Die andere Seite

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus im Zeitalter forcierter Profitinteressen bestehen kann, ist wichtig – die Frage nach den Menschen, die diese Art von Information wollen, geht dabei gern unter.

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Von
  • Peter Glaser

In einem Interview in der Süddeutschen Zeitung beklagt der Gründer und ehemalige Chefredakteur des Online-Magazins Salon.com, David Talbot, die Geistesmülllawinen im Netz. Mehr denn je sei Qualitätsjournalismus gefragt – "im Web 2.0 werden wir ja täglich mit Blogs und Gelaber [man beachte den Unterschied; d.A.] überflutet – was wir deshalb brauchen, sind sauber recherchierte, glaubwürdige Informationen. (...) Blogger haben die Medienwelt mit neuer demokratischer Energie bereichert, aber Blogs schreien nach professioneller redaktioneller Aufbereitung."

Hier spricht ein Mann, der seine Profession in ernster Gefahr sieht, und das nicht ganz zu unrecht. Aber Talbot, wie viele andere Fürsprecher des Qualitätsjournalismus, will nur die Hälfte sehen. Die Ritter der zweifachen Quelle im heldenhaften Kampf gegen die Fürsten der Medienfinsternis. Auf der anderen Seite der Qualitätsnachricht sitzt der Leser, der Zuschauer – ein gefährdetes, manipulierbares, subinformiertes Wesen und wartet wie Dornröschen auf den Erweckungskuss durch die wahrhaftige Nachricht. Was die Profis immer noch gern übersehen, ist, dass es sich dabei inzwischen um einen bedeutenden Mitspieler und potentiell mächtigen Mitkämpfer handelt. Da aus den vormaligen Massenmedien inzwischen Medienmassen geworden sind, die sich zunehmend ausdifferenzieren, tritt auch das Individuum immer eigener und deutlicher aus der Düsternis der Tortenkeilfarben von Zielgruppenstatistiken hervor: der Souverän. Der potentielle Souverän jedenfalls.

Die Überflutung mit Sinnhaftigkeiten ist auch nichts Neues. Als in den achtziger Jahren das Usenet immer umfassendere Dimensionen annahm und die Zahl der verzweigten Newsgroups in die Zehntausende ging, waren neben der sozialen Vision ("Die Vielen sprechen erstmals zu den Vielen – ohne Zwischeninstanz") auch immer Klagen und Kritik an den ungefilterten Informationsmassen und dem zunehmenden Weissen Rauschen laut geworden. Gern übersehen wird, dass schon damals hervorragende und gut abgestufte Mittel entwickelt worden waren, der unterschiedlichen Probleme Herr zu werden, die komplett ungefilterte und unbetreute Inhalte nach sich ziehen: Moderatoren kümmerten sich um Gruppen und Themen, an denen ihnen gelegen war, und der Gastlichkeit für Neulinge als auch der Vermeidung unnötiger Redundanz kam die wunderbare neue Agglomerationsmethode der FAQs entgegen. Ein Blog mit Kommentarfeldern funktioniert auch nicht viel anders als eine Newsgroup.

Und auch, dass der Qualitätsjournalismus unter erheblichem und forciertem Druck wirtschaftlicherseits steht, ist nichts wirklich Neues. Heute delirieren sich Hedgefonds-Manager in zweistellige Renditeerwartungen; in den neunziger Jahren verlief die Front entlang der vormals klassischen Aufteilung von Botschaften – Journalismus war immer für die schlechten Nachrichten aus der Realität zuständig gewesen, die Werbung für die guten Nachrichten aus den Paradiesen des Konsums. Nach und nach kamen Unternehmen auf die Idee, ihre eigenen Medien zu betreiben, anstatt sich für teures Geld Anzeigenplatz zu kaufen und dafür zwei Seiten weiter undankbar kritisiert zu werden. Corporate Media heißt auch, den Kontext vollständig unter die Kontrolle des Verkaufsinteresses zu bekommen – Pannen wie das schleimspeiende Mädchen anlässlich einer TV-Ausstrahlung von "Der Exorzist", dem im anschließenden Werbeblock ein Spot für Fertigsuppen folgte, sind dadurch auszuschließen. Ob das Internet eher Medium oder doch Corporate Medium ist, ist noch nicht ganz raus.

1994, als das Netz gerade erst ein paar Monate durch die Öffentlichkeit geisterte, beklagte das US-Fachblatt Advertising Age in einem Editorial den Einfluß, den Werbetreibende auf Redakteure erlangt haben. Einer Untersuchung von 150 amerikanischen Tageszeitungen zufolge berichteten schon damals 89 Prozent der Redakteure davon, dass Werbekunden Anzeigen zurückgezogen oder versucht hätten, die Berichterstattung zu beeinflussen. 37 Prozent sagten, die Werbekunden hätten obsiegt. "Der einzige Verlierer", schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Eugene Secunda, "wird die Bevölkerung sein, ihrer freien und unabhängigen Medien beraubt, die sie seit 300 Jahren als ihr Grundrecht vorausgesetzt hat".

Zwischen all den Heuschreckenschwärmen, Google-Ergebnislawinen und Blog-Tsunamis sollten die Hüter der Qualität – möge ihr Haus nicht über ihnen einstürzen und sie gelegentlich auf Pfirsichblüten gebettet sein! – die Macht der schattigen Figuren auf der anderen Seite weder unterschätzen noch vergessen. Die Zukunft der Demokratie, und dazu gehört untrennbar guter Journalismus, entscheidet sich an einem singulären Anliegen: an der Stärkung der Souveränität des Einzelnen. Die eigentliche Macht der Vernetzung liegt in der neuen informatischen Kraft, die sie jedem von uns an die Hand gibt.

Die Journalisten und alle anverwandten Qualitäter brauchen nichts von ihrem Expertentum aufzugeben. Aber sie müssen mehr und wesentlich offensiver ihre Ansprüche mit den Nutzern und Neuformierern ihrer Arbeit teilen. Es wird weiterhin erstklassige Reporter, Berichterstatter und Autoren geben, die uns mit klaren Blicken auf die Welt versorgen. Aber die Zeit, in der Journalismus von einer begrenzten Berufsgruppe ausgeübt wurde, geht zu Ende. In der Internet-Ära sind wir alle dazu verdammt, Journalisten zu sein. (wst)