"Wir haben die Abfälle ohnehin am Hals"

Michael Sailer, Mitgründer des Darmstädter Öko-Instituts, ist seit Juni Vorsitzender der Entsorgungskommission, die das Bundesumweltministerium wissenschaftlich berät. Im TR-Interview spricht Sailer über das Dilemma atomarer Endlagerung.

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Michael Sailer, Mitbegründer des Darmstädter Öko-Instituts, ist ein gefragter Kerntechnik-Experte. Von 2002 bis 2006 war Sailer, der ursprünglich Technische Chemie studiert hatte, Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission des Bundesumweltministeriums – seit Juni leitet Sailer die Entsorgungskommission, die die Bundesregierung in "Angelegenheiten der nuklearen Entsorgung" berät. Im TR-Interview spricht Sailer über seine Skepsis gegenüber der Atomkraft und das Dilemma der atomaren Endlagerung.

Technology Review: Herr Sailer, würden Sie sich als Atomkraftgegner bezeichnen?

Michael Sailer: Also, ich bin bei vielen Aspekten der Atomenergie ziemlich skeptisch. Aus meiner Sicht braucht man die Atomstromerzeugung auch nicht. Aber es gibt sie nun mal, und deswegen muss man sich inhaltlich damit auseinandersetzen. Die Entsorgung hat aus meiner Sicht nichts mit Pro oder Kontra zu tun, weil wir die Abfälle ohnehin am Hals haben.

TR: Ist es nicht trotzdem für Sie manchmal ein seltsamer Gedanke, über die gesicherte Entsorgung auch zum gesicherten Betrieb von Atomkraftwerken beizutragen?

Sailer: Für mich war die Entsorgung nie ein zentrales Argument gegen die Atomenergie. Meine Bedenken sind wesentlich andere: Wir haben nach wie vor keine sicheren Atomkraftwerke. Das sage ich aus einer sehr intimen Kenntnis sowohl nationaler als auch internationaler Reaktorsicherheitsgremien. Es wird auch in Zukunft schwere AKW-Unfälle geben – die Frage ist nur wann und wo, nicht ob.

TR: Was macht Sie sicher, dass die AKWs nicht sicher sind?

Sailer: Die bestehenden AKW haben alle eine so hohe Leistungsdichte, dass ein Ausfall der Kühlung prinzipiell zu einer Kernschmelze führt. Der bisherige Betrieb zeigt, dass immer wieder Fehler passieren. Wir haben in den letzten 20 Jahren zwei Dinge gelernt: Das eine ist, dass man immer neue Fehlermodes findet. Deshalb kann man nicht sagen, wir betreiben jetzt seit 30 Jahren dieselben Reaktoren und kennen daher alle möglichen Fehler, die auftreten können. Offensichtlich haben wir nach wie vor keine klare, vollständige Kenntnis über die Wege, auf denen Unfälle geschehen können. Und das zweite ist, dass der Erfahrungsrückfluss nicht wirklich funktioniert. Der Störfall in Forsmark vor zwei Jahren war ein gutes Beispiel dafür. Es gab davor in ähnlichen Kernkraftwerken ähnliche Vorfälle. Wenn der internationale Erfahrungsaustausch so funktionieren würde, wie er immer als Ideal dargestellt wird, hätte man in Forsmark den Fehler früher gefunden.

TR: Woran liegt es, dass das nicht funktioniert?

Sailer: Das hängt mit Organisationsstrukturen zusammen. Wir haben in der atomtechnischen Sicherheit ganz lange übersehen, dass nicht nur viel am menschlichen Verhalten hängt, sondern auch viel am Verhalten von Organisationen. Internationale Meldungen laufen beispielsweise nur über sehr zentrale Stellen. Da hat der Abteilungsleiter Elektrotechnik in Forsmark praktisch keinen Zugriff darauf. Wenn Sie anfangen, sich die Informations- und Entscheidungsketten aufzumalen, verstehen Sie sofort, dass das nicht funktionieren kann.

TR: Auch das Thema Atommüll-Endlager erlebt die Öffentlichkeit ja oft als Streit unter Experten. Die einen weisen nach, dass es sicher geht. Die anderen weisen nach, dass es sicher nicht geht. Das hinterlässt den Laien meist recht ratlos. Wie kann man die Sicherheit von Endlagern wissenschaftlich objektiv beurteilen? Und unter welchen Annahmen?

Sailer: Das ist eine sehr berechtigte Frage. Wir haben uns in der Fachszene in den letzten zehn Jahren sehr viel über theoretische Fragen unterhalten. Und was von praktisch allen Fachleuten getragen wird, ist: Wir müssen in Deutschland ein Endlager einrichten, dessen wesentliche Langzeitbarriere die Geologie ist. Es gibt keinen von uns, der einer technischen Einrichtung über Hunderttausende von Jahren hinweg traut. Das ist eine ziemlich wichtige Entscheidung.

Wenn ich festlege, die Geologie ist die wesentliche Barriere, dann folgt daraus: Ich muss eine geologische Einheit finden, bei der für eine Million Jahre die wesentlichen sicherheitsrelevanten Eigenschaften – zum Beispiel die Dichtheit – gegeben sind. Das ist in der Geologie leichter als in jedem anderen Fach. Eine Million Jahre ist in Deutschland Stand von Wissenschaft und Technik.

TR: Bisher galten doch noch 10.000 Jahre?

Sailer: Nein. Die Reaktorsicherheitskommission hat mehrfach erklärt, dass das nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Deswegen wird jeder, der gegen eine Genehmigung auf der Basis von 10.000 Jahren Sicherheitsnachweis vor Gericht geht, höchstwahrscheinlich gewinnen.

TR: Auf was für einer Annahme beruht dieser Zeitraum von einer Million Jahren?

Sailer: Das hat mehrere Gründe. Für eine Million Jahre lässt sich geologisch noch eine ganz gute Voraussage machen. Für 50 Millionen Jahre geht das nicht mehr. Zudem sind nach einer Million Jahre viele der Stoffe in einem Endlager zerfallen. Eigentlich sind dann nur noch die spannend, die eine Halbwertszeit von 100.000 Jahren und mehr haben. Da gibt es einige, die bleiben spannend – die darf man nicht unter den Tisch fallen lassen. Aber man hat nach einer Million Jahren wesentlich weniger Probleme. Und man kann eine gewisse Hoffnung haben, dass ein Endlager, das eine Million Jahre dicht geblieben ist, auch zwei oder drei Millionen Jahre halten wird. Aber weiter kann man nicht mehr mit einem einigermaßen wissenschaftlichen Anspruch sagen, wohin sich das entwickelt. Deswegen hat die Entsorgungskommission dem BMU auch erklärt, dass die Frist von zehn Millionen Jahren, die im BMU-Entwurf für Endlager-Sicherheitsanforderungen steht, nicht sinnvoll ist.

TR: Wie funktioniert so ein Nachweis?

Sailer: Wir haben hauptsächlich im AK-End das Konzept des "einschlusswirksamen Gebirgsbereichs" entwickelt. Das ist die Zone, in der sich das Endlagerbergwerk befindet, einschließlich einiger dutzend Meter umgebender Gesteinsschicht nach allen Seiten. Dann muss der Nachweis geführt werden, dass die eingelagerten radioaktiven Stoffe sich in einer Million Jahre nicht bis an die Außengrenze des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs bewegen können, auch wenn die Abfallfässer im Laufe der Zeit zerfallen. Ein solcher Nachweis kann für geeignete Stellen im Steinsalz oder im Tonstein geführt werden – im Granit ist das nicht möglich.

TR: Das heißt, das in Finnland im Bau befindliche Endlager wäre in Deutschland nicht genehmigt worden?

Sailer: Ja, das ist so. Es gibt in Deutschland eine sehr vielfältige Geologie – wir haben hier fast alles und können aussuchen, was wir brauchen. Die Schweden und die Finnen haben halt nur Granit und müssen schauen, wie sie damit klarkommen.

Das Konzept des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs umfasst eigentlich zwei Nachweise: Ich habe den einschlusswirksamen Bereich und muss nachweisen, dass in einer Million Jahre nichts von den gelagerten Abfällen bis an die Aussengrenze gelangt. Dafür muss man Transportrechnungen durchführen. Und es muss nachgewiesen werden, dass der einschlusswirksame Gebirgsbereich auch die Million Jahre funktionsfähig übersteht. Als Beispiel: Bei einem Salzstock ist der einschlusswirksame Gebirgsbereich nicht der gesamte Salzstock, sondern nur ein bestimmtes darin enthaltenes Volumen. Ein Salzstock wird über Jahrmillionen immer abgetragen – vor allem durch Erosion und Subrosion. Deshalb muss ich zeigen, dass alle bekannten geologischen und hydrologischen Phänomene nicht bis zum einschlusswirksamen Gebirgsbereich abtragen. In der Praxis ist der Nachweis natürlich etwas komplexer, aber dies sind die beiden tragenden Elemente.

TR: Zurück zu Deutschland: Setzen die neuen Sicherheitskriterien die Standortsuche in Deutschland wieder völlig auf null?

Sailer: Das hat damit gar nichts zu tun. Die Standortsuche ist eine politische Frage. Die Sicherheitskriterien dagegen sind erst mal eine Aussage darüber, welche Kriterien ein vernünftiges geologisches Endlager erfüllen muss.

Egal, was politisch entschieden wird – die CDU will ja ausschließlich Gorleben weiterverfolgen; Bundesumweltminister Gabriel schlägt vor, Gorleben mit zwei oder drei anderen Standorten zu vergleichen und dann festzustellen, ob sich einer gegenüber Gorleben aufdrängt – muss man in jedem Fall den oder die Standorte an Sicherheitskriterien messen. Die Erwartung in der Fachwelt ist schon, dass wir mehrere Standorte im Steinsalz und im Tonstein haben, die über der Mindestlatte liegen.

TR: Wo könnten solche Gebiete sein?

Sailer: Bezieht man sich auf die Arbeiten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe werden im Wesentlichen Gebiete in Norddeutschland und einige wenige in Baden Württemberg in Frage kommen.

TR: Wie geht das Verfahren weiter? Der Entwurf soll ja Ende Oktober auf einer Tagung diskutiert werden?

Sailer: Das BMU als zuständiges Ministerium will die Sicherheitsanforderungen – unter Berücksichtigung der laufenden Diskussionen – fertigstellen und dann amtlich veröffentlichen. Das hat dann eine Rechtsqualität, die etwa vergleichbar ist mit technischen Normen, aber weniger verbindlich ist als eine Verordnung.

TR: Im Entwurf der Bundesregierung habe ich auch gelesen, dass auch sichergestellt werden muss, dass der Müll nicht durch menschliche Einwirkung wieder nach oben befördert werden darf, auch wenn das Wissen darum, dass dort Atommüll ist, verlorengeht. Wäre das nicht ein Killerkriterium für Salz, das ja wirtschaftlich interessant ist – und demzufolge auch irgendwann wieder abgebaut werden könnte?

Sailer: Nein. Die Passage ist angeblich auch nicht so gemeint – haben mir jedenfalls die Autoren vor Kurzem so gesagt. Die Auffassung der Reaktorsicherheitskommission und der Strahlenschutzkommission – und auch der neuen Entsorgungskommission – ist die, dass man menschliches Eindringen nicht grundsätzlich verhindern kann. Ich kann aber mit dem Argument, da könne es menschliches Eindringen geben, weltweit jedes Endlagerprojekt stoppen. Das menschliche Eindringen kann aber auch bei jeder anderen Lagerform für radioaktive Abfälle nicht ausgeschlossen werden.

TR: Und dann wäre da noch die Forderung nach Rückholbarkeit, die in letzter Zeit aufgetaucht ist. Was halten Sie davon?

Sailer: Sie ist nicht sehr sinnvoll.

TR: Und warum?

Sailer: Stark vereinfacht gesagt: Rückholbarkeit heißt immer, ich muss den Weg zu den Abfällen auflassen oder zumindest weniger gut verschließen. Ich habe vorhin einiges zum einschlusswirksamen Gebirgsbereich gesagt. Aber ich muss berücksichtigen: Zur Einrichtung des Endlagerbergwerks habe ich einige Löcher in diesen Bereich gebohrt – zumindest zwei Schächte. Und diese muss ich in einer Qualität verschließen, die auch den Mindestanforderungen an den einschlusswirksamen Gebirgsbereich entspricht. Das funktioniert eigentlich nur, wenn ich sehr sorgfältig verschließe. Das heißt, wenn 2093 der letzte Behälter mit Abfällen eingebracht wurde, dann werden in den Jahren 2095 bis 2115 das Endlagerbergwerk und die Schächte ordentlich verschlossen. Rückholbarkeit darf da kein Kriterium sein, weil es zur Verschlechterung der Sicherheitslage führt, denn die Rückholbarkeit schließt einen ordentlichen Verschluss aus.

TR: Warum steht dann die Forderung nach Rückholbarkeit im Entwurf der Bundesregierung?

Sailer: Weil die Kollegen, die das so formuliert haben, das Problem nicht so durchdacht haben.

TR: Die haben das ja aber wohl nicht aus Jux und Dollerei da reingeschrieben. Ich habe den Verdacht, dass diese Forderung die Option für eine Wiederaufarbeitung der Brennstäbe offenhalten soll. Halten Sie das für denkbar?

Sailer: Das ist ein Grund, der bei harten Befürwortern dieser Position angeführt wird. Falls die Menschheit in 500 Jahren beschließen sollte, sie braucht das Material aus den abgebrannten Brennelementen, wäre es ohnehin schlauer, nicht in ein altes, vergammeltes Bergwerk reinzugehen, sondern daneben ein neues Bergwerk aufzufahren – nach dem dann herrschenden Stand der Technik. Das heißt, man braucht die Rückholung eigentlich gar nicht, weil es eine bessere Alternative gibt.

Wenn ich fordere, das radioaktive Material eine Million Jahre aus der Biosphäre heraushalten, habe ich eigentlich gar keine Alternative zur Endlagerung. Zwischenlagerung funktioniert da nicht, und Rückholbarkeit ist nichts anderes als untertägige Zwischenlagerung.

TR: Es gibt ja nun Leute, die sagen, dass es viel sinnvoller wäre, international nach einem Endlagerstandort zu suchen. Was noch dazu viel wirtschaftlicher sein soll. Was halten sie davon?

Sailer: Das ist nicht zu realisieren.

TR: Wieso halten Sie das für unrealistisch?

Sailer: Das kann man nicht technokratisch angehen. Denn es ist auch eine politische Frage. Die Erfahrung sagt, dass man einer Bevölkerung vielleicht grade noch vermitteln kann, dass man Atommüll aus dem eigenen Land nimmt.

TR: Die Diskussion um einen Endlagerstandort läuft schon sehr lange. Wann, schätzen Sie, wird denn tatsächlich mal ein solches Endlager in Betrieb gehen?

Sailer: Wenn wir ein klares Prüfungsergebnis haben, dass ein Standort geeignet ist, werden wir sicherlich noch mal 15 bis 20 Jahre brauchen für das Genehmigungsverfahren und die Errichtung. Als Nächstes ist einfach eine klare politische Entscheidung darüber notwendig, nach welchem Verfahren festgestellt wird, ob ein Standort geeignet ist.

TR: Da gibt es aber schon lange eine politische Patt-Situation, oder?

Sailer: Ja. Und ich befürchte, dass die erst einmal weiterbesteht. Faktisch wird es an der nächsten Koalition nach der Bundestagswahl 2009 hängen, diese Entscheidung zu treffen. Für mich ist das Hauptproblem: Atommüll ist gefährlich, und ich kann ihn nicht beliebig lange an der Erdoberfläche lagern.

TR: Bis wann bräuchte man denn spätestens ein Endlager?

Sailer: Man sollte da möglichst bald ran. Denn in Europa gibt es eigentlich keine Gegend, in der in 200 Jahren Geschichte beliebiger Epochen keine Zerstörung von oberirdischen Zwischenlagern stattgefunden hätte – falls es sie damals schon gegeben hätte. Man kann froh sein, dass es in Bosnien kein Zwischenlager gegeben hat. Bosnien war vor 30 Jahren ein friedliches Land – und es war Teil eines Staates mit einem sehr ambitionierten Atomprogramm.

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