„Jede Überwachungs- Befugnis stellt eine Einschränkung von Grundrechten dar“

Peter Schaar, Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationfreiheit, äußert sich im Interview mit TR über die Entwicklung von Überwachungsbefugnissen in Deutschland und die Notwendigkeit, diese zu evaluieren.

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Von
  • Niels Boeing

Der Volkswirt Peter Schaar ist seit Dezember 2003 Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit. Bereits seit den achtziger Jahren widmete sich der gebürtiger Berliner dem Datenschutz, unter anderem in der Hamburger Senatsverwaltung, der International Working Group on Data Protection in Telecommunications sowie in der Humanistischen Union. Technology Review sprach mit Schaar über die Entwicklung von Überwachung in der Bundesrepublik.

TR: Herr Schaar, aufgrund der Entwicklung bei Sicherheits- und Überwachungstechnologien können immer mehr Daten über die Bundesbürger gesammelt werden. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 wurden die Einsatzmöglichkeiten für derartige Technologien in verschiedenen Gesetzen erweitert. Im Bundesministerium des Innern heißt es aber, es gebe keinen Trend hin zu einer Ausweitung der Überwachung in der Bundesrepublik. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

Peter Schaar: In den letzten Jahren sind sowohl die polizeilichen als auch die nachrichtendienstlichen Befugnisse immer wieder erweitert worden. So haben die Polizeien zusätzliche Befugnisse zum Einsatz verdeckter Ermittlungsmethoden erhalten – etwa bei der Telefonüberwachung. Zudem ist feststellbar, dass polizeiliche Datenerhebungen zunehmend auch im Vorfeld eines Anfangsverdachts oder einer konkreten Gefahr stattfinden, zum Beispiel bei der Telefonüberwachung zu präventiven Zwecken und bei der automatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung.

Im Rahmen der Terrorismusbekämpfungsgesetzgebung wurden den Nachrichtendiensten Befugnisse eingeräumt, unter bestimmten Voraussetzungen von den Banken Kontodaten und von Telekommunikations- und Internetanbietern Verkehrsdaten zu erfragen. Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass auch die technischen Überwachungsmöglichkeiten stark zugenommen haben, etwa bei der Digitalisierung der Telekommunikation, bei der – anders als früher bei analogen Netzen – als Nebenprodukt Daten darüber entstehen, wer wann wo mit wem telefoniert hat. Die satellitengestützte GPS-Ortung erleichtert es, den jeweiligen Aufenthaltsort metergenau festzustellen.

Die Videotechnik ist auch viel leistungsfähiger geworden, und es gibt bereits Systeme, bei denen Videotechnik und automatisierte Gesichtserkennung – also ein biometrisches Verfahren – miteinander gekoppelt werden. Gerade angesichts dieser neuen Möglichkeiten kommt es verstärkt darauf an, einen Selbstlauf zu mehr Überwachung zu verhindern und die Befugnisse klar rechtsstaatlich zu begrenzen.

TR: Wie dürfen verschiedene Bundesbehörden – Polizei, Bundespolizei, Landeskriminalämter (LKA), Bundeskriminalamt (BKA), Verfassungsschutz – auf die Datenbanken der jeweils anderen zugreifen? Wo bestehen Zugriffsverbote?

Peter Schaar: Grundsätzlich verarbeiten die Polizeibehörden ihre Daten in eigener Verantwortung, wobei die jeweiligen Rechtsgrundlagen maßgeblich sind. Die Polizeien des Bundes und der Länder unterhalten gemeinsam das Polizeiliche Informationssystem INPOL, auf das sie im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung lesenden und schreibenden Zugriff haben.

INPOL-Bund wird beim BKA als Zentralstelle für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen geführt. In das System sollen solche Daten ohne bundesweite Relevanz nicht eingestellt werden. Die Abrufe aus INPOL werden gemäß den Regelungen des BKA-Gesetzes protokolliert. Das BKA führt zudem eine von den Landes- und Bundespolizeibehörden gespeiste Datei zur DNA-Identitätsfeststellung, auf die auch die Landespolizeien Zugriff haben.

Online-Zugriffe von Nachrichtendiensten – also Verfassungsschutz, BND und MAD – auf polizeiliche Dateien sind nicht zulässig. Umgekehrt hat auch die Polizei keinen Zugriff auf Dateien der Nachrichtendienste. Allerdings wird seit einiger Zeit über eine gemeinsame Anti-Terror-Datei aller Sicherheitsbehörden diskutiert. Ich trete entschieden dafür ein, dass es nicht zu einer unzulässigen Vermischung von Aufgaben und Befugnissen der Strafverfolgungsbehörden und der Nachrichtendienste kommt.

TR: Die Situation in der Bundesrepublik ist im Vergleich zu der in Großbritannien offenbar noch recht moderat. Müssen wir dennoch damit rechnen, dass die Videoüberwachung im öffentlichen Raum in den nächsten Jahren ausgeweitet wird? Dass Bundesbehörden verstärkten Zugriff auf Datenbestände der Privatwirtschaft bekommen werden, so wie in den USA etwa der Online-Händler Amazon mit dortigen Behörden zusammenarbeitet, und dass eine flächendeckende Kfz-Kennzeichenerfassung installiert wird, wie in Großbritannien bis Ende 2006 geplant?

Peter Schaar: Auch in Deutschland ist die Videoüberwachung im öffentlichen Raum bereits weit verbreitet, unter anderem auf Bahnhöfen und an sonstigen Kriminalitätsschwerpunkten. Immer wieder wird gefordert, die Videoüberwachung weiter auszubauen, zum Beispiel anlässlich der Fußballweltmeisterschaft oder bei spektakulären Vorfällen, etwa in Bahnhöfen.

Ich frage mich allerdings, ob die Videoüberwachung der einzige oder auch beste Weg zu mehr Sicherheit ist. Mit einer Videokamera lassen sich Straftaten vielleicht besser aufklären, aber nicht verhindern. So wäre es vielleicht der bessere Weg, U-Bahnhöfe wieder mit Personal auszustatten, das eingreifen und helfen kann, statt allein auf die Videoüberwachung zu setzen.

Im Hinblick auf die Kennzeichenerfassung gibt es auf Bundesebene derzeit keine Bestrebungen, doch haben einige Länder ihre Polizeigesetze inzwischen so geändert, dass Kfz-Kennzeichen erfasst werden dürfen, auch wenn dafür kein konkreter Anlass besteht. Diese Daten dürfen jedoch – anders als in Großbritannien diskutiert – nicht auf Dauer gespeichert bleiben.

Der Zugriff von Strafverfolgungs- und anderen Behörden auf Bestands- und Verkehrsdaten der Telekommunikation hat bereits jetzt erheblichen Umfang. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Zugriffe bzw. Auskunftsersuchen noch erhöhen werden, sobald die Europäische Telekommunikationsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt ist. Zudem dürften Unternehmen der Luftfahrt beziehungsweise der Finanzbranche weiterhin unter dem Druck der Strafverfolgungsbehörden stehen, letztere bei der Bekämpfung des Internationalen Terrorismus und bei der Aufdeckung der Finanzquellen des Internationalen Terrorismus zu unterstützen. Im übrigen haben verschiedenste Behörden seit dem letzten Jahr die Möglichkeit, automatisiert Kontostammdaten von den Banken abzurufen. Diese Regelung wird derzeit vom Bundesverfassungsgericht überprüft.

TR: Das Hauptargument für eine erweiterte Überwachung lautet seit den Anschlägen vom 11. September 2001 "Abwehr terroristischer Gefahren". Ist hier überhaupt abzusehen, dass diese Abwehr je einen Endpunkt erreichen kann, ab dem Möglichkeiten wieder zurückgenommen werden, oder handelt es sich bei der gegenwärtigen Entwicklung um einen irreversiblen Prozess?

Peter Schaar: Nach den bisherigen Erfahrungen ist in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen, dass die Befugnisse der Sicherheitsbehörden zur Abwehr terroristischer Gefahren zurückgefahren werden. Ob die Befugnisse staatlicher Stellen weiter ausgebaut werden, hängt - unabhängig von einer rein rechtlichen Bewertung - davon ab, wie sich die politische Diskussion weiterentwickelt. Jede Überwachungsbefugnis stellt einen Grundrechtseingriff dar. Deshalb muss stets der Nachweis erbracht werden, dass diese Befugnis erforderlich und verhältnismäßig ist.

Auch muss sichergestellt werden, dass der Umgang mit diesen Befugnissen rechtstaatlich kontrolliert und im Rahmen einer unabhängigen Erfolgskontrolle, man spricht hier von „Evaluation“, überprüft wird. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahren mit einigen Entscheidungen, unter anderem zum Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, zur akustischen Wohnraumüberwachung und zum Polizeirecht, verfassungsrechtliche Grenzen gezogen.

TR: Gibt es ein Zusammenspiel zwischen den Herstellern für Sicherheitsstechnologien und der Gesetzgebung? Anders gefragt: Gibt es Belege dafür, dass neue Technologien die Formulierung entsprechender Gesetze, die ihren Einsatz zulassen, nach sich ziehen?

Peter Schaar: Dies ist eine Mutmaßung, die ich weder widerlegen noch bestätigen kann. Der Gesetzgeber ist gehalten, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen und zugleich die Grundrechte zu gewährleisten. Ich hielte es für fatal, wenn industriepolitische Gesichtspunkte Einfluss auf die Grundrechtsgewährung erlangen würden und würde mich derartigen Tendenzen auch entschieden entgegenstellen.

Andererseits findet Gesetzgebung natürlich nicht in einem luftleeren Raum statt und muss technologischen Entwicklungen Rechnung tragen. Dabei muss der Gesetzgeber jedoch stets den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgen. Die von mir zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die gesetzlich eingeräumte Befugnisse zurückgenommen wurden, machen deutlich, dass dies in der Vergangenheit nicht immer angemessen geschehen ist.

Mehr zum Thema in der aktuellen Ausgabe von Technology Review im Fokus "Überwachung". (nbo)