Der Vater des Apfelmännchens

Der Mann muss nichts mehr beweisen. In seinem Forscherleben hat er fast alles erreicht.

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Von
  • Frank Grünberg

Der Mann muss nichts mehr beweisen. In seinem Forscherleben hat er fast alles erreicht. Als Mathematiker gelang ihm, wovon die meisten seiner Fachkollegen nur träumen können - seine Theorie wurde populär. Doch Benoît Mandelbrot versprüht nicht das lockere Flair des weisen Wissenschaftlers.

Vielmehr hockt der 80-Jährige während eines fast zweistündigen Gesprächs hochkonzentriert auf einem harten Holzstuhl, ohne auch nur einmal die Sitzposition zu wechseln. Wie ein Anker auf dem Meeresboden ruht seine schwere Hand auf der Tischplatte. Wache Augen fixieren durch die große Brille ihr Gegenüber. Als wollten sie prüfen, ob seine Botschaften auch richtig verstanden werden. Man spürt: Fertig ist der Mann noch lange nicht.

An diesem frühsommerlichen Wochenende im Mai 2004 ist Mandelbrot der Einladung von rund 50 Erdbebenforschern ins oberbayerische Kloster Seeon gefolgt. Aus der ganzen Welt sind die Seismologen angereist, um in den mittelalterlichen Gemäuern der Klosteranlage über die Bedeutung der fraktalen Geometrie für ihre Wissenschaft zu diskutieren. Mandelbrot hat diese Mathematik entwickelt. Bei der Konferenz ist er der Ehrengast. Von ihm erhoffen sich die Teilnehmer wichtige Anregungen.

Doch Mandelbrot hält sich ein wenig abseits. Er mag nicht gern diskutieren, sagen Menschen, die ihn gut kennen. Lieber bestimmt er selbst den Gang der Gespräche. Auch während des Mittagessens gesellt er sich zu dem Journalisten, der sich im Biergarten niedergelassen hat, anstatt mit den Tagungsteilnehmern im nahen Café zu speisen. Im Schatten einer großen Linde erzählt er seine Geschichte. Wie er den Krieg überlebte. Wie er die Wissenschaften eroberte. Und wie er sich stets gegen jede Art der Vereinnahmung gewehrt hat.

Die Schule in Warschau besuchte er nur unregelmäßig. Erst ließ ihn seine Mutter aus Angst vor ansteckenden Krankheiten nicht aus dem Haus. Dann musste er mit seiner jüdischen Familie nach Paris fliehen. Nach dem Einmarsch der Deutschen versteckte er sich in Frankreich vor den Nazi-Häschern monatelang auf dem Land. Seine mathematische Begabung sei "ein Geschenk, das ich auf meiner Flucht bei der Betrachtung von Pflanzen und Bäumen entwickelte", sagt Mandelbrot. Die Aufnahmeprüfung zur École Polytechnique in Paris im Jahr 1944 meisterte er mit Bravour. "Das Problem, das wir als Aufgabe erhielten, ließ sich ganz einfach lösen, wenn man es nicht in kartesischen, sondern in sphärischen Koordinaten fasste", erinnert er sich. "Aber ich war der einzige Kandidat in ganz Frankreich, der das damals gesehen hat."

Noch 60 Jahre später klingt die Genugtuung durch, die ihm dieser Triumph bereitet. Endlich hatte er bewiesen, dass seine Ideen keine Hirngespinste waren. Dass sich komplizierte algebraische Fragestellungen durch geometrische Mittel lösen ließen.

Der hochbegabte Mathematiker macht allerdings nicht an der Universität Karriere, sondern, nach kurzem Zwischenspiel als Dozent an der Universität Genf, in einer Hochburg der industriellen Forschung - am legendären Thomas J. Watson Research Center von IBM in Yorktown Heights bei New York. Wegen herausragender Leistungen - unter anderem hilft er, die Qualität integrierter Schaltkreise erheblich zu verbessern - wird er 1975 zum IBM Fellow gekürt. Eine Auszeichnung, die ihm erlaubt, mit großzügigem Budget und im Herzen des weltweit größten Computerherstellers zu forschen, wie und was er will. Vorlesungen halten? Diplomarbeiten betreuen? Knappe Forschungsmittel auftreiben? Die Nöte eines Universitätsprofessor kennt ein IBM Fellow nicht.

Nur insgesamt 180 IBM-Mitarbeiter wurden seit 1961 in diesen wissenschaftlichen Olymp berufen. "Bei IBM konnte ich arbeiten wie ein Dichter im Garten", sagt Mandelbrot. Noch heute besucht er seine alte Wirkungsstätte fast täglich, beschäftigt eine Vollzeit-Sekretärin, geht mit den jüngeren Forschern essen oder trifft sich im Physik-Department zum Freitags-Tee.

Eigentlich sei Mandelbrot ja seit 1993 emeritiert, sagt Greg Chaitin, sein früherer IBM-Kollege und selbst ein weltberühmter Mathematiker: "Aber er kommt so häufig wie eh und je. Er ist eine Inspiration für uns alle." Als Wissenschaftler sei Mandelbrot "unkonventionell und sehr interessiert" gewesen. Und als Mensch? Nachdenkliches Schweigen dringt durch das Telefon. "Schwer zu sagen", entschuldigt sich Chaitin. "Er führt ein solides Leben und eine glückliche Ehe." Neben IBM ist seine Frau die zweite Konstante in Mandelbrots Leben. Seit fast 50 Jahren sind Aliette und Benoît Mandelbrot verheiratet. Sie ist ihm in die USA gefolgt und hat die beiden Kinder großgezogen. Wie auf so viele Dienstreisen hat sie, nur wenige Jahre jünger als er, ihren Mann auch ins Kloster Seeon begleitet und weicht ihm nicht von der Seite. Sie bestellt für ihn das Essen, holt ihm während des Interviews ein Glas Wasser und anschließend ein frisches Hemd sowie die rote Krawatte, bevor der Fotograf zum Shooting bittet. Sie hält sich im Hintergrund - und ihm den Rücken frei. Welche anderen Menschen ihn auf seinem Lebensweg unterstützten? "Keine. Nur meine Frau und ich mich selber", sagt Mandelbrot.

Die große Freiheit bei IBM beflügelt Mandelbrots mathematische Kreativität. Hier entwickelt er jene Theorie, die es später zu Kultstatus bringen wird - die fraktale Geometrie.

In der traditionellen euklidischen Geometrie waren bis dato lediglich ganzzahlige Dimensionen bekannt. Vergrößert man beispielsweise eine euklidische Kurve der Dimension "1", sieht sie mehr und mehr wie eine Gerade aus. Ganz anders dagegen Kurven, wie sie beispielsweise Küstenlinien beschreiben. Von einem Satelliten aus betrachtet, erscheinen sie noch sanft und rund. Zoomt man die Gestade allerdings heran, verstärkt sich das Zickzack aus Buchten und Kaps, aus Flussmündungen und Landzungen, aus Felsvorsprüngen und Feldeinschnitten.

Das Überraschende dabei: Die Kontur jedes noch so kleinen Ausschnitts gleicht der gesamten Küstenlinie. Diese Selbstähnlichkeit ist ein Hauptmerkmal fraktaler Geometrien. Anders als bei einer euklidischen Kurve hängt die Länge einer fraktalen Kurve damit von der Auflösung ab, aus der Ferne betrachtet wirken sie kürzer, als sie tatsächlich sind. Die euklidische Vorstellung ganzzahliger Dimensionen greift daher nicht mehr, denn die Küsten schlängeln sich auf einer Linie, die sich niemals schneidet, und bedecken auf diese Weise eine begrenzte Fläche.

Mandelbrot folgerte daraus, dass die Dimension von Küstenlinien zwischen "1" und "2" liegen müsse. Tatsächlich fand er nicht-lineare, logarithmische Formeln, mit der sich Küstenlinien berechnen ließen. Mit der fraktalen Dimension führte er dabei einen Koeffizienten ein, der die Komplexität quantitativ beschrieb. So ermittelte er für die Küstenlinie Britanniens eine Dimension von 1,26, die sich damit rauer zeigte als die von Rügen (1,13), aber sanfter als die von Norwegen (1,52). Auch Oberflächen lassen sich auf diese Weise klassifizieren. So ist ein Gehirn zum Beispiel 2,79-dimensional, eine Wolke ungefähr 2,35-dimensional.

Die fraktale Geometrie lieferte vielen Wissenschaftlern ein Werkzeug, mit dem sie alte Probleme in ein neues Licht rücken konnten. Die Strömungsmechaniker gewannen unerwartete Einsichten in die Entstehung von Turbulenzen, die Kosmologen verstanden die Anordnung von Sternhaufen besser, Biologen interpretierten Populationszyklen neu, und Mediziner erkannten plötzlich lang gesuchte Muster in Herzrhythmusstörungen.

Doch anfangs kapierte kaum ein Kollege, wie und warum die fraktale Geometrie bei der Lösung vieler Probleme helfen sollte. Oft auch nach vielen Worten nicht. Bis Mandelbrot eines Tages seine Kommunikationsstrategie änderte. "Ich ging dazu über, die fraktale Geometrie anhand von Computerbildern zu erklären", erinnert er sich an die frühen 70er Jahre. "Plötzlich waren meine Kollegen sprachlos, was ich ihnen anhand der Grafiken offenbarte." Fasziniert waren nicht nur die Wissenschaftler: Denn mit der Erfindung des Personalcomputers nur wenige Jahre später ließen sich die selbstähnlichen Grafiken auch zu Hause am eigenen Rechner kreieren. Und selbst ein Neun-Nadel-Drucker trommelte akzeptable Ergebnisse auf das perforierte Endlos-Papier.

Damit war das Eis gebrochen. Mandelbrots Grafiken rückten die fraktale Geometrie mehr und mehr in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Eine davon, die "Mandelbrot-Menge", machte den Mathematiker schließlich sogar weltberühmt. Als selbstähnliche Komposition unendlich vieler schwarz-weißer Punkte avancierte sie zur Ikone der Chaos-Forschung und sorgte in den 80er Jahren für interdisziplinären Aufruhr an den Hochschulen. Der Volksmund taufte sie liebevoll in "Apfelmännchen" um. Auf T-Shirts und Postern eroberte sie erst die Hörsäle und Fachschaftsräume der unterschiedlichsten Fakultäten, dann auch eine breitere Öffentlichkeit. Den Naturwissenschaftlern lieferte sie den anschaulichen Beweis, dass selbst das Chaos kalkulierbar bleibt, während die Sozialwissenschaftler begannen, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft neu zu definieren. Im Internet wimmelt es heute an vorgefertigten Programmen für die Produktion von Apfelmännchen.

Mandelbrot nährte das aufkeimende Interesse durch eine professionelle PR. So veröffentlichte er seit 1975 weit mehr als 100 wissenschaftliche Aufsätze quer durch alle Wissenschaftsdisziplinen. Sein Erstlingswerk "Les Objects Fractals" wurde in neun Sprachen, sogar ins Rumänische und ins Baskische übersetzt. Sein berühmtestes Werk "The Fractal Geometry of Nature", das er 1982 schrieb, verkaufte sich bis heute mehr als 500000 Mal. Allein zu Finanzthemen brachte er seit 1997 drei Bücher auf den Markt.

Für das jüngste "The (Mis)behavior of Markets" erhielt er auf der Frankfurter Buchmesse sogar den "Wirtschaftsbuchpreis 2004". Darin rollt er aus fraktaler Perspektive die Volatilität der Aktienmärkte auf. Die traditionelle Wirtschaftstheorie hat dafür keine ausreichende Erklärung. Und während die Börsen noch über den Wert fraktaler Dimensionen für ihr Gewerbe streiten, präsentiert Mandelbrot bereits seine nächste Idee: negative Dimensionen. Eigentlich gibt es nur eine leere Menge in der Mathematik. Doch er will nun beweisen, dass es Mengen gibt, die noch leerer sind.

Der Boom um die fraktale Geometrie ist allerdings vorbei. "Man kann dem, was in den 80er Jahren erforscht wurde, nichts mehr hinzufügen", sagt Fritz Haake, Professor für Theoretische Physik an der Universität Duisburg/Essen. "Junge Doktoranden locken wir heute in andere Themen."

Vielleicht mangelt es auch deshalb nach wie vor an technischen Umsetzungen. Zwar versprachen selbstähnliche Modulationen einst neue Impulse für die Videokompression. Doch moderne Verfahren nutzen inzwischen andere Methoden. Auch den Fraktalantennen, die laut Herstelleraussagen einen geringeren Platzbedarf bei gleicher Empfangsqualität benötigen, gelang der Durchbruch bislang nicht. "Um Fraktalantennen einzusetzen, bedarf es noch viel Grundlagenforschung", heißt es bei Siemens.

Auf Zweifel an der Relevanz der fraktalen Geometrie reagiert Mandelbrot ungehalten. Plötzlich rudert seine Hand durch die Luft, als ob sie unheimliche Geister verscheuchen müsste, und seine Stimme verliert ihren selbstsicheren Klang, als er unerwartet in die Defensive gerät. Erst langsam beruhigt er sich wieder.

Sein ungehobeltes Verhalten gegenüber Nebenbuhlern ist in Forscherkreisen Legende. Mit Gene Stanley, einem Physiker an der Boston University, geriet er 1996 in einer Konferenz über die Frage, wer zukünftig den Vorsitz übernehmen solle, so lautstark aneinander, dass die Veranstaltung unterbrochen werden musste. Die Mathematiker Robert Brooks und Peter Matelski, die die Mandelbrot-Menge etwa zur gleichen Zeit wie er zu Papier gebracht hatten, griff er öffentlich an mit dem Vorwurf, lediglich eine "Rohfassung" der Menge produziert und "keinen Gedanken" an ihre besondere Natur verschwendet zu haben. "Mandelbrot kann mitten in einer von Kollegen gehaltenen Vorlesung plötzlich aufstehen und reklamieren, dass er dieselbe Arbeit bereits vor zehn Jahren erledigt hat", berichtet ein Wissenschaftler, der ihn persönlich erlebte. "Er kann wirklich ziemlich aggressiv sein."

Mandelbrot schert all das nicht. Im Gegenteil. Als Vorbild hat er sich einen Cowboy gewählt, den er in den 50er Jahren im US-Fernsehen kennen lernte. Gespielt von James Garner zog Serienheld Bret Maverick - der Name bedeutet "Einzelgänger" oder auch "Rind ohne Brandzeichen" - als Glücksspieler und Revolverheld von Stadt zu Stadt und von Saloon zu Saloon, ohne sich um die Konventionen seiner Mitmenschen zu scheren.

Mandelbrot hängt dieser Form von Freiheit, die er in Europa nie gefunden hatte, bis heute nach. "Ich bin ein Maverick", beteuert er. Nur dass sein Wilder Westen nicht in Texas liegt. Sein Wilder Westen ist die Wissenschaft.

(entnommen aus Technology Review Nr. 1/2005; das komplette Heft können Sie hier bestellen) (sma)