob man sich ihnen nähert oder nicht. Geht man zu dicht dran, gibt's die aus vielen 3D-Spielen berüchtigten Clipping-Fehler und man sieht die hohlen Polygonfiguren von innen – eher Horror als Erotik. Während die meisten dieser Sexsimulatoren im Underground gedeihen, gibt es auch erste kommerzielle Animationsgrafik-Sexsimulatoren mit Oculus-Rift-Unterstützung wie Playgirls von der japanischen Firma Illusions oder der Bahnhofsviertel-Second Life-Klon Red Light Center des kanadischen Unternehmens Utherverse Digital.

Angefangen hat das Ausleben erotischer Fantasien in der Virtual Reality deutlich verspielter und harmloser: Geradezu drollig wirkt zum Beispiel der Titel Sleeping on Unity-Chan's Lap des japanischen Entwicklers Up-frontier: Auf einer Parkbank sitzt eine vollständig bekleidete Anime-Figur (die namensgebende Unity-Chan), auf deren Schoß man sich legen kann – das war's. Leicht irritierend: Im PR-Video zum Titel demonstrieren die Macher ihr Programm zusammen mit einer aus Polyester und Füllwatte angefertigten Nachbildung eines Frauenschoßes; inklusive Oberschenkelstümpfen.

Der ebenfalls japanische Titel Dogelus 2 ist genauso wenig pornografisch, tendiert aber deutlich mehr in Richtung Fetisch. Setzt man die VR-Brille auf, findet man sich in einer hübschen Comicwelt wieder. Dreht man seinen Kopf ein wenig, sieht man irgendwann eine weibliche Anime-Figur auf sich zukommen – die allerdings ungefähr so groß ist wie ein Hochhaus. Das große Finale: Die riesenhafte Dame hebt ihren Fuß und tritt auf den Betrachter.

Wie intensiv sich die Interaktion mit künstlichen Figuren in der virtuellen Realität anfühlen kann, zeigt ein noch harmloserer Titel: In Mikulus DK2 steht ein der Pop-Manga-Figur Hatsune Miku nachempfundener Cyborg-Halbmensch einfach nur in einem komplett schwarzen Raum. Mit dem Gamepad kann man sich der Figur nähern – und obwohl es sich ganz klar um ein künstliches, am Computer gestaltetes Wesen handelt, spürt man ein Unwohlsein, wenn man zu dicht herangeht: Einem echten, fremden Menschen würde man schließlich nie so nahe auf die Pelle rücken. Und so hält man instinktiv Sicherheitsabstand. Offenbar ist die Illusion so gut, dass das Gehirn die persönliche Komfortzone auch in der virtuellen Welt aufrechterhalten will.

Sleeping on UNITY-CHAN's Lap: Künstlicher Frauenschoß inklusive Oberschenkelstümpfe.

(Bild: Up-Frontier)

Klar, dass es nicht lange gedauert hat, bis Virtual Reality auch in der klassischen Videofilm-Pornobranche angekommen ist – schließlich ist Animationsgrafik-Sex außerhalb von Japan eher ein Nischenthema. Marktführer auf dem Gebiet des VR-Realfilm-Pornos – und vermutlich eines der ganz wenigen Unternehmen, das mit reinen VR-Inhalten bereits Geld verdient – ist die spanische Produktionsfirma VirtualRealPorn. Im Herbst 2013 von Software-Entwicklern und Fotografen gegründet, verkauft die Firma aus weiblicher und männlicher Ich-Perspektive gefilmte räumliche 180-Grad-Hardcore-Videos. Die Inhalte sind nicht nur für die VR-Brillen von Oculus aufbereitet, sondern auch für Samsungs Gear-VR-Headset und für die Schmalspur-Smartphone-VR-Technik Google Cardboard.

Die technisch sehr gut gemachten VirtualRealPorn-Videos erzeugen ein seltsam authentisches Mittendrin-Gefühl: Senkt man den Kopf, sieht man seinen "eigenen" Pornodarstellerkörper – irritierend sind dabei nicht nur die vielen Tätowierungen, sondern auch, dass man je nach ausgewähltem Video ein anders Geschlecht besitzt. All das wirkt wahnsinnig echt, aber dann auch wieder nicht – umgekehrter Phantomschmerz sozusagen. Während man beim Phantomschmerz Körperteile fühlt, die man nicht sieht; sieht man beim VR-Porno Körperteile, die man nicht fühlt.

Die anfangs beschriebene physische Komfortzone wird auch in VirtualRealPorn-Filmen unangenehm übertreten. Spätestens wenn einem die Protagonistin Zentimeter vom eigenen Gesicht entfernt ungefragt Dirty-Talk-Plaudereien ins Ohr flüstert, will man sich instinktiv die Brille vom Gesicht reißen – ein Effekt, den ich in Feldversuchen mit diversen Testpersonen mehrfach nachweisen konnte.

Während VR-Porno langsam auf dem Radar der Mainstream-Medien auftaucht, bekommt man immer wieder die alte Binsenweisheit von den neuen Techniken zu hören, die erst durch die Pornobranche erfolgreich gemacht werden: zum Beispiel VHS, CD-ROM und Streaming-Video. Ob das auch für Virtual Reality gilt, muss sich noch zeigen. Sicher werden sich viele Menschen eine VR-Brille mit Aussicht auf lebensechte Pornografie gekauft haben. Aber ob sie damit glücklich werden, ist eine andere Sache.

Ebenso wie man klassische Spielkonzepte nicht in die Virtual Reality übertragen kann, funktioniert nämlich auch die VR-Pornorezeption anders als die konventionelle. Bei der Betrachtung von sexuellen Inhalten auf Papier, Fernseher oder Computerbildschirm nimmt man eine komplett passive Position ein: Was man sieht, ist in keiner Weise mit dem Hier und Jetzt verbunden. Ganz anders bei VR: Hier schaut man nicht von außen, sondern von innen – man ist Teil der Szenerie.

Wenn ein Pornodarsteller in die Kamera schaut, fühlt man sich bei konventionellen Medien womöglich irgendwie gemeint, weiß aber auch ganz genau, dass sich zwischen mir und dem Darsteller eine unüberbrückbare Barriere befindet. Schaut mir dagegen in der VR jemand in die Augen, melden die Synapsen: "Das ist hier gerade Realität."

Diese extreme Intensitäts- und Immersionssteigerung verändert den Modus des Pornokonsums total – und geht deutlich mehr in Richtung "echter Sex inklusive emotionaler Anstrengung" als stumpfes "Sex angucken". Bessere VR-Technik wird diesen Kontrast noch steigern; die Peripheriebranche arbeitet obendrein längst an mit VR-Inhalten synchronisierten Körperextremitäten und -öffnungen – "Teledildonics" heißt der hübsche Fachausdruck dafür.

Die Büchse der VR-Porno-Pandora wird sich nicht mehr schließen lassen, weshalb es wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Feuilletonisten die Post-Sex-Ära ausrufen – und die Moralhüter den Cybersex geißeln und die Unlust an der Fortpflanzung bejammern. Vermutlich wird es mit fortschreitender Qualität der VR-Technik tatsächlich ein paar Menschen geben, die Pixel dem Fleisch vorziehen. An der tief verankerten Sehnsucht nach menschlicher Nähe ändert das aber nichts. Die virtuelle Realität ist ein aufregendes Ausflugsziel; ein Ort zum Leben wird sie hingegen niemals sein.

Dieser Artikel erscheint auch im Gameskultur-Bookazine WASD, dessen siebte Ausgabe sich mit dem Thema "Liebe & Hass" beschäftigt. Erhältlich ist WASD online und beim gutsortierten Zeitschriftenhändler. (jkj)