Abgründe der Bionanotechnik

Der Unfall beim Test des Medikaments TGN1412 ist nicht nur eine Steilvorlage für die Konstruktion neuer B-Waffen. Er zeigt auch: Das molekulare Verständnis der komplexen Maschine "Mensch" ist ziemlich unzureichend. Aber es gibt einen Ausweg.

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Von
  • Niels Boeing

Was vergangene Woche im Londoner Northwick Park Hospital passiert ist, kann man getrost als GAU beim Testen neuer Medikamente ansehen. Sämtliche sechs reale Probanden eines Versuchs mit dem Mittel TGN1412, das eines Tages gegen Leukämie und Autoimmunkrankheiten helfen sollte, sind innerhalb einer Stunde lebensgefährlich erkrankt. Ihre körpereigenen T-Zellen reagierten so heftig auf das Präparat, dass sie multiples Organversagen auslösten. Angehörige berichten, dass die Probanden sich binnen kurzem in Ebenbilder des berühmten Elefantenmenschen verwandelten: mit grotesk angeschwollenen Köpfen und purpur verfärbten Gliedmaßen.

Der erste Gedanke vieler Zeitgenossen dürfte den dunklen Machenschaften der Pharmaindustrie gegolten haben. Nicht ganz zu Unrecht: Der Vioxx-Skandal ist noch in guter Erinnerung, und das Magazin Nature berichtet in seiner aktuellen Ausgabe, dass hässliche Daten in den Testberichten der Pharmaindustrie immer wieder unter den Teppich gekehrt werden. Das mag in diesem Fall gar nicht so gewesen sein, denn die vorklinischen Tierversuche haben für einen solchen Unfall keinerlei Anhaltspunkte gegeben.

Beunruhigend finde ich den Vorfall aus einem anderen Grund: Wir haben hier vielleicht den Proof-of-Principle einer hässlichen neuen B-Waffe erlebt, wie sie die rasant fortschreitende Bionanotechnik demnächst ermöglicht – und kaum vorhersehen kann. Denn die Möglichkeit einer „Superstimulierung“ durch T-Zellen, die offenbar zu der Katastrophe führte, wurde noch im vergangenen Jahr in einem Paper in Nature Biotechnology für unmöglich gehalten. Im Unterschied zu anderen monoklonalen Antikörpern aktivierte TGN1412 die T-Zellen offenbar ohne einen zweiten molekularen Auslöser, der sonst die Abwehrreaktion auf ein bestimmtes Gewebe beschränkt.

Die Biotechnik betrachtet den menschlichen Körper seit langem als superkomplexe molekulare Maschine. Doch trotz aller Erfolgsmeldungen, die wöchentlich durch die Nachrichtenticker rauschen, hat sie es bislang nicht zu einem detaillierten Verständnis dieser Maschine gebracht. Die Überraschung der Wissenschaftler angesichts des Vorfalls erinnert mich ein wenig an die Hilflosigkeit eines kenianischen Taxifahrers, der uns im vergangenen Jahr irgendwann in einer Geröllwüste aussteigen ließ, weil der Motor den Geist aufgegeben hatte. Als er die Motorhaube öffnete, sahen wir, dass er die Batteriekontakte mit einer Badelatsche festgeklemmt hatte. Werkzeug hatte er nicht – und Ahnung von Motoren erst recht nicht. Aber das war gottseidank nur ein Auto.

Nun ist nicht zu erwarten, dass das Maschinenparadigma des menschlichen Körpers in absehbarer Zeit fallen gelassen wird. Aber vielleicht beschleunigen solche Unfälle wie bei dem Londoner Test den Einsatz von Simulationen. Vor Jahren sagte mir der Technikphilosoph Walther Christoph Zimmerli einmal, dass er darin eine Chance der Nanotechnik sehe. Weil das Verständnis der molekularen Zusammenhänge dank neuer Werkzeuge uns immer erst von Computern übersetzt werden muss, könnte man auch die Folgen von Prozessen im Nanokosmos – und um solche handelt es sich auch bei Immunreaktionen – erst einmal simulieren. Die jüngsten Entwicklungen in der Supercomputertechnik geben uns zum ersten Mal eine realistische Chance, auch Zellprozesse zu simulieren, wie eine erste vollständige Virussimulation von Forschern der University of Illinois gerade gezeigt hat. Dann müssten nicht Versuchspersonen für 2000 Pfund ihr Leben aufs Spiel setzen – und potenzielle B-Waffen-Konstrukteure würden nicht so billig zu einer Inspiration kommen.

Nachtrag am 5.4.2006: Der New Scientist berichtet über den offiziellen Zwischenbericht der britischen Regierung zu dem Unfall. (wst)