Glaube, Technik, Zukunft

Unser Schicksal hängt in existenzieller Weise von der Technik ab. Ist sie eine autonome Kraft in der Geschichte, die uns zuletzt die Erlösung bringt? Ein Essay von Richard Jones.

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Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Richard Jones
Inhaltsverzeichnis

Neue Technologien und Technik im Allgemeinen beherrschen mehr denn je den Diskurs über die Zukunft: Einerseits werden sie als unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Standortpolitik im globalen Wettbewerb propagiert, andererseits als Grundlage einer möglichen Dystopie von umfassender Kontrolle und Manipulation kritisiert. Gleichzeitig wird Technik meist als etwas Gegebenes, Sekundäres hingenommen, werden ihre Grundlagen und Entwicklungsspielräume selten ausreichend reflektiert.

In der TR-Essay-Reihe zur Technik untersucht der britische Physiker Richard Jones, der auch das Blog [i]Soft Machines betreibt, den heutigen Glauben an die Technik, die wirkliche Fragilität der modernen Zivilisation und den Fehler des Determinismus in hochtechnisierten Erlösungsphantasien.[/i]

Die Zeiten, in denen unsere Gesellschaft durch einen gemeinsamen Glauben zusammengehalten wurde, scheinen lange vorbei zu sein. Aber nur auf den ersten Blick. Tatsächlich teilen die meisten von uns inzwischen einen anderen Glauben: den an die Technik – daran, dass wir nächstes Jahr einen noch schnelleren Rechner kaufen können, eine Digitalkamera mit noch mehr Megapixeln oder einen MP3-Player, der noch mehr Musik fasst, und das alles zu einem immer niedrigeren Preis. Für einige ist diese Überzeugung Teil eines noch umfassenderen Glaubens an die Macht von Wissenschaft und Technik, uns ein besseres Leben und ein zusammenhängendes Weltbild zu bescheren.

Andere betrachten das differenzierter: Für sie sind die Ergebnisse der modernen Technoscience ein zweischneidiges Schwert. Deren Gadgets akzeptieren sie, die wissenschaftliche Weltanschauung lehnen sie hingegen ab. Wie wir es aber drehen und wenden: Die Lage, in der wir uns befinden, verdanken wir der Technik. Wir hängen in existenzieller Weise von ihr ab. Klar ist auch, dass unsere gegenwärtige Technik nicht nachhaltig ist. Dieses Dilemma müssen wir auflösen. Ob wir an den Fortschritt glauben oder nicht – so kann es nicht weitergehen.

Diese Argumente lassen sich nun anhand einiger neuer Technikgebiete fokussieren. Die Nanotechnik manipuliert Materie auf der Ebene der Atome und Moleküle und verspricht eine neue Qualität der Kontrolle über die stoffliche Welt. Die Biologie hat sich bereits von einer rein deskriptiven Disziplin wegentwickelt hin zu einem Projekt, das in die belebte Welt eingreift, ja sie sogar neu formt. Bislang beruhen die Errungenschaften der Biotechnik auf eher bescheidenen Veränderungen biologischer Systeme.

Die noch junge Disziplin der Synthetischen Biologie tritt dagegen mit dem Anspruch an, lebende Systeme für menschliche Zwecke komplett umzubauen, bis hin zur Schaffung ganz neuer Lebensformen. In großen Organismen wie Menschen wissen wir zunehmend die Komplexität der Kommunikationsprozesse zu schätzen, die innerhalb von und zwischen Zellen stattfinden. Denn genau dieses Verständnis des reichhaltigen „Soziallebens“ von Zellen wird die Entwicklung von Stammzelltherapien oder künstlichem Gewebe ermöglichen.

Die Informationstechnik fördert Nanotechnik und Synthetische Biologie und profitiert zugleich von ihnen: Zum einen ist es Rechnerleistung, die der Dekodierung des menschlichen Genoms und der Entwicklung etwa der Bioinformatik zugrunde liegt. Die wiederum stellen uns Werkzeuge zur Verfügung, um die Informationsbasis des Lebens zu verstehen. Zum anderen treiben Entwicklungen in der Nanotechnik den nicht nachlassenden Zuwachs an Rechnerleistung an, den jeder Verbraucher kennt. In naher Zukunft werden ähnliche Fortschritte dazu beitragen, dass der Computer zu einem unsichtbaren Bestandteil unserer Lebenswelt wird – im so genannten Ubiquitous Computing.

Am bedeutendsten für unser Menschenbild ist vielleicht die Kognitionswissenschaft. Sie erweitert unser Verständnis dafür, wie das Gehirn als informationsverarbeitendes Organ funktioniert. Das nährt wiederum Träume, wir könnten Bewusstsein reduktionistisch erklären und die Fähigkeiten des Gehirns steigern.

Was bedeuten all diese verwirrenden Entwicklungen für die Evolution des menschlichen Erlebens in den kommenden Jahrzehnten? Werfen wir dazu einen Blick auf die Rolle der Technik, die sie für unsere gegenwärtige Situation gespielt hat.

Der Fortschritt der Vergangenheit und die Abhängigkeit von der Energie

Niemand wird bezweifeln, dass unser Leben heute sich von dem unserer Vorfahren vor 200 Jahren deutlich unterscheidet, und dass diese dramatische Verwandlung im Wesentlichen von neuen Technologien angestoßen worden ist. Neue Werkstoffe und Verfahren haben die materielle Welt – Lebensmittel, Gebäude, Kleidung, Werkzeuge – umgeformt. Die Massenproduktion hat komplexe Artefakte für Jedermann erschwinglich gemacht. Auch Information und Kommunikation haben sich gewandelt: Erst machten Telefone eine physische Anwesenheit der Kommunizierenden überflüssig, dann ermöglichten es Computer und Internet in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß, ein gewaltiges Universum aus Informationen zu speichern, zu verarbeiten und anzuzapfen. Inzwischen haben sich all diese Technologien mittels Mobilfunk und drahtlosen Netzwerken zu einem allgegenwärtigen Ganzen vereint.

Gleichzeitig hat sich die Lebenserwartung verdoppelt, dank einer besseren materiellen Versorgung, der Entwicklung der Medizin und der Einrichtung öffentlicher Gesundheitssysteme. Wir haben begonnen, die menschliche Biologie immer stärker zu kontrollieren – Geburtenkontrolle mittels Verhütung und künstlicher Befruchtung ist für uns schon fast selbstverständlich. Wir können uns sogar schon eine Zukunft vorstellen, in der wir den Körper ausbessern und Körperteile austauschen können, etwa mittels künstlichem Gewebe und Stammzelltherapien.

Bei allem, was die Technik erreicht hat, kann einem durchaus schwindlig werden. Wir sollten aber nicht vergessen, dass all diesen Entwicklungen ein einzelner Faktor zugrundeliegt: die Verfügbarkeit von leicht zugänglichen und verdichteten Formen von Energie. Wären wir nicht in der Lage gewesen, unsere Zivilisation mit diesem schwarzen Stoff zu befeuern, den wir aus der Erde holen und verbrennen, wäre es nicht so weit gekommen.

Um 1800 lag der jährliche Primärenergieverbrauch eines Briten bei 20 Gigajoule (ca. 5550 Kilowattstunden). Bis 1900 hatte er sich bereits verfünffacht, und heute liegt er bei 175 Gigajoule (ca. 48.600 Kilowattstunden; Deutschland: ca. 49.200, die Red.). Da die Energie im Großen und Ganzen aus fossilen Quellen stammt, kann man diesen Wert noch anschaulicher machen: Jeder Brite verbraucht im Jahr 4 Tonnen Öl.