Technoscience und Folklore

Die ersten beiden Nobelpreise dieses Jahres sind verliehen worden: einer für Biotechnik und einer für Nanotechnik.

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Von
  • Niels Boeing

Wie in jedem Jahr ist Anfang Oktober Nobelpreis-Zeit. Zwei sind bereits vergeben worden: diesmal einer für Biotechnik und einer für Nanotechnik. Dem Ersten verdanken wir „Knockout-Mäuse“ genannte Labormutanten, dem Zweiten die heutige hohe Speicherdichte von Festplatten.

Nobelpreise für Biotechnik und für Nanotechnik?

Ja, ganz recht. Beide Preise bestätigen wieder einmal eindrucksvoll das Missverständnis, der Nobelpreis zeichne das edle Unterfangen wissenschaftlicher Forschung aus, das über den Niederungen der Technik stehe. Tatsächlich waren Medizin/Physiologie und Physik – wie die Preiskategorien eigentlich heißen – schon zu Alfred Nobels Zeiten im Übergang zur „Technoscience“ begriffen: eine unentwirrbare Verschränkung aus dem Streben nach Erkenntnis und nach neuen technischen Artefakten oder Verfahren, die sich wechselseitig beeinflussen. Technik ist nicht länger zweitrangig, sonder oft überhaupt erst der Auslöser für ein Erkenntnisinteresse.

Bereits Albert Michelson war beim Physiknobelpreis 1907 explizit für seine „optischen Präzisionsexperimente“ gewürdigt worden. Seitdem sind selbst in der Physik, dem Idealtyp einer Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert, relativ wenige reine Entdeckungen ausgezeichnet worden. Die anderen sind entweder nur dem Einsatz aufwändiger technischer Anlagen zu verdanken (z.B. in der Teilchenphysik) oder lupenreine technische Wirkprinzipien (z.B. das Rastertunnelmikroskop oder der Transistor), die der instrumentellen Vernunft ein neues Werkzeug für die Manipulation der Welt liefern.

Natürlich kann sich auch die hochtechnisierte moderne Zivilisation ein wenig Folklore gönnen und weiterhin große Entdeckungen in wissenschaftlichen Disziplinen wie „Medizin“, „Physiologie“, „Physik“ und „Chemie“ herausstellen. Traditionen sind etwas Beruhigendes, wenn schon sonst alles durcheinander purzelt.

Dennoch belügen wir uns, wenn wir noch immer an der Fiktion von Naturwissenschaften als Erkenntnissuche festhalten. Sie sind längst eine Knowhow-Industrie geworden, in die Milliarden fließen, damit sie die „Weltmaschine“ besser zurichten – und so auch neue Märkte erschließen und Standorte sichern helfen. Das klingt allerdings ziemlich hässlich und gar nicht so hehr wie dem Erkenntnisfortschritt der Menschheit zu dienen.

Die Nobelpreise sind Heldengeschichten, die dem Weltbild des 19. Jahrhunderts entspringen. Möglicherweise werden sie auch gebraucht, um dem sozialen System Wissenschaft den Nachwuchs zu sichern. Ihr Anspruch ist jedenfalls anachronistisch und ihre fachliche Einteilung lückenhaft.

Eine Auszeichnung, die den Anforderungen der Gegenwart schon eher entspricht, ist übrigens der Alternative Nobelpreis, weil er das gesamte Spektrum von Technik über Ökologie bis hin zu sozialen und wirtschaftlichen Konzepten würdigt. Die englische Bezeichnung "Right Livelihood Award" bringt diesen Anspruch klarer heraus: Wie meistern wir unser Leben auf diesem Planeten richtig, wie erhalten wir unsere Existenzgrundlage (livelihood)? Aber vermutlich müssen erst Klima, Energieversorgung und Entwicklung noch weiter den Bach runter gehen, bevor dieser Preis dasselbe Prestige bekommt wie die heutigen Nobelpreise. (wst)