Darfs ein bisschen weniger sein?

93.000 oder doch nur 9.000 Tote – noch immer tobt der Streit um die wahre Zahl der Tschernobyl-Opfer. Und illustriert einmal mehr: Die Atomkraft ist der Sündenfall der Technikgeschichte.

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Von
  • Matthias Urbach

Die Frau aus der Pressestelle der Hamburger Umweltbehörde war kurz angebunden: Gerade sei die Meldung über die Agenturen reingekommen, dass in der Ukraine ein Atomreaktor explodiert sei, und der Fallout auf dem Weg mit dem Wind nach West-Europa. Wir sollten den besorgten Anrufern am „Umwelttelefon" raten, sich nicht dem Regen auszusetzen. „Ansonsten müsst ihr den Leuten ja nicht gerade auf die Nase binden, dass das Krebs macht", erklärte sie uns abschließend und ging zurück in ihr Büro.

Diese Erfahrung, die ich 1986 als junger Zivildienstleistender am Hamburger „Umwelttelefon" machte, kennzeichnet noch heute treffend den Umgang mit der Atomenergie. Das so genannte Tschernobyl-Forum, zu dem unter der Federführung der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) auch die Weltgesundheitsorganisationen (WHO) und einige andere hochoffizielle Institutionen gehören, hat zum 20. Jahrestag der Katastrophe am 26. April ein Fazit der Auswirkungen der Kernschmelze gezogen. Demnach sei als Spätfolgen mit gerade mal 9.000 zusätzlichen Krebstoten zu rechnen.

Dabei beschränken IAEA und WHO ihre Untersuchung auf Weißrussland, Ukraine und Russland – wohl wissend, dass solche Feinheiten in der öffentlichen Kommunikation untergehen. Dabei regneten knapp zwei Drittel der Radioaktivität, die während des zehntägigen Brandes in Tschernobyl in die Luft geschleudert wurde, über Europa (53 Prozent) und dem Rest der Welt (11 Prozent) nieder. Und jedes einzelne radioaktive Teilchen kann Krebs auslösen. Die Häufigkeit, mit der das passiert, steigt nach herrschender Lehrmeinung eins zu eins mit der Dosis. Es ist also – anders als bei üblichen Giften – völlig egal, wie stark die Radioaktivität verteilt wird.

Die Erfahrung mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zeigen außerdem, dass das ganze Ausmaß erst viele Jahrzehnte nach der Verstrahlung überschaubar ist. So kommen zwei unabhängige britische Forscher im Auftrage der Grünen im Europarlament zu der Abschätzung, dass mit 30.000 bis 60.000 Krebstotengerechnet werden müsse. Eine Schätzung, die auch die Strahlenepidemiologin Elizabeth Cardis von der zwischenstaatlichen International Agency for Research on Cancer für „die richtige Größenordnung" hält. Greenpeace beruft sich auf Experten der Russischen Akademie der Wissenschaften, die sogar von 93.000 Toten allein für Russland, Weißrussland und die Ukraine ausgingen. Ganz abgesehen davon, dass die Zahl der Opfer um ein Vielfaches höher ist, die an Krebs leiden, aber nicht daran sterben – und Krebs nicht das einzige Problem ist.

Wie keine andere Disziplin moderner Technik schafft es die Atomkraft noch immer, die Fachwelt in verharmlosende und übertreibende Wissenschaftler zu teilen. Die deutsche Technikskepsis mag auch kulturelle Gründe in der romantischen deutschen Seele haben, doch keine Ursache ist so prägend wie die Lügen, Beschönigungen und falschen Versprechen der Atomlobby in den Sechzigern und Siebzigern. Damals geriet die gesamte etablierte Wissenschaft in Verruf. Besorgte Bürger mussten sich selber Sachverstand organisieren: Die Geburtsstunde der „kritischen Experten".

Das Risiko der Atomkraft ist abstrakt. Wahrscheinlich wird kein deutscher Meiler hochgehen. Wenn aber doch, sind gleich weite Teile unseres Landes unbewohnbar. Diese Art von Risiko – abstrakt, selten, aber verheerend – ist für uns Menschen nur schwer zu erfassen. Die katastrophale Kernschmelze von Tschernobyl hat dieses Risiko der Kernkraft fühlbar gemacht: Hier wurde zweihundert Mal so viel Radioaktivität freigesetzt, wie bei den beiden US-Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki zusammen.

Kein Wunder also, dass die der Förderung der Atomenergie verpflichtete IAEA alles daransetzt, die Folgen dieser menschengemachten Katastrophe herunterzuspielen. Nur was reitet die honorige WHO? Es ist deprimierend. (wst)