Online-Streitgespräch: Die Zukunft der digitalen Gesellschaft

Peter Glaser hat auf der diesjährigen re:publica in Berlin die Frage gestellt: "In was für einer digitalen Gesellschaft wollen wir leben?"

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Der Schriftsteller, Blogger Netzbürger und Ehren-Hacker Peter Glaser hat auf der diesjährigen re:publica in Berlin unter der Überschrift "In was für einer digitalen Gesellschaft wollen wir leben?" einen Vortrag gehalten. "Es geht darin um Grundfragen" schreibt er, "wie die digitale Technologie unsere Kultur verändert und unsere Zukunft formt. Es geht auch um den durch die Technologie forcierten Medienwandel und die Dinge, mit denen wir aktuell zu kämpfen haben. Und ich habe mir auch ein paar provokate Perspektiven erlaubt." Der Text des Vortrages, der hier nachfolgend dokumentiert wird, bildet die Grundlage für ein (hoffentlich) interessantes Experiment: Um die Debatte weiter anzufachen, habe ich (Wolfgang Stieler) an verschiedenen Stellen in kursiv gesetzte meine Anmerkungen und Gegenargumente eingefügt. Der Text ist gekürzt, um die meiner Meinung nach wesentlichen Punkte besser herauszuarbeiten. Im Forum ergibt sich hoffentlich eine rege Diskussion, so dass wir im Idealfall zu einer neuen, möglicherweise ganz anderen, kollektiven Antwort auf die Frage kommen: In was für einer digitalen Gesellschaft wollen wir leben?

VON GEORGE BERNARD SHAW gibt es zu der Frage ein Bild: "Wenn du einen Apfel hast und ich habe einen Apfel und wir tauschen die Äpfel, wird jeder von uns nach wie vor einen Apfel haben. Aber wenn du eine Idee hast und ich habe eine Idee und wir tauschen diese Ideen aus, dann wird jeder von uns zwei Ideen haben." Wer möchte nicht in einer solchen Gesellschaft leben, in der sich die Ressourcen so wunderbar vermehren und das Tauschen so gewinnbringend ist? Apfelbauern vielleicht, die ihre Äpfel verkaufen wollen.

Schönes Beispiel. Aber - auf die Gefahr grob zu vereinfachen und die Kreationisten gegen mich aufzubringen - muss ich hier leider einwenden: Ein zweiter, entscheidende Unterschied zwischen Äpfeln und Ideen ist der, dass Äpfel von alleine wachsen. Ideen nicht. Die brauchen so etwas wie Muße. Und das bedeutet, jemand anders muss Dinge für mich erledigen, die ich nicht erledige, während ich dasitze und nachdenke. Der Mechanismus an sich ist nicht neu und nennt sich gesellschaftliche Arbeitsteilung. Er wird aber meist übersehen.

Das Teilen mit technologischer Hilfe führt nicht nur zur Vermehrung von Ideen, sondern auch zur Vermehrung von Problemen. Computer helfen uns dabei, Dinge schneller zu erledigen, die wir ohne Computer gar nicht hätten erledigen müssen, das wusste Marshall McLuhan schon in den sechziger Jahren... Im übrigen ist die Vermehrung von Problemen nicht unbedingt ein Manko. Von Egon Friedell stammt der Satz "Kultur ist Reichtum an Problemen". Davon haben wir heute reichlich.

Die Wände, die uns umgeben, werden durch die neuen Kommunikationsmedien durchlässiger und poröser. Unsere Kultur wurzelt in dem hohen Wert, den wir dem Individuum zumessen. Privatsphäre ist der Humus, auf dem dieser Wert gedeiht. Angriffe auf diese Grundlage folgen inzwischen der selben Strategie, nach der auch moderne Kriege geführt werden: Nicht mehr die großen Heere gewinnen die Schlacht, sondern kleine Einheiten. Dieser Salamitaktik hin zu staatlicher Kontrolle begegnen immer mehr Menschen affirmativ. Unsere Gesellschaft scheint von einer unbändigen Lust an der Geheimnislosigkeit erfasst zu sein. Vor ein paar Jahren war Big Brother Synonym für totalitäre Kontrolle; mit den gleichnamigen Containershows hat sich das Ganze in unterhaltsame Sozialpornographie verwandelt - die Leistung der Teilnehmer besteht darin, alles zu zeigen.

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VOR EINIGER ZEIT beklagte der ehemalige Chefredakteur des Online-Magazins Salon.com, David Talbott, die Geistesmüllawinen im Netz. Mehr denn je sei Qualitätsjournalismus gefragt, “im Web 2.0 werden wir ja täglich mit Blogs und Gelaber überflutet - was wir deshalb brauchen, sind sauber recherchierte, glaubwürdige Informationen. ... Blogger haben die Medienwelt mit neuer demokratischer Energie bereichert, aber Blogs schreien nach professioneller redaktioneller Aufbereitung.”

Wir erleben gerade, wie Massenmedien sich in Medienmassen verwandeln. Talbot hat noch nicht gesehen, dass es sich beim vormals Leser, nunmehr Blogger inzwischen um einen bedeutenden Mitspieler und potenziellen Mitkämpfer handelt.

Wer kämpft da gegen wen? Der Journalist und der Blogger Schulter an Schulter gegen das Establishment – wer immer das jetzt sein mag? Alle zusammen gegen die Dummheit in der Welt?

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In den neunziger Jahren verlief die Front noch entlang der klassischen Aufteilung von Botschaften - Journalismus war für die schlechten Nachrichten aus der Realität zuständig, die Werbung für die guten Nachrichten aus den Konsumparadiesen. 1994, als das Netz gerade erst ein paar Monate durch die Öffentlichkeit geisterte, beklagte das US-Fachblatt Advertising Age in einem Editorial den Einfluß, den Werbetreibende auf Redakteure erlangt haben. Eine Umfrage bei 150 amerikanischen Tageszeitungen ergab, dass 89 Prozent der Redakteure davon berichteten, Werbekunden hätten Anzeigen zurückgezogen oder versucht, die Berichterstattung zu beeinflussen. 37 Prozent sagten, die Werbekunden hätten obsiegt. Könnte sich die weitgehend werbefreie Blogosphäre nicht als Refugium erweisen, das die Berichterstattung vor solchen Formen von Korruption bewahrt?

Ok ok, die Frage von oben war verfrüht. Hier steht es ja nun: Blogger und Redakteure gemeinsam gegen den Einfluss der Wirtschaft auf den Journalismus. Ein schöner Wunsch, ein frommer Wunsch. Gibt es nicht mittlerweile auch werbefinanzierte Blogs? Müssen nicht auch Blogger mit irgendwas ihre Brötchen bezahlen? Und wissen wir nicht eigentlich schon seit Jahrzehnten, dass der redaktionelle Teil von Zeitungen und Zeitschriften auf der Rückseite von Anzeigenseiten gedruckt wird?

Ich jedenfalls kann diese viel gerühmte Unabhängigkeit nicht erkennen. Ganz im Gegenteil: Bei einer traditionellen Zeitung kann ich die äußeren Einflüsse ja noch abschätzen. Aber wer sagt mir denn, von wem der Blogger von Nebenan bezahlt wird? Das Medium gaukelt eine Nähe, Vertrauenswürdigkeit und Authentizität vor, die es nie und nimmer verdient hat.

Die eigentliche Macht der Vernetzung liegt in der informatischen Kraft, die sie jedem von uns an die Hand gibt. Journalisten brauchen nichts von ihrer Expertise aufzugeben, aber sie müssen mehr und wesentlich offensiver ihre Ansprüche mit den Nutzern und neuen Mitgestaltern ihrer Arbeit teilen. Es wird weiterhin erstklassige Reporter und Autoren geben, die uns mit klaren Blicken auf die Welt versorgen. Die Zeit, in der Journalismus von einer begrenzten Berufsgruppe ausgeübt wurde, geht jedoch zu Ende. In der Internet-Ära sind wir alle dazu verdammt, Journalisten zu sein.

"Dazu verdammt" ist gut. Das werde ich bei nächster Gelegenheit meinem Chef erklären.

Aber mal im Ernst: Ich habe, weil es mein Job ist, die Möglichkeit, den ganzen Tag Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, mich durch Berge von Presseerklärungen zu wühlen und wildfremde Menschen mit meiner Neugier zu belästigen. Ich brauche in dieser Zeit nichts anderes zu machen, weil ich dafür Geld kriege. Manche Kollegen kriegen dafür eigentlich nicht genug Geld, aber das ist mal ein anderes Problem, das an anderer Stelle diskutiert werden sollte. Andere Leute haben diese Möglichkeit nicht, weil sie zum Beispiel einen nicht unerheblichen Teil des Tages damit verdaddeln Autos zusammen zu schrauben – oder virtuelles Geld von A nach B zu verschieben.

Die Möglichkeit Journalist zu sein, also unter Bedingungen zu leben und zu arbeiten, unter denen das auch objektiv möglich ist, sollte man jedoch nicht verwechseln mit Medienkompetenz. Wenn das gemeint ist, stimme ich hundertprozentig zu – die Fähigkeit Texte kritisch zu lesen, sollte unbedingt gefördert werden. Dazu ist das Internet, und sind Blogs aber nicht der geeignete Ort. In der Regel lesen die Leute online ja höchstens die Überschrift und der ersten Absatz eines Textes. Und schon fangen sie an zu kommentieren.

Wichtige Fragen wie "wer hat was wann warum gesagt und/oder getan, fallen da gerne mal hinten runter. Auch die Frage nach der Quelle einer Nachricht, oder die Einbeziehung der Gegenseite bei kontroversen Geschichten. Das Netz verleitet dazu, Nachrichten zu remixen, aus fünf Agenturmeldungen einen eigenen Text zu machen. Manchmal ergibt sich daraus tatsächlich ein neues Bild auf die Gegenwart, manchmal eine neue Kunstform, aber oft trägt es nur zur allgemeinen Verwirrung bei.

Im übrigen liegt das Geheimnis guter Kommunikation unverändert darin, dass man etwas zu sagen hat, und wie man es sagt. ENDE MÄRZ HAT DIE Tageszeitung Chicago Sun-Times Insolvenz angemeldet. Die große Konkurrenz, die Chicago Tribune, ist schon etwas länger insolvent. Medienwandel – die Chicago Tribune ist allerdings von einem Immobilienspekulanten gegen die Wand gefahren worden.

Wenn wir der Frage nachgehen, in welcher digitalen Gesellschaft wir leben wollen, dürfen wir nicht den Fehler machen und die Symptome des Übergangs mit der gesellschaftlichen Perspektive verwechseln. Manche haben das Gefühl, nicht mithalten zu können mit den Beschleunigungen der digitalen Welt. Aber wir befinden uns in einem Übergang und die Beschleunigung gehört zu den Symptomen dieses Übergangs. Was wir erleben, ähnelt einem flimmernden Bildschirm, der so lange nervt, bis die Bildfrequenz über 72 Hertz steigt. Dann wird das Bild ruhig und klar. Beschleunigt man weiter, wird das Bild nur noch ruhiger und klarer. Die Frage, wohin die Reise geht - oder wohin ich mir wünschen würde, dass sie geht - möchte ich mit einem kleinen Schlenker 5000 Jahre in die Vergangenheit beantworten... Vor 5000 Jahren, zu der Zeit, als die Pyramiden gebaut worden sind, haben die Ägypter zwei Dinge erfunden, die wir heute noch haben: den Staat und die Maschine. Der Staat ist als ein erstes Vernetzungsprojekt entstanden. Kleine Dorfgemeinschaften wurden dadurch in die Lage versetzt, Bewässerungsnetze zu betreiben, die sie alleine nicht zustande gebracht hätten. (Blöderweise ist mit dem Staat auch gleich die Steuer mit erfunden worden.)

Durch diese neuen Netze ließ sich nicht mehr nur ein Überschuss an Getreide erwirtschaften, sondern auch ein Überschuss an Zeit. Also begannen die Ägypter, Silos zu bauen, in denen man Zeit speichern kann – die Pyramiden. Diese Bauwerke wurden mit einer Maschine errichtet, die aus tausenden von Menschen bestand. Über einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum von 150 Jahren produzierte diese erste Maschine 80 monumentale Pyramiden, fast wie am Fließband. Jede Pyramide war nur für einen einzigen Menschen gebaut, den Pharao, aber nach 150 Jahren hatten die Ägypter die Schnauze voll.

Es folgten ein paar Jahrzehnte Rebellion und Anarchie, dann begann eine neue Zeit und etwas sehr Erstaunliches war passiert. Nun hatte jeder das Recht, unsterblich werden zu dürfen, nicht mehr nur der Pharao. Die Unsterblichkeit war demokratisiert worden. Dieses Muster, das wir heute Demokratisierung nennen, hat sich in immer neuen Abwandlungen entfaltet, sei es, dass die Bibel gegen den Willen des Klerus für alle verständlich ins Deutsche übersetzt worden ist, sei es, dass die Aristokratie abgeschafft wurde. In der nordischen Mythologie flüstern Raben alles, was auf der Welt vorgeht, exklusiv dem Gott Wotan ins Ohr. Diese Raben wollen wir heute natürlich alle haben. Und immer hatten - und haben - diese Übergänge damit zu tun, dass Macht und Möglichkeiten und Wissen von ein paar Wenigen auf möglichst Viele verteilt werden und dass die Gesellschaft sich öffnet. Von diesem Muster wünsche ich mir, dass es sich weiter entfaltet.

Zu den neuen Regeln gehört, dass wir mehr Positionen zulassen müssen als bisher. Die Lage ist komplex. Der Schiedsrichter bei einem Fußballspiel ist ein Inbild der alten Zeit. Er ist mit seiner singulären Sicht auf dem Spielfeld in einer wesentlich schlechteren Position als jeder Zuschauer vor dem Bildschirm. Der Schiedsrichter ist sozusagen aussichtslos. Er betrachtet die Welt immer noch von seinem vereinzelten Standpunkt aus, der einen heute angesichts der elektronischen Multiperspektive hoffnungslos ins Hintertreffen geraten läßt. In kritischen Situationen auf dem Spielfeld muß der Schiedsrichter aus seiner subjektiven Position heraus entscheiden, obwohl ihn eine beunruhigende Medien-Objektivität umgibt: Der träge Zuschauer auf dem Sofa sieht im Lauf der nächsten Sekunden die Situation aus unterschiedlichen Kamerapositionen, in Zeitlupe wiederholt, vielleicht noch grafisch verstärkt, und kann sich ein - dem Fußball angemessenes - rundes, ganzheitliches Bild machen.

Schönes Bild, aber was bedeutet das dann? Das der Schiedsrichter überflüssig wird? Das Argument, dass die Welt immer schneller, bunter und unübersichtlicher wird, habe ich schon oft gehört. Bevorzugt von Leuten, die damit erklären wollen, warum sie sich nicht für oder gegen etwas entscheiden wollen. Bloß nicht anecken, nicht auffallen und – um Gottes willen – keine radikalen Positionen. Gut oder böse? Weiß oder schwarz? Das sind Fragen, die man doch eh nicht beantworten kann, oder? Ich denke schon. Man kann. Man muss sogar. Auch und gerade vor dem Hintergrund beschränkter Informationen.

Nun geht es um Fragen wie die, was eigentlich freie Meinungsäußerung bedeutet, wenn sie plötzlich tatsächlich stattfindet - nicht mehr nur handverlesen auf Leserbriefseiten oder in repräsentativen Debatten, an denen ein paar ausgewählte Talkgäste teilnehmen, sondern wenn plötzlich haufenweise und ungebremst drauflosgemeint wird. In Kommentarfächern und Foren wird etwas Neues erlebbar, etwas Schönes und Schauerliches, nämlich die unrasierten und ungewaschenen Formen von Meinungsäußerung.

Ich behaupte, es bedeutet gar nichts. Na sicher gibt es mittlerweile Software, die versucht aus Foren und Blogs herauszulesen, ob es in dieser oder jener Frage schlechte Stimmung gibt im Lande. Aber in der Regel spielt das (zumindest noch) keine Rolle. In Foren zu diskutieren ist Freizeitsport – bewegend aber harmlos.

Das Meinen ist wilder, vitaler und unkontrollierter geworden. Wirklich entsetzlich aber wäre die Vorstellung einer harmonischen Blogosphäre, in der alle nett zueinander sind und in Pilzhäuschen wohnen, umgeben von Hühnern, die aus Freundlichkeit tot umfallen, damit niemand ihnen den Hals umdrehen muß, wenn er eines mit Salat und Pommes essen möchte. Die klassische Paradiesvorstellung ist für mich ein Inbild der Langeweile. Wenn die Löwen traulich neben den Lämmern liegen, was soll sich da noch groß entwickeln? Und die Freude wollen wir Charles Darwin lassen: Evolvieren ist eine feine Sache, und das nicht nur biologisch, sondern natürlich auch sozial.

JETZT IST GERADE die Medienaristokratie in Bedrängnis - aber es geht nicht einfach um gut und böse. Die Lage ist wesentlich komplexer. So haben sich durch das Netz die Medien in etwas verwandelt, dem man nicht mehr einfach nur Informationen oder Unterhaltung entnimmt. Unsere Medien sind heute Lebensräume, in denen wir uns aufhalten, arbeiten, spielen und sozialisieren.

Auch das wünsche ich mir: In einer digitalen Welt zu leben, die komplex ist. Kultur bedeutet immer eine Zunahme an Unterschieden - eine Zunahme an Vielfalt und Optionen. Produktive Konkurrenz. "Small is beautiful" - dieser Begriff stammt von dem 1994 verstorbenen österreichischen Philosophen Leopold Kohr. Im September 1941 hat Kohr in der amerikanischen Zeitschrift “The Commonweal” einen bemerkenswerten Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel: “Einigung durch Teilung. Gegen nationalen Wahn, für ein Europa der Kantone”. Darin kommt er zu dem Schluß, dass Demokratie sich nur in kleinen Einheiten entfalten kann - “Das ist natürlich eine lächerliche Idee, orientiert allein an dem Menschen als einem lebendigen, geistigen Individuum. Welteinigungspläne dagegen sind todernste Vorhaben und auf einen Menschen zugeschnitten, den man sich nur als kollektives Wesen vorstellt.”

Professor Michael Braungart, den ich eigentlich ein kleines bisschen anstrengend finde, hat auf der CeBIT einen interessanten Vergleich gezogen: Nicht nur was die schiere Zahl angeht, sondern auch die Biomasse leben auf der Erde bedeutend mehr Ameisen als Menschen. Sie richten aber, was die Umwelt angeht, bedeutend weniger Schaden an. Möglicherweise haben also die Ameisen eine intelligentere Art der gesellschaftlichen Organisation erfunden. Was ich damit sagen will? Der Individualismus in seiner übersteigerten Erscheinungsform hat uns in diverser Hinsicht ganz gewaltig gegen die Wand gefahren. Was wir eigentlich brauchen ist nicht eine neue Form von Pluralität sondern von so etwas wie Gemeinsinn.

Eine solche Gesellschaftsform, genauer gesagt: solche Gesellschaftsformen, die wegen ihrer beabsichtigten Kleinteiligkeit naturgemäß etwas mühevoller zu betreiben sind, könnten auch ein Modell abgeben für ein anderes großes System, dessen Demokratisierung erst noch bevorsteht, nämlich Google. Allein die schiere Größe und Dominanz, die diese Firma in der digitalen Welt erreicht hat, läßt einen unwillkürlich nach Alternativen Ausschau halten. Ich möchte in einer digitalen Gesellschaft leben, in der nicht eine einzige Firma nach intransparenten Kriterien darüber bestimmen kann, ob und wo etwas in einer Trefferliste auftaucht und sich das zum Beispiel auf Wohl und Wehe einer Biografie oder einer wirtschaftlichen Existenz auswirkt.

Sollte man den wiedererstarkenden Staat nutzen und erst Michael Jackson verstaatlichen, der 100 Millionen Dollar Schulden hat und wenn er pleite geht vielleicht die gesamte verbliebene Musikindustrie mit in den Abgrund reißt – und dann verstaatlichen wir Google? Ein Alptraum. Nein, wir müssen anfangen darüber nachzudenken, wie man die vielen ausgezeichneten, kleinen Alternativen zu Google in einen offenen Verbund bekommen kann und wie man sich richtig Rechenleistung zusammenklauben kann, um mit einer Mischung aus Seti@home und dem Wikipedia-Prinzip eine nicht-börsennotierte Suchmaschinenwolke zu organisieren, die Google vermeidbar macht.

UND ICH WÜNSCHE MIR, in einer digitalen Gesellschaft zu leben, in der das Projekt der Aufklärung mit aller Kraft fortgeführt wird. Aufklärung ist die Quelle, aus der das frische Wissen kommt. Information wird die Welt retten, so lautete die Vision der neunziger Jahre, das Wissen der Menschheit liege vor uns im Zugriff. Wo stehen wir heute? Noch sind nicht ganz so viele Menschen wie im Mittelalter wieder davon überzeugt, dass sich die Sonne um die Erde dreht, aber es wird daran gearbeitet. Die Globalisierung der Dummheit macht erstaunliche Fortschritte. Begriffe wie “Lebenslanges Lernen” sagen uns, dass Wissen immer schneller von Entwertung bedroht ist. Natürlich ist nichts gegen einfachen Zugang zu Information einzuwenden. Aber allzu leichter Gewinn verdirbt die Freude am Spiel. William James sagte, wenn das einzige Ziel des Fußballspiels darin bestünde, den Ball ins Tor zu bringen, wäre die einfachste Art zu gewinnen, den Ball nachts heimlich dorthin zu tragen.

Ist es nicht wunderbar paradox, dass die "Globalisierung der Dummheit" ihre Triumphe im Zeitalter der Wikipedia feiert? Das zeigt meiner Meinung nach ganz wunderbar, wie zutreffend die Fußball-Metapher ist. Allzuviele Menschen, bevorzugt auch die Aktivisten der Wikipedia selbst, verwechseln Wissen mit dem Anhäufen von Fakten. Sie glauben, Dinge verstanden zu haben, weil sie Zahlen bis auf die 42. Nachkommastelle dokumentieren. Faktenhuberei macht dumm. Das gilt für Individuen genauso wie für Massen.

Vor einiger Zeit berichtete der britische “Guardian” von einem Mann, der seit 40 Jahren seine Nachbarschaft unterminiert. William Lyttle, den die Nachbarn den Maulwurfmann nennen, gräbt von seinem Haus im Londoner Stadtteil Hackney aus seit den späten sechziger Jahren Tunnel. Er vernetzt den Untergrund. Behördliche Messungen mit Ultraschallscannern gaben Hinweise auf bis zu acht Meter tiefe Tunnels, die von Lyttles Haus an die 20 Meter in alle Richtungen ausstrahlen. Ein Nachbar berichtet, dass der Strom auf einer Straßenseite ausgefallen war, als der Maulwurfmann einmal eine Starkstromleitung angegraben hatte. Lyttle behauptet, er habe sich ursprünglich einen Weinkeller graben wollen, der im Lauf der Zeit etwas größer geworden sei. Vor fünf Jahren war der Gehsteig vor dem Haus eingebrochen. “Man konnte die ganzen Tunnel darunter sehen”, sagt eine Nachbarin. Ein anderer Nachbar bringt zum Ausdruck, was Briten für Exzentriker empfinden: “Wir möchten nicht, dass diesem Mann etwas Böses geschieht. Er arbeitet hart. Bedauerlicher Weise setzt er seine Energien nicht in die richtige Richtung ein.” Das ist Gemeinschaftsgeist. In einer solchen vernetzten Gesellschaft möchte ich leben. (wst)