Wie man sich plötzlich alt fühlt

Neulich bat mich mein Neffe, ihm doch bitte keine E-Mails mehr zu schicken. Als ich ihn fragte, warum er das denn wolle, antwortete er mir, das sei ja sooo altmodisch.

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Ich muss zugeben, dass ich mir bei meinem ersten Gang ins Web – das muss so 1993 oder 1994 gewesen sein – nicht hätte träumen lassen, wie viele Menschen dieses damals so neuartige Netzding in nicht einmal einem weiteren Jahrzehnt nutzen würden. Heute gibt es eigentlich niemanden in meinem Umfeld mehr, der nicht online wäre – selbst meine Eltern, die rapide auf die Siebzig zugehen und lange Jahre meine Leidenschaft für Computer nie so recht verstanden, fragen mich inzwischen, wie sie ihren DSL-Anschluss am besten optimieren und wie sie ihren Virenscanner stets auf dem neuesten Stand halten.

Mit der Aufnahme weiter Bevölkerungsteile ins Internet wiederholen sich dort auch Phänomene, die man bislang nur aus der Offline-Welt kannte. Jeder sucht sich seine Nische, seine Szene, jeder nutzt das gigantische Angebot anders und auf seine ganz spezielle Art und Weise. Gruppen und Gemeinschaften bilden sich. Neu war mir allerdings, dass es im Web inzwischen auch einen echten Generationenkonflikt gibt, ein Unverständnis zwischen den so genannten "Olds" und im Web aufgewachsenen Kids. Gelernt habe ich das neulich im Umgang mit einem meiner Neffen.

Ich gehöre zu denjenigen Menschen, die sich rühmen, im Netz ordentlich erreichbar zu sein und stets auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ich frage laufend meine Mails ab und lese alle neuen Nachrichten aus meinen Berichtsgebieten per RSS-Feedreader. IM, VoIP und Skype sind mir vertraut und auch Twitter und andere neumodischen Web 2.0-Phänomene mache ich hier und da mit. Dass das nicht ausreicht, zeigte mir besagter Neffe: Er bat mich, doch bitte damit aufzuhören, ihn per E-Mail zu kontaktieren.

"E-Mail ist so von gestern, benutze doch lieber eine Direktnachricht in XYZ" (hier beliebiges, aktuell hippes Social Network einsetzen), meinte er mit der Frechheit seiner Jugend in der Stimme. Elektronische Post frage er hingegen eigentlich fast nie mehr ab. "Die liegt da nur so rum."

Auf meine Argumentation, solcherlei Direktnachrichten seien doch im Grunde nur eine Primitivform von E-Mail (ohne Filter, Ordner oder funktionierende Spamfallen), wollte er sich leider nicht einlassen. Über XYZ sei er eben am leichtesten und schnellsten zu erreichen, da gebe es nichts zu deuteln. Dass Social Networks schreckliche Datenschutzprobleme mit sich bringen können, wollte er natürlich auch nicht verstehen.

Ich kam mir nach der Diskussion verdammt alt vor. Dabei folge ich, wie bereits erwähnt, doch eigentlich allen heißen neuen Dingen im Netz, dachte ich. Vermutlich muss ich bei Gelegenheit auf Drängen meines Neffens auch noch lernen, wie Videokommentare funktionieren. Das ist ein Trend, bei dem Beiträge in Weblogs nicht etwa textlich, sondern mit kurzen Statements in die Webcam bedacht werden. Das dauert zwar alles drei Mal so lange, bis man das alles betrachtet und herausbekommen hat, was der Kommentator wirklich möchte. Aber dafür ist es halt multimedial und schön bunt.

Irgendwie schafft sich das Internet so auch immer wieder neue Probleme, die es dann selbst wieder lösen kann: Videosuchmaschinen, die Sprache in Videos in Textform umsetzen, Bilderkennungssysteme, die Gebäude oder Gesichter automatisch Personen zuordnen, damit man sie nicht von Hand "taggen" muss, was ja so wichtig ist. Kürzlich unterhielt ich mich mit einem erfahrenen Spieleentwickler über aktuelle 3D-Welten. Er meinte, er hätte da vor 30 Jahren schon besseres gesehen. "Die Sache nannte sich MUD und regte die Fantasie viel mehr an als heute." MUDs hatten Textform. Wie E-Mail! (wst)