Expasso im Web

Das Netz verlockt zu radikaler Offenheit. Das kann in mehrfacher Hinsicht gefährlich sein.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

In den achtziger Jahren hatte die Einübung in die kommenden Verhältnisse begonnen. Später dann, in den spektakulären Talkshows bei den Privaten, wurde Intimitäts-Inkontinenz zur Selbstverständlichkeit. Der Begriff "Big Brother" verwandelte sich aus Orwellscher Düsternis in ein Synonym für moderne Fernsehunterhaltung.

Millionen Zuschauer zog es vor die Bildschirme, wenn echte Menschen sich echt langweilten oder nackt duschten. Ja, wir hatten es gewusst, aber endlich konnten wir es auch sehen. Gleichfalls 100 Tage – so lange wie die erste Big Brother-Staffel – hatten im Jahr 80 nach Christus die Spiele zur Einweihung des Amphitheaters Flavium gedauert, bei denen mehrere Hundert Gladiatoren und etwa 5000 Tiere starben.

Dann wurde das Internet intim. Menschen begannen im Netz ihre persönlichsten Gedanken und Gefühle auszubreiten, geschützt durch vermeintliche Anonymität. Offenbar fällt es Vielen leicht, Schwächen und Geheimnisse auszusprechen, wenn sie sich einem Computer anvertrauen können. Online-Kommuniktion wirkt für viele Menschen wie eine Wahrheitsdroge. Aus sich herauszugehen wie es das Netz forciert, ist im realen Leben mit hohen Risiken verbunden – im Internet bleibt die Gefahr, verletzt zu werden, aber erst einmal auf Distanz. Ausbrüche von Wahnsinn, wie nun in Finnland, sind das innewohnende Restrisiko dieser neuen Art der Energiegewinnung: der Erzeugung von Netzwärme.

Die meisten Menschen erleben das Netz als einen eigenartigen Innenraum, der eine gewisse Geborgenheit ebenso vermittelt wie wilde, ungefährliche Abenteuer und eine sehr große, manchmal zu große Bequemlichkeit im Umgang mit Beziehungen. In sozialen Netzen sammelt man Freunde oder Kontakte wie Briefmarken. Der Hauptspaß besteht darin, sich selbst in die Welt hinauszuschütten und von durstigen, aufmerksamen Augen getrunken zu werden. "Ausbreiten" bedeutet das lateinische Wort "expandere", aus seiner Partizipform "expasso" ist unser "Spaß" hervorgegangen. Etwas breitet sich aus. Jemand. Jeder sendet nun, der eine ein Todesvideo, der andere einen Stopptrickfilm mit Legosteinen, wieder eine andere räkelt sich in einem kurzen Kleid an einer Wand, einen Song lang, alles selbstgemacht.

Zentral und erstaunlich ist diese rätselhaft tiefgehende Lust, sich zu entblößen. Einer informatischen Nacktheit zu frönen, die genauso ungezwungen daherkommt wie FKK. Inzwischen gibt es Dienste wie Twitter, Radar.net oder Jaiku, die statt gelegentlicher Updates der Selbstdarstellung einen endlosen Fluss kleiner Nachrichten strömen lassen – anstelle eines Agenturtickers mit Weltnachrichten laufen per SMS oder IM Meldungsschnipsel von Freunden ein, Stimmungsmomente. Der zunehmende kulturelle Exhibitionismus findet immer umfassendere Mittel der Darstellung. Zugleich soll einen das Gemeinschaftsgefühl einer virtuellen WG immer und überallhin begleiten – alle Freunde sind immerzu da.

Nie war der Wunsch, zu sehen und gesehen zu werden, so ausgeprägt und obsessiv wie heute. Warum stellt ein Engländer ein ein Video auf YouTube, auf dem zu sehen ist, wie er mit seinem Motorrad mit 150 Sachen durch ein Wohngebiet rast – und auf dem das Nummernschild gut zu erkennen ist? Kein Einzelfall. Ein norwegischer Autofahrer wurde, nachdem er ein Video seiner waghalsigen Autofahrt zur Schau gestellt hatte, zu einer Strafe von rund 1000 Euro verurteilt.

Durch das Internet hat nun jedes Bild potenziell die selbe Wirklichkeitsmacht wie die Bilder der herkömmlichen, großen Sender. Manche, wie der finnische Amokläufer, versuchen diese Macht zu missbrauchen für eine pathetische, mörderische Geste. Ihr können wir uns nicht entziehen. Aber das Wesen auch dieser neuen Technik ist nicht Kälte, es bleibt der Mensch. (wst)