Der Google-Tempel

Die Suchmaschine als “truth predictor": Kann Software, die alle online verfügbaren Statements und dokumentierten Handlungen eines Politikers auf Widersprüche und Konsequenzen überprüft, den Ausgang von Wahlen beeinflussen?

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Auf einer Tagung der britischen Konservativen wies Google-Chef Eric Schmidt jüngst Politiker aus der “TV-Generation” darauf hin, dass das Internet in den kommenden Jahren gravierende Auswirkungen auf den politischen Prozeß haben werde und es überhaupt Zeit sei, aufzuwachen. Um zu zeigen, dass Suchmaschinen künftig beispielsweise als politische Kontrollinstrumente fungieren könnten, skizzierte Schmidt eine Art von Software-Wahrheitswünschelrute (“truth predictor”), die alle online verfügbaren Statements und dokumentierten Handlungen eines Politikers auf Widersprüche und Konsequenzen hin überprüfen und so den Ausgang von Wahlen beeinflussen könnte. In einem Interview sagte Schmidt später, sein Vortrag sei Teil einer globalen Mission, um politischen Führern die Augen zu öffnen.

Eine Anmaßung? Der Verweis des 1955 geborenen Schmidt auf Politiker, die mit dem Fernsehen aufgewachsen sind – seine eigene Generation also –, steht durchaus in einer Tradition medienbedingter gesellschaftlicher Transformationen. Den Vietnamkrieg haben die Amerikaner im Fernsehen verloren. Damals verlief eine unsichtbare Front durch die Medien. Die Eltern, mit dem Radio aufgewachsen, folgten den Erklärungen der Sprecher und blieben, wie sie es von dem sprachorientierten Medium gewohnt waren, kühl und vernunftbetont. Die Kinder sahen die Bilder, die ihre emotionalisiernde Wucht entfalteten und sie auf die Straßen trieb.

Der “truth predictor” dagegen gehört zu den Marketing-Coups, mit denen der Mythos der Orakelpriester vom mächtigen Google-Tempel gemehrt werden soll. Weshalb wir noch fünf Jahre auf eine solche Software warten sollen, weiß ich nicht. Bereits 2003 präsentierten Joachim Köhler und Jobst Löffler vom Fraunhofer-Institut für Medienkommunikation den iFinder, eine Suchmaschine, die Reden und Vorträge – Videos oder transkribierten Text – inhaltlich erschließt und unter anderem mit Gesichtserkennung verbindet.

Außerdem gibt es zu immer mehr spezifischen Medienquellen, seien es Zeitungen, Kampagnen oder Einzelpersonen (allen voran Politikern) die zugehörigen Watchblogs, die jede kleinste Äußerung des beobachteten Objekts kritisch und meist wirkungsvoll begleiten – prominentes Beispiel in Deutschland ist das BILDblog.

Auch wenn Schmidts virtueller Wahrheits-Ergoogler bereits in Betrieb wäre, er würde nicht viel nützen. Dass diskreditierende Aussagen und Zitate eines Politikers als Wahlkampfmunition zusammengesucht werden, geschieht längst, wenn auch noch von Rechercheuren im Auftrag eines Kandidaten durchgeführt. Wie britische und amerikanische Politiker reagieren, die der Unwahrheit überführt werden, konnte man am Beispiel der angeblich im Irak versteckten Massenvernichtungswaffen studieren.

Als vor kurzem jedoch publik wurde, dass Ungarns Regierungschef Ferenc Gyurcsany bei einer internen Besprechung eingeräumt hatte, das Volk belogen zu haben, um die Parlamentswahl im April 2006 zu gewinnen, war keine Rede von Rücktritt, nur von einem Missverständnis. Und Zehntausende gingen auf die Straßen. Aber nicht, weil sie gegoogelt hatten. (wst)