Das Ende der Saison

Frühling und Herbst beginnen offenbar immer früher. Meteorologen der University of California in Berkeley berichten in "Nature", dass sich der komplette Jahresrhythmus in den vergangenen fünfzig Jahren um 1,7 Tage nach vorn verschoben habe.

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Von
  • Peter Glaser

Frühling und Herbst beginnen offenbar immer früher. Meteorologen der University of California in Berkeley berichten in "Nature", dass sich der komplette Jahresrhythmus in den vergangenen fünfzig Jahren um 1,7 Tage nach vorn verschoben habe. Zudem seien die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter immer kleiner geworden. Diese Verschiebungen, die sich nicht durch natürliche Schwankungen erklären lässt, schreiben die Forscher dem Klimawandel zu.

Das scheinbar unerschütterliche Ordnungsgefüge der Jahreszeiten und daran angelehnt das Kulturzeitmaß der Saison geraten zunehmend in Bewegung. Waren Kirschen und Erdbeeren im Januar noch vor ein paar Jahren exotische und teure Luxusphänomene, sind frisches Obst und Gemüse, das unabhängig von den Erntezeiten vor Ort jederzeit angeboten wird, fast schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Zunehmend globalisierte Marketing- und Logistik-Maschinerien geben uns das Gefühl, dass sich die Strukturen auflösen, die den Jahreslauf in deutlich voneinander unterscheidbare Phasen aufteilen. Worüber man früher gescherzt hat, wird langsam Realität: Inzwischen kann man gelegentlich bereits Ende August die ersten Weihnachtsartikel in den Supermärkten sehen. Die Konvergenz des Osterhasen mit dem Weihnachtsmann hat ihr Inbild bereits in dem unausrottbaren Gerücht gefunden, es gebe eine einheitliche Gußform für Schokohasen und Schokoweihnachtsmänner (Osterhasenohren = Weihnachtsmannmütze), und nur das bedruckte Silberpapier würde jeweils ausgetauscht.

Die Beschleunigung, deren stärkster Motor inzwischen die Digitalisierung und das weltweit und rund um die Uhr geöffnete Netz geworden ist, führt auch zu kulturellem und wirtschaftlichem Klimawandel. War etwa die Buchproduktion herkömmlich in eine Frühjahrs- und eine Herbstsaison geteilt, in deren Mitte sich ruhig und entspannend ein Sommerloch suhlte, haben die Verlage inzwischen ihre Auslieferungstaktik umgestellt. Bücher, wichtige Bücher, erscheinen nun ständig. Harry Potter wartet nicht auf die Präsentation des Herbstprogramms, denn er weiß, was Magie ist: Alles mit einem Fingerschnipsen sofort haben zu können.

Auch die Mode beschleunigt immer mehr, Hightech-Moden, Management-Moden und natürlich auch die Mode im klassischen Sinn - Dinge wie Frühjahrs- und Herbst-Kollektion sind für die mächtigen Schneider und Konfektionäre nur noch begriffliche Nachklänge. Kollektionen wechseln oft schon nach ein paar Wochen. Ketten wie Benetton haben computergestützte Logistken entwickelt, die es ihnen ermöglichen, den "Trouser Cycle" auf Fastfood-Geschwindigkeit zu beschleunigen. Die spanische Zara-Gruppe beschäftigt 200 Designer, die bis zu zweimal die Woche neue Produkte in die Läden schwemmen. Immer öfter läuft man Gefahr, dass Eingekauftes bereits auf dem Weg zum Auto wieder aus der Mode gerät; darin unterscheiden sich übrigens Computer und neue Klamotten kaum.

Im Inneren eines Mikrochips treten neue Ereignisse im Abstand von Millionstel-Sekunden auf. Betrachtet man Politiker, so scheint es manchmal, dass sie ihre Meinung in noch geringeren Zeitabständen ändern können, sich also an der Spitze der Zeit zu bewegen versuchen. Auch der Wunschtraum aller Couturies und Modebegeisterten könnte bald Wirklichkeit werden: Das Problem der modischen Frequenzwechsel wird sich in dem Augenblick erübrigen, in dem man sich mit Lichtgeschwindigkeit umziehen kann. Dies werden farblich und strukturell umschaltbare Gewebe ermöglichen.

Es dauert nicht mehr lange, bis Rechnerintelligenz in Kleiderstoffe integriert werden wird. Realisierbar werden dann Hemdsärmel, die sich auf Zuruf hochrollen, auf bestimmte erotisierende Männerstimmlagen programmierte Spaghettiträger, die selbsttätig abrutschen, und vielerlei spezialisierte Klamotten, etwa Verteidigungsoberbekleidung in der Art kreissägenhaft rotierender Faltenröcke.

Wir sind atemlos von der Geschwindigkeit, in der das Neue immer schneller neu sein muß. Was nicht mehr neu ist, hat gar keine Zeit mehr, alt zu werden. Nun wird es nur noch langweilig. (wst)