Das Monument

Aus Architekten waren Softwaremanager geworden. Also verwandelte er Gebäude in Konstruktionsprogramme. Eine Kurzgeschichte von Bruce Sterling.

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Lesezeit: 50 Min.
Von
  • Bruce Sterling

Yuri holte seine Söhne aus der Schule, damit sie dem großen Roboter dabei zusehen konnten, wie er das Motel demolierte. Seine Frau hatte ein leckeres Lunchpaket gepackt, aber der 11-jährige Tommy war schwer zufriedenzustellen. "Du hast gesagt, ein Riesenroboter würde das hier in die Luft jagen", sagte Tommy. "Nein, mein Junge, ich sagte, ein Roboter würde es abreißen", sagte Yuri. "Los, mach ein paar Fotos für deine Mom." Tommy nahm seine kleine Kamera, sprang auf sein Bambusfahrrad und fuhr los. Geduldig schob Yuri das Rad seines kleineren Sohnes über den sonnenübergossenen Asphalt. Der siebenjährige Nick lernte gerade Radfahren. Seine Mutter hatte ihn für diese Feuerprobe eingekleidet und Nicks Kopf, Knie, Hände und Ellbogen waren großzügig mit buntem Schaumstoff gepolstert. Nick wirkte wie eine klobige japanische Actionfigur aus Plastik.

Unter dem kristallklaren Frühlingshimmel ragte der Roboter über dem Costa Vista Motel auf wie das kolbenfüßige Skelett eines Monsterprinters. Der Recycler hatte bereits das Dach des Motels zerlegt. Er trug einen Präzisionsaufsatz und nagte damit ungerührt Ziegelsteine ab.

Das Costa Vista war das erste, letzte und einzige Gebäude, das Yuri Lozano als diplomierter praktizierender Architekt geschaffen hatte. Es war "demontagegerecht" entworfen worden, damals im Jahr 2020. Also hatte Yuri heute, 26 Jahre später, der riesigen Roboter gemietet, um das Baumaterial des Motels vollständig wiederzugewinnen, die Ziegel, die Solarschindeln, die Elektrik, die Metallrohre. Das Gebäude wurde mit stupider Präzision abgebaut, bis zum letzten, armseligen Scharnier.

Während er behutsam den wackeligen Nick über das Unkraut des verlassenen Motelparkplatzes steuerte, empfand Yuri Erleichterung. Er hatte das Costa Vista nie gemocht – jedenfalls, seit es seinen Bildschirm verlassen hatte.

Einst hatte es richtig gut ausgesehen, ein selbstbewußtes Gebäude in der Sicherheit seines Screens. Er war angetan gewesen von den puren Räumlichkeiten des Plans, von der Art, wie sich dreidimensionale Körper zu Einheiten fügten und Strukturen elegant in die Landschaft... Bei den Auftraggebern hatte es sich bedauerlicherweise um ein Haufen von Versagern gehandelt. Genauer gesagt waren es gierige Idioten gewesen.

So hatte Yuri mit ansehen müssen, wie seine digitalen Masterpläne in einer rauen Wirklichkeit grausam vermurkst wurden. Billige, leichte Materialien. Landschaftsplanung der untersten Kategorie. Schäbigste Leitsysteme. Uninspirierte Innenausstattung. Auch der Name 'Costa Vista' war albern für ein Motel abseits der Autobahn in Michigan.

Yuri hatte aus dieser leidvollen Erfahrung die Konsequenz gezogen und aufgehört, sich Architekt zu nennen. Nach seiner Erniedrigung mit dem Costa Vista hatte er sein kreatives Ego weggepackt und sich ins Unvermeidliche gefügt.

Er schloß sich der rasch raumgreifenden Revolution an, die sämtliche Aspekte von Architektur, Bau- und Ingenieurwesen in Frage stellte. Das 'Nächste Web'. Das 'Geo-Web'. 'Ubiquität'. Das 'Internet der Dinge'. Es hatte Hunderte von Namen, weil es Tausende von Betroffenen gab. Das Internet alter Schule war von der Kette gelassen und drang in die Welt der Atome ein. Und es handelte sich nicht nur um ein paar besondere Aspekte der Wirklichkeit – es ging um die Arbeiten selbst.

Das übergreifende Software-Management desintegrierte als erstes die Pläne der Architekten, dann das Bauingenieurwesen. Danach verschwand das Baugewerbe: die Berufe, die Zulieferer... Dann ging es den Immobilienhändlern an den Kragen, den Klempnern, den Elektrikern; die Energieströme; die Verbindungen zwischen den städtischen Strukturen und dem Finanzsektor, das ständig wachsende Dickicht der Umweltschutzauflagen des 21. Jahrhunderts – alles wurde digital. Alles. Totales Gesamtlebensdauergebäudemanagement. Die Leute verkabelten keine Häuser mehr – sie beherbergten das Netzwerk.

Jetzt, in den ebenso phlegmatischen wie pragmatischen 2040ern, bezeichnete Yuri sich als Sysadmin-CEO des Lozano Building Network. Yuris Unternehmen florierte; er hatte mehr zu tun, als er und seine Leute bewältigen konnten. Er hatte sich selbst mitten in die Angelegenheit hineinmanövriert. Jedesmal, wenn er sich einen freien Tag mit seinen zwei Söhnen abknapste, spürte ein wucherndes Netzwerk seine Abwesenheit und erschauerte.

Die Lozano Building Network riss tote Vorstädte im Mittelwesten ab und zog hunderte umweltverträglicher digitaler Gebäude hoch. Das war die Arbeit der modernen Welt. Yuri kannte das System, seine kolossale Kraft und seine Bruchstellen, die Defizite und Schwächen.

Yuri wusste auch, dass die Auftragsbauten seiner Firma Schrott waren.

Neunzig Prozent aller Bauten waren Schrott. Das lag daran, dass neunzig Prozent aller Leute keinen Geschmack hatten. Yuri verstand das; er war fast schon darüber hinweg. Aber dann litt er doch wieder darunter und es schmerzte und stach, dass er nie etwas gebaut hatte, das es verdiente, erhalten zu werden.

Lozano Building Network schuf keine schönen Gebäude. Man realisierte Abstellstellraum. Das Gros der alltäglichen, massentauglichen Immobilienvortäuschungen, die aus seinem Network hervorgingen, hatten mit Architektur nichts zu tun. Am besten bezeichnete man sie als Hardcopy.

Es war ein schöner Frühlingsmorgen und er sah zu, wie das Gebäude zerlegt wurde und er erinnerte sich daran, dass sein Leben nicht immer so gewesen war. In seiner eigenen schönen Frühlingszeit hatte Yuri davon geträumt, Klassiker zu schaffen. Er hatte von Gebäuden geträumt, die als schimmernde Symbole der Vorzüglichkeit von der Oberfläche des Planeten aufragen würden. So etwas hatte Yuri nie gebaut. Und als er begriff, dass er es auch nie tun würde, versetzte ihm das einen ziemlich midlifekritischen Stich.

Er sah dem Costa Vista beim Verschwinden zu und – nein, dass es ihn unglücklich machte, konnte er nicht behaupten. Er fühlte sich erleichtert. Wenigstens konnte er die Schande ausradieren, wenn ihm schon der Ruhm verwehrt blieb.

Tommy, ein Ausbund an Energie, hatte das gesamte, verlassenen Motelgelände mit dem Rad erkundet. Irgendwo hatte er seinen Sicherheitshelm abgenommen. "Sag mal, Papa, warum sprengst du es nicht einfach in die Luft? So wie dieser doofe, große Roboter da rumstochert, werden wir den ganzen Tag brauchen!"

"Wir haben den ganzen Tag", antwortete ihm Yuri. "Abends kommen dann die Presslufthämmer."

Tommy machte große Augen. "Presslufthammer, Papa? Darf ich die großen Presslufthämmer anfassen?"

"Vielleicht. Aber sag es nicht deiner Mom."

Nick erhob eifersüchtig Anspruch auf Aufmerksamkeit. "Los, Dad! Schieb das Rad. Schieb es, Papa!" Nick war der zartere der beiden Jungs. Seine Mutter himmelte ihn an. Yuri zog seine Hosen hoch und schob Nicks Rad. Nick hatte es fast raus. Yuri ließ ihn unbemerkt los.

Nick rollte ein Stück, die wattierten Füße brav auf den Pedalen. Dann verlor er die Balance. Nick taumelte in einem wackeligen, verzweifelten Ringen. Dann stürzte er.

Tommy umkreiste seinen gefallenen Bruder, während er höhnisch seine Fahrradklingel betätigte. "Steh' auf, du Schlappschwanz, du Loser!"

Yuri bückte sich und befreite Nick aus dem bonbonfarbenen Rahmen. "Aller Anfang ist schwer, Nick. Du bist nicht verletzt."

"Ich bin nicht verletzt", stimmte Nick traurig zu.

"So eine Parkplatzfahrt ist schon mal ein Anfang. Steig wieder auf."

Nick zögerte und schaute eindringlich in Yuris Gesicht. "Bist du traurig, Papa? Du siehst traurig aus."

"Ich bin nicht traurig, mein Sohn."

"Ich werde nie Radfahren lernen. Oder?"

"Aber ja, mein Sohn, das wirst du! Du wirst dieses Fahrrad beherrschen wie nichts. Ein Fahrrad ist das leistungsfähigste Transportmittel der Welt. Dieses Fahrrad wird dir – Nicholas Lozano – eine enorme Steigerung an Mobilität im urbanen Raum verleihen!"

Nick war beeindruckt. Er kletterte wieder auf sein Rad.

"Nick, du lernst es viel schneller als dein Bruder damals. Sag Tommy nicht, dass ich das gesagt habe."

"Klar, Papa! Okay! Schieb mich jetzt!"

Tommy erschien wieder und kam schliddernd zum Stehen. Sein sommersprossiges Gesicht war ganz blass. Er schlenkerte mit seinem Arm. "Papa, Mom kommt! Und sie hat Tante Carmen mitgebracht!"

Yuri schaute über das Gelände. Tommys beunruhigende Botschaft stimmte.

Tommy fragte keuchend: "Kriegen wir jetzt großen Ärger, Papa?"

"Lass mich machen."

Yuris Frau und seine Schwägerin glitten auf Zwillings-Segways heran. Ganz wie ihr berühmter Vater waren die Roebel-Schwestern Segway-besessen. Nach 45 Jahren der Nischennutzung hatten die genialen Maschinen einen gewissen nostalgischen Charme erlangt, ähnlich wie Magnetbahnen und Zeppeline.

Normalerweise tauchte Gretchen nicht einfach auf, wenn er gerade ein bisschen Extrazeit mit den Jungs verbrachte. Im Gegenteil: Wenn die Kids weg waren, gönnte sich Gretchen ein duftendes Schaumbad und durchsurfte teure Websites.

Carmen war bei ihr, sie war aus San Francisco gekommen. Carmen zu Besuch, ohne Vorwarnung? Carmen? Niemand konnte etwas mit ihr anfangen.

Der Segway kam sanft zum Stehen, und das schmale Gesicht seiner Frau war das pure Leid. "Oh, Liebling, es ist furchtbar."

"Jemand ist gestorben?"

"Nein, nein", klagte Carmen. "Mein Vater hat einen großen Auftrag!" Die Menschen, die Francois Roebel nahestanden, waren ein ziemlich unglücklicher Haufen. Roebel war nämlich ein Großmeister der computergestützten Architektur.

Er war einer der weltweit größten Architekten. Er hatte dem digitalen Design eine eigene ästhetische Sprache verliehen – einen reichhaltigen, authentischen, symphonischen Ausdruck. Gebäude wie seine hatte man noch nie zuvor auf dem Planeten Erde gesehen. Die Bauten eines Gehry und eines Calatrava wirkten daneben wie Umkleidekabinen.

Roebel selbst war ein schlitzäugiger, versoffener, schnurrbärtiger kleiner Geek. Sein Ego hatte die Größe des Felsens von Gibraltar und neigte zu eklatanten Budgetüberschreitungen, wildesten Weibergeschichten, übelsten Temperamentsausbrüchen und spontanen Trips nach Indonesien.

Einige Leute glaubten, er, Yuri Lozano habe Gretchen Roebel geheiratet, um sich an ihren berühmten Architektenvater ranzuschmeissen. In Wahrheit war es genau das Gegenteil: Er hatte Gretchen geheiratet, um sie weit weg von Roebel zu bringen. Seine Bemühungen, Gretchen ihrer kaputten Familie zu entreißen, ähnelten dem Versuch, eine junge Frau aus einem brennenden Auto zu zerren.

Yuri hatte seine tapfere Intervention nicht bereut. Gretchen liebte ihn; außerdem hatte sie das schaurige Beispiel Carmens vor Augen. Carmen war nie aus Roebels Orbit entkommen, der wie ein Schwarzes Loch im Zentrum seines privaten Universums hockte. Die arme Carmen endete wie ihre verstorbene Mutter: eine schicksalsergebene, unterwürfige, schmetterlingsgleiche Mystikerin mit einem Gehirn wie verstreutes Müsli.

Für Francois Roebel war architektonisch gestalteter Raum ein dunkles und schreckliches Reich. Es war eine Arena für kampfhungrige Alpträume, ein Königreich endlos sich verzweigender Dellen und Beulen, von Drehungen und Deformationen, gespiegelter Rampen und kryptischer Gänge. Da er sich selbst als heroischen Geist sah, trieb er die Design-Software über sämtliche Vernunftgrenzen und beschwor fiebernd neuartige Strukturen herauf, um sie dann auf einer Woge von Klagen und Skandalen in eine rohe physische Existenz zu zwingen.

Roebel war jahrzehntelang Vorreiter des Virtuell-Realen gewesen. Sein Bildschirm, in dem beispiellose Phantome für Aufruhr sorgten, wurde zu den phantastischen Schaufenstern einer Stadt, vor denen Passanten sich in höchstes Entzücken und Erstaunen versetzt sahen. Angesichts ihrer abgefahrenen Konstruktion konnten sie Menschen aber auch ziemlich ins Rotieren bringen und verstören. Dass seine Kunst für andere auch Risiken nach sich ziehen konnte, bereitete dem großen Mann aber nie Kopfzerbrechen.

In Roebels Augen war jeder, der sich mit weniger als dem aberwitzig Großen zufrieden gab, ein Verräter, der gnadenlos ausgepeitscht gehörte. Roebel machte sich Feinde wie andere Popcorn machen.

Yuri nahm den Zug nach San Francisco, um dem großen Meister aufzuwarten. Er brauchte zwei Tage bis zu Roebels Haustür. Roebel war darüber, ganz nach seiner Gewohnheit, sauer.

"Wo zum Teufel ist Carmen?" kreischte Roebel. "Ich habe seit fünf Tagen nichts Anständiges mehr zu essen bekommen! Carmen will mich verhungern lassen!"

Der alte Visionär war immer dürr gewesen; jetzt sah er geradezu spinnenhaft aus – er hatte so viel Gewicht verloren, dass er zu einer Vektorgraphik geschrumpft schien.

"Oh, die Neffen freuen sich immer so über den Besuch ihrer Lieblingstante", log Yuri.

"Ich bin der letzte Starchitekt von Weltbedeutung! Ich bin das letzte Exemplar einer sterbenden Rasse!" krähte Roebel. "Und du konntest nicht das Flugzeug hierher nehmen?"

"Ich brauchte die Zeit im Zug, um meine Bautermine zu ordnen" besänftigte Yuri ihn. Yuri war immer bereit Roebel bei seine Projekten zu 'helfen'. Das war nicht weiter riskant – früher oder später merkten die Klienten immer, dass Roebel unzumutbar geworden war.

Das Genie konnte bei Laune gehalten werden, aber nur, wenn der Glutfluss seiner Obsessionen in enge, direkte Pfade kanalisiert wurde. Also zog Yuri geräuschvoll einen scheppernden Metallstuhl über den nackten Zement in Roebels staubigem Garagenstudio. Er setzte sich vor die legendäre Workstation des Architekten, zog ein Knie an und umfasste es mit seinen Händen. "So, Francois, hier bin ich also. Zeig mir was du hast. Schauen wir uns die Entwürfe an!"

Roebel torkelte heran, rollte die blauen Leinenärmel an seinen spindeldürren, leberfleckigen Unterarmen hoch und kramte unwillig in einem Durcheinander von leeren Dosen, in denen sich isotonische Getränke befunden hatten. Er fischte ein billiges Spielzeug heraus. Es war ein Plastik-Headset zum Aufsetzen, schon stark in die Jahre gekommen. "Ich bin sicher, du hast noch nie so ein Ding gesehen."

"Erzähl mir alles darüber."

Roebel straffte sich hoheitsvoll. "Ich entwerfe in ClearWorks mit diesem cortico-kognitiven Headset!"

Yuri räusperte sich. "Du zeichnest in ClearWorks? Mit irgendeinem Gehirnleseding?"

"ClearWorks ist das beste Designprogramm, das jemals angefertigt wurde!"

"Francois, ClearWorks ist 30 Jahre alt." Mit einem Stift und ein paar Kindermalheften wäre Roebel da besser bedient.

"Ja, was glaubst du, wozu du hier bist?" bellte Roebel. "Du sollst ClearWork dazu bringen, mit diesem unfaßbaren Unsinn zu interagieren, den dein hirnerweichter Haufen Mitarbeiter Software nennt!" Roebel atmete schwer. "Diese sogenannten Tools, die ihr verwendet – man kann kein Loch in einen Balken bohren ohne sich mit 40 miteinander verknüpften Sicherheitsformularen konfrontiert zu sehen."

"Wenn du mit deinem System Probleme hast, schau ich mir das gerne an." Yuri klickte die Metallverschlüsse seiner Schultertasche aus marokkanischem Leder auf. "Ich habe ein paar erstklassige Diagnose-Tools in meinem Laptop dabei."

"Pack dieses dämliche Spielzeug weg, ich weiß, du bist ein Softwarehansel!" knurrte Roebel. "ClearWorks ist Architektur! Ddas ist Software-Architektur, von einem Informationsarchitekten!"

"Ich habe ClearWorks seit meiner Collegezeit nicht mehr gesehen", sagte Yuri. "Interagiert ClearWorks denn mit der aktuellen Rechtscodierung?"

"Ich brauch deine Anwälte so sehr wie ein Loch im Kopf!"

Nach dieser Antwort auf seine Frage zeigte Yuri ein sonniges Lächeln. "Ich mag deine Dreistigkeiten, Francois. Wirf dein Programm an – wolln mal einen Blick drauf werfen!"

Derart ertappt drückte Roebel mit ein wenig Widerwillen den linsenförmigen Start-Knopf seines gewaltigen Desktoprechners. Roebel benutzte immer noch eine CAD- Spezialworkstation. Die verfärbte Maschine, deren Gehäuse azetonverätzt und deren Tastatur zu Noppen abgenutzt war, hatte eine mit geschwollenem Kamm stolzierende "Guck-ich-bin-voll-Cyber"-Ästhetik. Roebels Workstation sah aus, als könnte man mit ihr die gesamte Milchstraße re-designen; dabei hatte sie, um bei der Wahrheit zu bleiben, etwa 10 Prozent der Kapazität einer modernen Wegwerf-Kinderarmbanduhr.

"User-Lock-ins und proprietäre Formate", murmelte Roebel mit seiner Altmännerstimme, die zum altertümlichen Brummen der angeschlagenen Harddisk seiner Workstation passte. "Diese Volltrottel in den Distributionskanälen wollen einem nicht mal die AGBs für die Enduser zeigen."

Die archaische Vakuumröhre flackerte, als die Workstation bootrackerte. "Und was zum Teufel ist mit den Leuten passiert?" maulte Roebel, wobei er Yuris Blick auswich. "Die Banken, die Gewerkschaften, alle Berufsstände und Behörden ... alle zusammengeschmolzen zu einer riesigen Kugel aus Softwarematsch! Keine kreativen Größen mehr ... sie sind alle nur noch billige Aufziehaffen in einer verrrückten Welt, die jeden Tag interaktiver wird!"

"Erzähl von deinem Klienten", sagte Yuri, um das Thema zu wechseln.

Roebel grinste schlau und scheu: "Die Church of Symbiosis."

"Geben die noch einen Tempel bei dir in Auftrag? Das ist ja irre", sagte Yuri. Sein Mut sank.

Die Church of Symbiosis ... konnte es noch schlimmer kommen? Francois Roebel war ein Ausbund an Zurechnungsfähigkeit verglichen mit seinen Lieblingsklienten. Die Church of Computer-Human Symbiosis war eine in die Jahre gekommene Gruppe spinnerter kalifornischer Hacker, die das riesige Vermögen eines nicht mehr existierenden Unternehmen für Sozialsoftware geerbt hatte. Sie waren lange Zeit Roebels ideale Auftraggeber gewesen, denn sie waren wahnsinnig reich, allesverzeihend und zu keinerlei Urteil fähig.

Im Laufe der Jahrzehnte hatte Roebel der Glaubensgemeinschaft eine beeindruckende Ansammlung monumentaler Kirchen gebaut. Seine Tempel waren architektonische Glamourhits erster Güte; Kaffeetische auf sechs Kontinenten brachen unter dem Gewicht der zugehörigen Hochglanzphotobücher zusammen.

Niemand nahm an Gottesdiensten in den unglaublichen Kirchen teil, die Roebel gebaut hatte, dazu war der Kult zu verrückt und furchteinflößend. Außerdem waren die Dächer undicht und sämtliche Energieversorgungsleitungen funktionierten nur unzureichend. Das interessierte die Anhänger des Kults aber keineswegs. Sie waren auf heitere Weise indifferent gegenüber solchen weltlichen Belangen, da sie den Großteil ihres wachen Lebens mit stimulierenden Simulationsspielen verbrachten.

Roebel spielte ziellos mit seiner Tastatur herum. Der gläserne Bildschirm war leer.

"Er startet jede Sekunde", log er. "Das System ist ein bisschen launisch."

Mitleid ergriff Yuri. Mitleid war ein gefährliches Gefühl in der Gesellschaft des großen Meisters, aber Yuri konnte nichts dagegen tun. Mit jedem Jahr hatte Roebel so viel verloren. Sein schickes Büro downtown, seinen Mitarbeiterstab, seine Finanzkontakte, seine Ingenieure und Subunternehmer. Roebel arbeitete noch immer – wenn er überhaupt arbeitete – mit diesem altertümlichen CAD-System, das zum Bau französischer Kampfflugzeuge entwickelt worden war.

Der Schirm flackerte. "Na also", vermerkte er, als ob durch diesen Kraftaufwand der Maschine irgendetwas gewonnen wäre. "Ich muss nur noch das Headset umschnallen. Später."

Was war aus dem alten Mann bloß geworden? Normalerweise hätte er einen regelrechten Orkan wildester Entwürfe und Konzepte abgesondert, der eine weniger praktikabel als das andere. Yuri war nicht sicher, ob diese trostlose Leere für ihn Unheil oder Erlösung bedeutete. In beiden Fällen aber war er ehrlich betroffen.

"Francois, ich habe ein richtig gutes Gefühl, was deinen neuen Auftrag angeht. Wir werden zwar Einiges wegen der Interoperationsprobleme tun müssen. Aber zumindest haben wir einen Klienten mit Verständnis für deine Zielsetzung."

Roebel kniff die Augen zusammen. "Du kannst mich nicht verarschen."

"Bitte?"

Roebel warf sein Headset beiseite und entfernte sich von seiner Tastatur. "Brich nur alles ab, den ganzen Mist, wenn du schleimen willst. Du klingst wie ein Immobilienmakler! Du bist mit meiner Tochter auf und davon – und das war das letzte Mal, dass du für etwas Mumm gebraucht hast. Du steigst niemals auf, Junge. Du bist wie ein Schwein in der Suhle."

"Lass uns diese Diskussion abbrechen. Lass uns Gretchen anrufen, jetzt gleich, und die Enkel drüben in Michigan", sagte Yuri. "Sie werden sich eh fragen, wie es hier so läuft. Du rufst uns nie an, weißt du."

"Einen Zwölf- und einen Achtjährigen."

"Die Jungs sind elf und sieben."

"Ich hatte schon vorausgedacht. Seh ich so aus wie einer, der deinen Kindern die Brust geben will? Ich habe gerade eine Riesenauftrag bekommen! 'Drüben in Michigan' – scheiß auf dein Michigan. Die ganze Gegend nichts als Wald! Du kannst die Grillen hören in Flint, Saginaw und Grand Rapids! Deine Kinder sind wie zwei Sandkasten-Baseballkids, direktemang aus Norman Rockwell! Und Gretchen... Gretchen kommt mich nie besuchen! Wo zum Teufel ist sie – immer noch beim Einräumen ihres Gewürzregals?"

"Gretchen kümmert sich während meiner Abwesenheit um das Netzwerk. Sie hat ein echtes Talent für Rechnungstellung und Buchhaltung."

"Das ist kein 'Talent', du Gimpel! Ich weiß, dass du weißt, was hier auf dem Spiel steht! Ich habe dich Architektur gelehrt, als du ein dahergelaufener Maiskolben schälender Bengel aus Kentucky warst und in meinem Büro auftauchtest wie eine verlorene Seele! Á propos verlorene Seelen – wo zum Teufel ist Preston? Ich habe ihm vor einer halben Stunde gesagt, er soll herkommen!"

Preston Mengies war ein Architekturkritiker, früher der PR-Mann in Roebels Büro in San Francisco. Er hatte in ernsthafter Absicht Roebels weltweite Reputation befördert, bis seine zum Scheitern verurteilte Beziehung zur unfaßbar flatterhaften Carmen Roebel dieses Bemühen zum Erliegen gebracht hatte.

Preston kam, trotz allem, was er unter dem alten Mann zu leiden gehabt hatte. Er radelte vom South of Market herüber und brachte vorsorglich chinesisches Essen mit. Yuri fühlte Bedauern bei seinem Anblick. Preston Mengies war einst ein sehr eleganter und selbstsicherer Mann gewesen – ein sarkastischer kleiner Spinner, um ehrlich zu sein, aber einer, mit dem man gern herumhing.

Aus seiner langen Verbindung mit Roebel war er als ein fadenscheiniger, eingefallener, kurzsichtiger, geschlagener Charakter hervorgegangen. Jetzt verbrachte Preston seine einsamen Stunden damit, Architektur-Websites zu beharken. Er entfernte zum Spaß die schwachsinnigen volksnahen Kommentare und versuchte sie mit ein paar intelligenten Splittern aus den Lehren von Arts & Crafts, des Futurismus, des Modernismus, des Postmodernismus und des New Urbanism aufzuwerten.

Es handelte sich dabei um architektonische Konzepte, die längst vergessene Menschen mit Bleistift und Papier geschaffen hatten. Kein vernünftiger Mensch des 21. Jahrhunderts konnte diese primitiven Ideen mehr unterscheiden. Gelegentlich fühlte ein Kritiker sich verpflichtet, sein Interesse mit einer gewissen Leidenschaft diesen Blüten des menschlichen Genius zuzuwenden – ein spilleriger Obssessiver wie Preston Mengies beispielsweise.

Roebel nippte finster blickend an der Sauer-scharf-Suppe, aber er hatte eindeutig den Faden verloren. Der alte Mann ereiferte sich bitterlich über 'Anwälte' und 'Reinlegen' und 'Bankbetrug'. Als er zu seinem üblichen Nachmittagsschläfchen abtrottete, war es für alle Beteiligten eine Erleichterung. Er überließ es Yuri und Preston, etwas für den bevorstehenden Klientenbesuch zusammenzustoppeln.

"Wie geht es den Kindern?" fragte Preston, der kinderlos war.

"Beiden Jungs geht es großartig, danke."

"Sie sie normale Kinder?" fragte Preston. Seine Augen flackerten.

"Oh, ja, sie sind vollkommen normale Jungs", sagte Yuri. "Kein bisschen wie der Maestro hier. Sie sind einfach wieder in den universellen Genpool aufgegangen."

Dieser Einfall amüsierte Preston. Er war ein Kritiker, also heiterte ihn so ein kleiner bitterer Sarkasmus immer auf. Er mampfte sein kaltes Shrimp Chow Mein und zeigte mit seinen billigen Plastikstäbchen auf die Workstation.

"Hat er dich gebeten, diesen Dinosaurier anzufassen? Ich würde diesen Schrotthaufen nicht anrühren, wenn ich du wäre."

"Wieso, Preston?"

"Du weißt, wie er versucht, dieses Fossil an moderne Standards zu patchen – und seinen Kopf gegen die gesamte Bauindustrie durchzusetzen? Nun, er hat's vergeigt. Er hatte einen massiven, totalen Datenverlust. Kein Upgrade-Pfad offen, kein Weg zurück. Jetzt steckt er komplett fest. Er steckt bis zum Hals im Morast des nicht mehr vorhandenen Codes."

Yuri mampfte seine knusprigheißen mit schimmerndem California-Tofu gefüllten Frühlingsrollen. "Er behauptet, er zeichnet mit ClearWorks. Ich konnte es nicht glauben."

"Niemand arbeitet mit ClearWorks", spöttelte Preston. "Das ist die tollste Design-Plattform, die je geschaffen worden ist, aber kein moderner Profi könnte sie benutzen. Sie interoperiert nicht mit anderen Disziplinen."

"Es ist sogar noch schlimmer", gab Yuri zu. "Im Mittleren Westen interoperieren wir; also haben wir all die anderen Disziplinen in uns aufgenommen. Sobald ich die 'Architektur' aufgegeben hatte und mir eingestand, dass ich Software verwaltete, nun ... Schritt für Schritt habe ich den Baugrund übernommen, die Struktur, die Außenhaut des Gebäudes, alle Dienste. Wir stellen die Raumplanung; wir sind sogar für den Möbelankauf zuständig. Wir sind aber niemals Architekten. In keinster Weise. Wir sind Grundbesitz, Innenarchitektur, Konstruktion, Landschaftsbau, Klempnerei, Elektrik ... wir sind das Netz."

Yuri verschränkte die Finger. "Und das ist alles verschissener verdammter Altlast-Code! Jedes Stückchen! Diese Programme hassen einander aus vollstem Herzen! Ich verbringe 90 Prozent meiner Arbeitszeit als Softwaresachbearbeiter!"

"Im Grunde entwirfst du also nie und schaffst auch nichts Neues. Du interoperierst nur."

Yuri wog diese unerbittliche Beurteilung ab. "Tja, das ist ziemlich gut ausgedrückt."

Preston lief bei dem Thema zu einer gewissen Form auf. "Aber du musst das tun. Weil da diese Schubkraft ist in all diesen verschiedenen Softwareschichten. Es ist eine Sache der Stromwirbel und der Wirbelströme und der kurzen Ausbrüche finanzieller Energie. Und das Architekturgewerbe hat seine Seele verkauft, damit es da überleben konnte."

Yuri stellte einen Karton mit Moo Goo Gai Pan zur Seite. "Darf ich dich was fragen? Ich muss beim Milwaukee Design Regulation Board die Keynotes halten ..."

"Wie lang?"

"Ganze Stunde. Große Dinner-Rede. Mann, ich hasse das."

"Wieviel Personen?"

"Keine Ahnung – sieben-, achthundert. Typische Industriedrohnen."

"Gibst du mir 'nen Tausender, wenn ich das für dich schreibe?"

Yuri blinzelte ein wenig. "Na klar, okay."

Das waren Peanuts, aber es war mehr Geld als Preston seit einer ganzen Weile zu Gesicht bekommen hatte. Er setzte sich auf in seinem Stahlrahmenstuhl, und sein Appetit schien zurückgekehrt. "Immerhin gibt es einen Trost in all dem hier. Roebel wird nie wieder ein Haus bauen."

Yuri lachte. "Jaja, die Leute sagen sowas dauernd, und dann überrascht er sie immer wieder. Dieser miese alte Mann wird uns alle überleben. Er wird 90 werden."

"Roebel ist 90 Jahre alt."

Yuri rechnete schnell im Kopf. "Verdammt – wo bleibt bloß die Zeit?"

Preston schnappte nach einer leeren Dose. "Das ist alles, was er jetzt zu sich nimmt – diese Vitamindrinks. Carmen hat ihn letztes Jahr in mehrere Kliniken geschleift. Sie haben einen Blick auf ihn geworfen und gesagt, dass sie nichts tun können. Keine Ahnung, wie er überhaupt auf seinen Füßen stehen kann. Er existiert nur noch aus purem Trotz."

Yuri überdachte diese trostlose Diagnose. Ja, Francois war extrem eingefallen und fahrig, selbst für seine Verhältnisse. "Vielleicht ist die Lampe schlussendlich erloschen."

"Ja, 'der Brunnen ist versiegt.' Das sagt Carmen immer. Dazu sein großer Software-Crash, und..." Preston klatschte in die Hände. "Das Spiel ist aus für Pac-Man."

"Carmen war bei uns. Carmen scheint ziemlich verzweifelt wegen all dem."

Carmen Roebel war immer verzweifelt – Carmen war die Königin der Verzweiflung – aber Preston nahm die Nachricht schlecht auf. Er kratzte sich überall und knirschte mit den Zähnen. Der arme Kerl verehrte Carmen immer noch sehr. Es war schrecklich mit anzusehen.

"Sie steckt bis über beide Ohren in Schulden", sagte Preston. "Hat sie euch das erzählt?"

Tatsächlich hatte sich Carmen bei Yuri sofort um eine privates Darlehen bemüht. Jedes Mitglied der verzweigten Roedel-Familie bemühte sich bei Yuri um ein Darlehen. Er betrachtete dies mittlerweile als feste Firmenkosten, etwas wie eine Unternehmensspende für ein Kreisliga-Team.

Yuri seufzte "Ich nehme nicht an, dass Francois sein Testament schreiben und seine Angelegenheiten in Ordnung bringen will."

"Francois würde Carmen keinen Cent hinterlassen! Hätte er einen Cent, würde er ihn dem Francois-Roebel-Ewiges-Gedächtnis-Fonds spenden." Preston schüttelte den Kopf. "Nach all den Jahren der Zusammenbruch! Diese Kirchenirren werden bald da sein... sie wollen seine Vorschläge sehen. Er wird sein Relikt da drüben anwerfen und ihnen einen Bildschirm voll Schnee präsentieren."

Ein leeres Schweigen streckte sich durch Roebels Spinnenloch von Büro, und irgendwo schrie eine Möwe. Yuri war kein Architekt mehr – tatsächlich war er wahrscheinlich nie wirklich einer gewesen – aber er hatte sein gesamtes Erwachsenenleben damit zugebracht, die bitteren Widersprüche zwischen Softwaresystemen glattzupolieren. Es musste einfach eine Lösung für diese grässliche Situation geben.

"Preston, ich weiß, es ist nicht gerade ehrlich, aber – angenommen, du zeigst denen irgendwas aus den Archiven des Alten? Er muss doch Dutzende von nicht gebauten Vorschlägen haben. Diese Clowns würden sicher nichts merken."

"Der Alte hat diesen Clowns seine Archive verkauft. Vor drei Jahren hat er ihnen alle Files verkauft. Die Kirche hat dafür auch gutes Geld gezahlt. Sie haben alles in einem zinkverkleideten Bunker irgendwo untergebracht."

Wie, wo und warum erlaubten Computer es verrückten Freaks, so viel Geld zu machen? Yuri fragte sich, ob die Welt dadurch je ein Stück besser geworden war. Computer auf der ganzen Welt zu säen war wie die Erde mit dem Feenstaub des blanken Irrsinns zu überstäuben.

Preston hatte den schamlosen Blick dessen aufgesetzt, der für seine Angebetete etwas sehr Dummes tut. "Hör mal, Yuri: Für dich muss die ganze Geschichte doch ziemlich einfach sein. Der Alte verliert seinen Auftrag – so what? Bei dir läuft es bestens drüben im Rust Belt. Weil du im Rückbau-Business bist. Du könntest den Rest deines Lebens damit zubringen, Detroit abzureißen. Aber Carmen braucht diesen Vorschuss. Sie ist einfach am Ende."

Armer alter Preston. Wenn er doch den Mut fände, seine idealistischen Träume hinter sich zu lassen und zu handeln. Einfach dem Alten die Meinung geigen, das Mädchen ausknocken, es in den Kofferraum eines Autos werfen und über die Staatsgrenze fahren. Aber man brauchte wohl einen gewissen hinterwäldlerischen Mangel an Savoir faire, um etwas so Unverblümtes, Unmittelbares, Hilfreiches und Frauenfeindliches zu tun. Dieser schlichte Handlungsablauf hatte für Yuri bestens funktioniert, Preston aber besaß eine sanftere und verfeinertere Sensibilität. Und seine Hosenaufschläge waren übel ausgefranst. Dieses winzige Detail gab für Yuri den Ausschlag.

"Okay", sagte er und straffte sich, "ich sag dir, was wir tun werden. Ich werde ClearWorks anschmeißen und diesem Programm auf den Zahn fühlen. Wenn der Alte von seinem Mittagsschläfchen zurückkommt, werde ich es schon mit irgendwas zum Laufen gebracht haben."

Preston kratzte die kahle Stelle auf seinem Kopf. "Glaubst du wirklich, du kriegst es hin?"

"Ja. Ich weiß, ich kann's. Ich war damals sein Starstudent. Mit Francois ist es ziemlich simpel. Du tust einfach etwas sehr Klares und Einfaches und Einleuchtendes. Dann regt er sich auf und schnautzt dich an. Er kann es nicht erwarten, die Arbeit zu übernehmen und alles nochmal zu machen. Also: Falls dieses Stück Schrott überhaupt läuft, werden wir zwei ein Konzept zusammenbrauen. Es muss ja nicht grade das Taj Mahal sein, das er seinen Lieblingsklienten zeigt."

Preston hatte nichts Besseres zu bieten. Er ließ Yuri in Ruhe mit der Maschine. Yuri weckte die Workstation und machte es sich darin gemütlich. Als er das ClearWorks Interface sah, wurde er von tiefempfundener Wehmut erschüttert. Es war tatsächlich ClearWorks, was hier lief, ohne Scheiß! ClearWorks war ein einfaches, weiße Fenster mit ein paar winzigen, fast unsichtbaren Icons in der oberen rechten Ecke. ClearWorks war so vollkommen klar, dass es extrem absurd wirkte. Verglichen mit Yuris Arbeits-Interfaces für das moderne Baugewerbe war ClearWorks ein Alien.

Wo waren die aufgefächerten Toolbars, Templates, Dynamic Panels, Auto-Updater, Dialog-Panels, Widgets, Dashboards, Kollisionsdetektoren und Tags? Wo war die hektische Wolke von Counters, Winkers, Beepers und Blinkers?

ClearWorks war eine Leerstelle. Gläserne, glänzende Unschuld. ClearWorks war so perlenweiß und blankpoliert wie die Innenseite eines Schädels.

Der kabellose Joystick lag oben auf Roebels Workstation. Als Yuris Fingerspitzen den Rücken des Lesestifts umgriffen, erkannte er das Programm visuell und haptisch, als wäre das College erst gestern zu Ende gewesen.

Raum und Form. Yuri durchblätterte Raum und Form. Durch das Drehmoment des Sticks konnte er tatsächlich Raum fühlen – die Schwere von Raum, die Wohlgestalt von Raum. Die Planmäßigkeit und die Richtigkeit entworfener Räumlichkeit. Geometrie schnitt durch die weißen Scheiben der Simulation wie ein weißes Keramikmesser durch weißen Käse.

ClearWorks konnte eine einzige Sache gut: Es formte. ClearWorks tat nichts anderes. ClearWorks war eine Welt, in der nichts als Form existierte.

Yuri fiel ein, dass ClearWorks von einem einzelnen Typen programmiert worden war. Es war die Hirngeburt eines einzelnen Freaks, eines verbitterten Dissidenten des frühen CAD-Business. Der Name dieses einsamen Genies war Greg Irgendwas oder Bob Irgendwas oder Jim Irgendwas, und er war der Typ arrogantes, sich selbst verherrlichendes, vollkommen weltfremdes, Unix-bärtiges Softwaregenie, das ganz allein ein programmatisches Universum schaffen wollte.

Greg-Jim-Bob hatte dieses Kunststück nie zuwege gebracht – aber er hatte ClearWorks zuwege gebracht. Das Programm war unter seinen Nutzern zur Legende geworden. Alle Cognoscenti und Digerati und Designerati wetteiferten im Lobpreisen von ClearWorks. Natürlich benutzte es keiner wirklich. Gib den Leuten die perfekten Tools für ihre Jobs und sie haben nichts anderes mehr als ihre Jobs.

Das ganze Geheimnis der Netzwerkrevolution war, dass sie alle vernetzte, was dazu führte, dass alle den Job der jeweils anderen machten.

Es traf Yuri wie ein Schock, dass ClearWorks nicht interoperierte. Nein. Mit ClearWorks konnte man noch nicht mal ins Internet. ClearWorks war ein singuläres Tool für einen singulären menschlichen Verstand. Da war kein Platz für Crowdsourcing, keine Open Source-Kollaboration, kein 'mit genügend Augen sind alle Bugs platt' ...keine Add-ons, keine Plugins, kein offenes Interface zur Applikationsprogrammierung.

ClearWorks war simpler, schimmernd weißer Raum für die Vorstellungskraft.

Yuri konnte nicht fassen, dass das Programm eine solche Sandkiste war. Er konnte sich erinnern, wie er als Student mit ClearWorks klargekommen war. Damals hatte er das Programm für unglaublich fortgeschritten gehalten. Es war kosmisch, unendlich, furchteinflößend gewesen. Wie war aus ClearWorks bloß ein solches Blechspielzeug geworden?

Yuri schüttelte den Kopf und erinnerte sich an seine eigentliche Absicht. Die Aufgabe war irgendein konzeptioneller Vorschlag für einen Francois Roebel-Tempel. Der Maestro konnte jederzeit von seinem Schläfchen zurückkommen und Yuri musste ihm etwas zeigen, das garantiert sein Interesse erregen würde.

Zum Teufel, jedes pasticcio musste irgendwo beginnen. Das Goldene Rechteck. Immer eine korrekte Wahl. Es sah nie unbeholfen aus, egal wie man es anwendete. Peng, da war es, das gute alte Goldene Rechteck. Und dann: booOOOOOOooom ... es war das älteste und reinste Vergnügen des Computerdesigns: die mühelose Wiederholung. Yuri griff seinen kleinen Stift. Eine Seriendrehung – ein Schafbockhorn-ähnliches Fraktaldings ...

Was würde der Maestro tun? Nun, er würde etwas außerhalb der Mauer machen, das auf erstaunliche Weise notwendig zu sein schien. Trotz seiner vielen persönlichen Macken war Roebel der wahre Hexenmeister der Assemblage – "Die Teile wachsen aus den Regeln, während die Regeln aus den Teilen wachsen."

Füge ein Tonnengewölbe hinzu. Wer würde kein Tonnengewölbe mögen? Insbesondere einander überschneidende Tonnengewölbe. Mehrfach einander überschneidende Tonnengewölbe. Yuri vergaß sich selbst. Er vergaß seine ursprüngliche Absicht; er vergaß, wo er war. Der Stuhl verschwand und der Bildschirm verdampfte. Yuri plantschte in purer Möglichkeit, frei von Sorge, befreit von allem, und amüsierte sich bestens...

Bis ihm aufging, dass Roebel nicht viel von diesem Entwurf halten würde. Der Entwurf hatte einiges für sich. Aber er war nicht besonders Francois Roebel.

Die strikten Grenzen von ClearWorks begannen Yuri zu nerven. ClearWorks war ein 30 Jahre altes Programm. Zudem war das ganze Ding von einem einzigen Typen gebaut worden, und obwohl der eine ziemlich coole Sandkiste gebaut hatte, war es doch bloß Sand.

Yuri begann zu ahnen, wie der Programmiere tickte. Kein Nerd von vor 30 Jahren konnte vorausahnen, wie ein moderner Bauunternehmer denkt. Zwar hatte er ein bemerkenswert intuitives Arsenal an coolen Möglichkeiten seinen Sand anzuordnen, ihm fehlte aber jegliche coole Möglichkeit, den Sand wieder abzutragen.

Es war, als glaubte er, reale Gebäude wüchsen in einen platonischen Cyberraum, in dem Schwerkraft, Reibung und Entropie niemals existiert hatten. Wo die Jahre lediglich als Abstraktion vergingen. Der Autor von ClearWorks war ein purer Freak gewesen, und so hatte er nicht verstanden, dass man beim Vermischen von Bits und Atomen die Atome respektieren musste. Bits waren die Diener der Atome. 'Bits' waren nur Bits von Atomen.

Bits kamen und gingen auf Knopfdruck, aber Atome haben tiefe, dunkle und permanente physikalische Gesetzmäßigkeiten. Atome verschwinden nicht, wenn man den Bildschirm ausschaltet. Mangelte es an verantwortungsvollem Umgang mit Atomen, wurde man zu einer Gefahr für sich selbst und für alle um einen herum.

Mit diesem ethischen Wissen bewaffnet machte sich Yuri daran, die Flüchtigkeitsfehler auszubügeln. Da begann ClearWorks, gegen ihn anzukämpfen. Um das Programm dazu zu bekommen, die eigenen Konstruktionen auseinanderzunehmen, musste Yuri ihre Elemente bis hinunter zu den letzten, kleinsten Pixelbausteinen abreißen.

Jetzt hatte Yuri einen richtigen Kampf durchzustehen. Das Programm grummelte in seiner Wagnerianischen Grandezza vor sich hin, ganz blasse, zeitlose Majestät und sonores Streichen räumlicher Saiten – doch Yuris Blut geriet in Wallung. Er hörte einen Walkyrenritt in seinem geistigen Ohr, ein Thema aus der Götterdämmerung... Er musste diese reine Einfachheit zerreißen.

Zerbrich! Zerfalle! Fall auseinander, du dummes Totales Kunstwerk! Hör auf, in Missachtung aller Vernunft zusammenzuhalten! Aus Pixeln bist du geschaffen und zu Pixeln sollst du wieder werden...

Das Deckenlicht ging mit einem Klicken an. Preston stand in der Türschwelle, ein Bier in der Hand. Irgendwie war der Tag zum Abend geworden.

"Sitzt du immer noch dran? "

Yuri blinzelte. "Ist es spät?"

"Ja, du bist seit geschlagenen fünf Stunden dran!"

Yuri stand vom Bürostuhl auf. Auf einmal spürte er üble Rückenschmerzen. "Wo ist Francois?"

"Die Klienten haben ihn geweckt" sagte Preston. "Wir füttern sie mit Cocktails, drüben im Solarium – Cocktails und Blabla." Preston kam herüber und staunte. "Wow."

"Ich hab ein bisschen rumgebastelt."

"Das sieht ziemlich anders aus. Ziemlich ... frisch."

"Entwurf zum Rückbau. Ich musste alles in eine Art Loop verwandeln."

Preston schaute auf den Bildschirm, nippte an seinem Bier.

"Weißt du," sinnierte er schließlich, "Diese gewisse ästhetische Qualität alter Computergraphiken ist echt gespenstisch. Es ist diese schaurige Gothic-Qualität von Stummfilmen. Die Menschheit wird nie wieder in der Lage sein, Gebäude derart schlecht zu simulieren."

"Ich könnte an der Tonalität der Farben arbeiten."

"Nein, bloß nicht, lass es wie es ist!" Preston schnappte Yuri den Stick aus der Hand."Hast du das cortico-kognitive Headset benutzt?"

"Was?"

"Dieses neurale gehirnlesende Bewusstseinsding?"

"Ach das. Es ist lustig, aber ich habe es nicht mal eingestöpselt", sagte Yuri.

"Dieses Instant-Hirnlesegerät war angeblich extrem 'nützlich und konfortabel'."

Yuri zuckte mit den Schultern. "Du steigst nie ein zweites Mal in denselben Fluss."

Ein Fremder schaute in Roebels Büro und kam dann herein. Er war jung, trug einen eleganten Maßanzug und hielt einen ausgefallenen Handkoffer.

"Was haben wir hier?" fragte er.

"Sie sind im Designbüro des Alten", informierte ihn Preston. "Yuri Lozano: Mark Quintaine. Mark ist Anwalt."

Quintaine hatte einen eleganten Haarschnitt, gewandtes Auftreten und einen leicht exzentrischen Businessanzug. Man hätte ihn für schwul halten können, aber das lag bloß an seiner für San Francisco typischen regionalen Note. Der Typ war einfach nur ein Immobilienanwalt. Yuri hatte schon so viele davon getroffen, dass er sie am Geruch erkannte.

Gesetz und Code sind zwei verschwisterte Verfahren. Das eine ist logisch und human und drastisch und das Rückgrat der Zivilisation. Das andere ist verrückt und wirr und korrupt und voller Schlupflöcher. Und niemand kann die beiden auseinanderhalten.

Quintaines Nasenflügel bebten, als er sich in dem Büro umschaute. Da waren Löcher in den Rigipswänden, und keiner hatte die Jalousien abgestaubt. Er deutete mit dem Daumen über die nadelgestreifte Schulter. "Musste er die Stromkabel genau über dem Türrahmen verlegen? Das ist nicht besonders Feng Shui."

Preston war schnell gekränkt. "Ich hätte nicht gedacht, dass die Church of Computer-Human Symbiosis so auf Feng Shui versessen ist."

"Ich spreche nie schlecht über meine Klienten", sagte Quintaine, "aber nach den gut 50 Jahren, die diese Freaks tief in Game-Milieus zugebracht haben, ist chinesisch angeordnetes Design ihre geringstes Problem."

Das war eine reizvolle Bemerkung. Obwohl der Mann Anwalt war, nahm er Yuri für sich ein.

"Ich nehme an, Sie sind kein Mitglied der Kirche."

"Meine Eltern waren Mitglieder dieser Kirche ", sagte Quintaine. "Sie haben mich in jeden Tempel geschleppt, der je von dem Maestro hier gebaut worden ist. ... allesamt geniale Werke. Wenn du aber genug Zeit in Gegenwart eines nahezu übernatürlichen Talents verbringst, kann's etwas eintönig werden." Er hatte getrunken. "Ich bin sicher, die Welt kann trotzdem noch ein Francois Roebel-Meisterwerk vertragen." Quintaine stierte auf den Bildschirm der Workstation. "Gott im Himmel! Was hat er getan?"

"Das ist kein Francois Roebel-Meisterwerk", sagte Yuri.

"Ja, das sehe ich, aber was ist dieses Ding? Es sieht aus wie eine Million Riesenameisen, die Notre Dame verspeisen."

"Das ist nur so 'ne Kleinigkeit, die ich gerade zusammengestoppelt habe."

"Sie sind Architekt?"

"Früher mal. Ja."

Quintaine hob die Augenbraue. "Früher?"

"Ich bezeichne mich nicht so. Nicht mehr."

Diese Bemerkung traf Quintaine hart. "Ich bezeichnete mich früher als Anwalt." Er ließ sich in den Bürostuhl fallen und starrte auf den betriebsamen Bildschirm. "Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich merkte: Ich praktiziere nicht als Anwalt. Ich bin ein Ausbesserer. Ich praktiziere in allen möglichen Bereichen: Stadtpolitik. Grundstücksankäufe. Instandshaltungsmanagement. Das Wachstum von Beteiligungsfonds. Zeitweiliges Unter-den-Teppich-Kehren von Problemen. Ich werde für all diese Dinge gebraucht."

"Für mich hört sich das nach Anwaltstätigkeit an", sagte Yuri.

Quintaine schaute auf. "Aber ich habe keine menschlichen Klienten."

"Tatsächlich?"

"Ja, wirklich. Mein einziger richtiger Klient ist eine riesige Geldsumme. Und so wie diese Vermögensverwaltung struklturiert war ... es war alles so komplex und restiktiv, dass alle davongelaufen sind. Sogar die Freaks, denen das Vermögen eigentlich gehört, sind in eine Phantasiewelt entflohen. Dieser Reichtum ist wie eine riesige, schwarze Bowlingkugel, die das Silicon Valley rauf und runterrollt. Könnt ihr Typen euch an dieses Wort erinnern – 'Silicon'?"

"Ich liebte Silikon."

"Oh ja, ich auch", sagte Preston mit Inbrunst. "Silikon machte mal ein Viertel der Erdoberfläche aus!"

"Deshalb hatte ich mir überlegt," fuhr Quintaine fort, "wir könnten Francois Roebel den Auftrag geben und ihm diesen 'Permanenten Baufonds" aufdrücken. Roebel ist bekannt dafür, dass er nie ein Gebäude termingerecht oder budgetkonform fertigstellt. Wenn Sie sich anschauen, wie dieser Baufonds strukturiert war – also wir sind viel besser dran mit fantastischen, unmöglichen, nie realisierten Bauten. In unserer heutigen nachhaltigen Wirtschaft sind es die Gesamtkosten des Anteilsbesitzes und die Recyclingkosten, die uns umbringen."

"Das ist außerordentlich interessant", sagte Yuri. "So hat es mir noch kein Anwalt dargestellt."

"Das Kalifornische Staatsrecht steht immer an der Spitze der globalen und nationalen Kennkurven."

"Das stimmt allerdings."

"Wo Sie nun mit diesem aufregenden Vorschlag kommen," Quintaine wies auf die Workstation, "kommt mir ein Geistesblitz. Soweit ich das sehe, ist dieser Plan hier ja nicht mal ein 'Gebäude'. So wie die Struktur sich in dieser Schleife entwickelt – es ist ein ständiger Prozess von Konstruktion und Demontage. Es gibt keine endgültigen Status, an dem jemand das Ganze abnehmen und den Anteilsbesitz übernehmen könnte. Also ist es auch, im rechtlichen Sinne, gar kein Gebäude. Es ist ein Prozess. Es ist ein Prozess in ständiger Interoperation."

"Mr. Quintaine, Sie müssen ein verdammt guter Anwalt sein."

Quintaine streckte sich in seinem Stuhl. "Tatsächlich bezeichnet sich meine Kanzlei nicht mehr als 'Anwaltskanzlei'. Wir haben uns zu einer Reihe anderer Kanzleien hin orientiert, die ... nun ... wesentlich zeitgemäßer sind."

Yuri guckte zu Preston hinüber. Mit einer Bewegung, fast zu subtil für das bloße Auge, strich sich Preston über die Lippen. "Hast du erstmal die Kontrolle über den Gang der Ereignisse verloren," sagte Yuri dem Spiegel, "ist es deine Pflicht zu hoffen und zu planen für glückliche Fügungen."

"Hör auf so viel zu granteln und zu jammern", entgegnete Gretchen. Sie richtete seine Fliege zum dritten Mal. "Du solltest versuchen, deinen großen Abend zu genießen."

"Ich übe immer noch meine große Rede." Yuri hatte die Rede des Kritikers bereits sechs Mal gelesen. Preston Mengies war in Anbetracht der aufregenden Kontroverse, um die es ging, wieder zu seiner Topform zurückgekehrt. "Liebling, diese Rede ist ein Knaller! Sie ist gespickt mit rohem Fleisch für die Interoperation-Fans. Es ist mir peinlich, so einen Schwall vorzutragen. Kann ich denn damit durchkommen?"

"Es ist kein Schwall, Liebling. Sie geben dir einen bedeutenden Preis und du gibst ihnen eine bedeutende Rede. Du musst irgendwie angemessenes Format an den Tag legen. Du kannst nicht sagen, du hättest Kekse aus der Blechedose geklaut."

Gretchen trug ein lohfarbenes Abendkleid aus Taft. Sie war frisiert, ihr Gesicht war festlich geschminkt, und sie sah auf eine aggressive Art prachtvoll aus. Diese glamoröse Erscheinung, die an ihm herumzupfte und ihn hetzte und auf die Bühne zerrte: das war nicht die echte Gretchen Lozano. Gretchen wirkte gespannt, steif und angespannt, und sehr engagiert.

Glücklich war Gretchen während der sommerlichen Campingausflüge im Norden Michigans. Ein Campingtrip mit Yuri, seinen zwei Brüdern und seinen zwei Söhnen: fünf johlende, ungestüme, schmutzige Männer, für die sie ständig rohen Fisch ausnehmen und zubereiten musste. Das machte Gretchen glücklich. Es brauchte so eine urzeitliche Situation, um sie von ihrem belasteten, komplizierten Erbe zu befreien. In der Wildnis vergaß Gretchen ihre Traumata; stattdessen nahm sie sich fröhlich des täglichen Drecks an, des Rauchs, des Schmutzes, der Schrammen, der Blasen und der Insektenstiche. In dieser triefenden grünen Wildnis voller Wölfe, Kanadier und Karibus aß Gretchen wie ein Pferd, lief wie ein Hirsch und machte Liebe wie eine Wildkatze.

Er wusste also, dass Gretchen glücklich sein konnte. Und er wusste, wie er sie glücklich machen konnte. Und das war schon sehr viel.

Die andere Gretchen Lozano, die Frau an seiner Seite für heute abend, war die berechnende Frau eines angeblichen Genies. Yuris neues Bauwerk war berühmt. Es war ein permanent instabiler Turm aus Plastik-Einschüben, ganz aus Hanf, Leim und Flugasche. Und jede Nacht baute es sich selbst neu. Dieses radikal instabile, hochgradig interaktive, sich ständig wandelnde Phänomen wurde ironisch 'Das Monument' genannt. Es zog den Hype an wie ein Klecks Honig die Fliegen.

Der Riesenerfolg des Projektes hatte aus der Bauunternehmersgattin Gretchen Lozano die elegante High-Society-Gemahlin eines Netzwerkdesign-Superstars gemacht. Gretchen wusste, wie das zu managen war. Es war dies eine Qualität, die immer in ihr geschlummert und darauf gewartet hatte, ans Tageslicht gerufen zu werden. In ihrem Outfit sah Gretchen so glattglänzend aus wie ein Laser-Konstruktionswerkzeug. Sie sah aus, als könnte sie man sie nehmen und mit ihrer Nase eine Glasscheibe ritzen.

"Preston weiß, dass alles bloß ein glücklicher Zufall war", sagte Yuri. "Preston ist ein schlauer Bursche. Er war da, als ich es gemacht habe. Er weiß, dass ich es nicht bewusst gemacht habe."

"Na sicher, es war alles ein glücklicher Zufall, Maestro. Du bist ein einziger großer Schwindel, genauso wie die zahllosen Nachahmer, die dich jetzt imitieren." Gretchen atmete in ihr Décolleté hinein. "Die Leute wollen nicht mehr in 'Gebäuden' leben, Yuri. Die Leute wollen in Konstruktionsprogrammen leben. Die Leute sind bereit, Höchstpreise zu zahlen, um so zu leben wie moderne Menschen tatsächlich leben. Das ist kein Zufall. Wir sind reich und du bist berühmt. Verstehst du? Nur ein kompletter Einfaltspinsel würde das nicht verstehen. Und wenn du zu faul und neurotisch bist, deinem Potential gerecht zu werden, dann werde ich dich verprügeln. Ich werde dich mit einem Stock auf den Kopf schlagen."

Noch nie hatte Gretchen so mit ihm gesprochen – nie bevor ihr Vater starb. Erst sein Tod hatte sein Echo in ihr befreit.

Tommy klopfte an der Tür und schlenderte in ihr Schlafzimmer. Tommy war jetzt 15 und aufgeschossen wie Unkraut, aber in seinem dunklen Maßanzug wirkte er wie eine Wetterhäuschenfigur. "Was steht ihr zwei immer noch hier herum? Können wir los? – Ich bin am Verhungern."

Yuri wollte ihn verschonen. "Willst du wirklich mitgehen und dir so eine langweilige Preisverleihung antun, Tommy? Du könntest hierbleiben und mit deinem kleinen Bruder Monster killen."

"Doch, ich muss zu dem Bankett", meinte Tommy mit einem Achselzucken. "Dein Gebäude ist toll und alle anderen Gebäude sind Scheiße, Papa."

"So einfach ist das?"

"Yeah – mein Vater kann coole Gebäude bauen, die kein Schrott sind."

"Wir kommen gleich, Tommy" sagte Gretchen. Ihre Absätze klickten und sie nahm ihren Umhang. "Du kannst in der Limo einen Snack bekommen."

Tommy ging. Gretchen schaute ihm nach, dann drückte sie einen kussechten Kuss auf Yuris Wange. "'Manche Männer werden groß geboren, anderen wird Größe aufgezwungen.' Wenn auf einer Party fünf Freunde sagen, du seist betrunken, dann bist du betrunken. Du solltest dich dann besser hinlegen. Wenn aber fünf Millionen Menschen sagen, dass du ein Genie bist, dann solltest du Genialität anstreben. Du bist kein Trinker, Liebling. Du hättest einer sein können, aber das war nicht deine Bestimmung. Du wirst groß sein."

"Ist das dein letztes Wort zum Thema?"

"Okay, noch eins vielleicht. Ich wusst immer, dass du das Zeug zu sowas hast. Ich habe bloß gehofft, dass sich das Chaos in Grenzen hält, wenn alles rauskommt." (bsc)