Rauchzeichen über Japans Atomprogramm

Jahrelang ignorierten Japans Atomexperten Warnungen, dass sie das größte Atomkraftwerk der Welt auf einer geologisch aktiven Bodenverwerfung platziert hatten.

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Von
  • Martin Kölling

Ein starkes Erdbeben in unmittelbarer Nähe des größten Atomkraftwerkskomplex der Welt hat diese Woche Japans Atomprogramm erschüttert. Heute, am dritten Tag, nach dem Beben mussten der Kernkraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power (Tepco) und das für die Atomaufsicht zuständige Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (Meti) eingestehen, dass das AKW Kashiwazaki Kariwa entgegen bisherigen Beteuerungen wahrscheinlich direkt auf der Verwerfung steht, die am Montag neun Kilometer vom Kraftwerk entfernt ein Beben der Stärke 6,8 auf der Richter-Skala ausgelöst hatte.

„Wir haben bei der Planung des Kraftwerks nicht angenommen, dass ein Beben dieser Stärke auftreten könnte“, sagte ein Sprecher von Tepco heute. „Aber nachdem wir auf die Daten [des Wetteramts] über die Nachbeben geschaut haben, haben wir begriffen, dass die Verwerfung direkt unter dem Atomkraftanlage entlang läuft.“ Damit ist selbst ein Beben direkt unter dem 220 Kilometer nördlich von Tokio in der Präfektur Niigata gelegenen AKW nicht mehr ausgeschlossen.

Das Kraftwerk mit seinen sieben Reaktorblöcken und einer elektrischen Gesamtleistung von 8,21 Gigawatt ist aufgrund der falschen geologischen Untersuchungen im Planungsprozess nur für ein Beben der Stärke 6,5 ausgelegt, weil die Planer in mehreren Kilometern Entfernungen Bruchkanten verortet hatten. Eine davon hat 2004 ein gleich starkes Beben ausgelöst. 67 Menschen starben statt neun beim jetzigen Beben. Aber am Atomkraftwerk waren die Stöße innerhalb der Toleranz. Beim jetzigen Beben überstieg die Bodenbeschleunigung jedoch die offiziell extremsten für diesen Standort für möglich gehaltenen Werte um das bis zu Zweieinhalbfache.

Besonders übel stößt Kritikern auf, dass Regierung und Strombetreiber bis gestern die Existenz der aktiven Zone entgegen neuen Erkenntnissen leugneten. Erst 2005 hatten Anwohner eine Aufhebung der Betriebsgenehmigung verlangt, weil neuere Gutachten eine Verwerfung anzeigten. Doch der Oberste Gerichtshof in Tokio hatte die Klage mit dem Verweis auf offizielle Gutachten abgelehnt, dass es sich um keine aktive Verwerfung handele.

Die Verblüffung über derartige Fehlurteile von Tepco, der Regierung und der Justiz entfacht eine für japanische Verhältnis heiße Diskussion über die Gefahren der Atomkraft. Selbst Mino Monta, einer der einflussreichsten TV-Talkmaster Japans äußerte sich verblüfft über die Chuzpe, ein AKW direkt auf eine Verwerfung zu bauen. Bisher gab es in den Medien kaum großen Widerstand gegen Japans Atomprogramm.

Die Regierung und das Meti versuchen daher vorbeugend, den Imageschaden durch Aktivismus einzudämmen. Bereits am Dienstag herrschte Ministerpräsident Shinzo Abe den Kraftwerksbetreiber Tepco öffentlich an, er habe „zu langsam“ informiert und solle ernsthaft über seine Krisenbewältigung nachdenken. „Atomkraft kann nur mit dem Vertrauen der Bevölkerung betrieben werden“, sagte Abe. „Und dafür müssen Kraftwerksbetreiber genau und umgehend berichten, was passiert ist.“ Meti-Minister Akira Amari rief überdies Tepco-Chef Tsunehisa Katsumata zu sich und rügte ihn zusätzlich für die langsamen Löscharbeiten an einem brennenden Transformator auf dem Atomgelände.

Fast zwei Stunden loderte das Feuer und schickte telegene Rauchwolken in den Himmel Niigatas, weil es erstens keine Werksfeuerwehr gab und zweitens den angeforderten lokalen Brandbekämpfern anfangs der geeignete Löschschaum zur Bekämpfung des Ölbrands fehlte. Der Reaktor bleibt bis auf weiteres stillgelegt. „Wir haben Tepco aufgefordert, einen Bericht über die Ursachen des Bebens abzugeben“, sagte Akira Fukushima, stellvertretender General-Direktor für Sicherheitsüberwachungen der Behörde für nukleare und industrielle Sicherheit des Meti. „Auf der Grundlage des Berichts werden wir geeignete Maßnahmen beschließen.“

Die erste Zwischenbilanz der Schäden fällt dennoch zur Erleichterung von Atomkraftbefürwortern vergleichsweise milde aus. Man habe bisher keine Anomalien in den sicherheitsrelevanten Bereichen der Reaktoren entdeckt, erklärte Fukushima heute. Allerdings ist entgegen ursprünglichen Beteuerungen des Betreibers doch Radioaktivität freigesetzt worden. Im Reaktorblock 6 wurden außerhalb der Sicherheitszone zwei Pfützen mit 0,6 und 0,9 Litern radioaktiv verseuchten Wasser entdeckt. 1200 Liter strahlenden Wasser flossen ins Meer.

Außerdem entwichen beim Reaktor Nummer 7 geringe Mengen radioaktiver Isotope Chrom 51 und Cobalt 60 durch Entlüftungsschächte ins Freie. Doch die Mengen waren in allen Fällen so gering, dass sie die zulässigen Grenzwerte bei weitem unterschritten, versicherte Fukushima. Zudem seien rund 100 Fässer mit leicht strahlendem Müll umgestürzt, teilweise hätten sich Deckel geöffnet.

Das Meti hat nach einem ersten unerwartet starken Erdbeben vor der Küste der Präfektur Miyagi am 16. August 2005 neue, strengere Baurichtlinien erarbeitet. Ein zweiter überplanmäßig heftiger Erdstoß am 25. März 2007 vor der Noto-Halbinsel in der Präfektur Ishikawa unterstrich die Notwendigkeit. Derzeit würden die bestehenden Meiler nach den neuen Richtlinien überprüft und anschließend falls nötig nachgerüstet, erklärte Fukushima. Die Meiler bis zum Abschluss der Untersuchungen aus Sicherheitsgründen abzuschalten, wurde bisher offensichtlich nicht erwogen. Außerdem, so betonte der Sicherheitsverantwortliche des Meti, hätten die Reaktorblöcke 2, 3, 4 und 7 bei der ersten Erschütterung wie geplant erfolgreich die Notabschaltung eingeleitet. Die Reaktorblöcke 1, 5 und 6 waren nicht gefährdet, da sie wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet waren.

Für Atomkraftgegner Hideyasu Ban, der als Co-Direktor des Citizens Nuclear Information Center lange als kritisches Feigenblatt der Anti-Atomkraft-Initiativen in der nationalen Atomenergie-Kommission saß, ist das ein schwacher ein Trost. „Das einzige Glück in all dem Unglück ist, dass die Notabschaltung der Reaktoren funktioniert hat. Sonst hätte ein großer Atomunfall auftreten können.“ Sein Urteil: „Japans nukleare Erdbebensicherheit ist in ihren Grundfesten erschüttert.“

Seine Stimme dürfte nun mehr Gehör finden, sehr zum Missfallen der Regierung. Denn es ist nur das Sahnehäubchen auf einer langjährigen Pannenserie:

  • 1981 flossen aus dem AKW Tsuruga 40 Tonnen radioaktives Kühlwasser in Meer;
  • 1995 schrammte die Nation knapp an einem GAU vorbei, nachdem drei Tonnen Natrium aus dem Schnellen Brüter Monju ausgelaufen waren und einen Brand ausgelöst hatten;
  • 1997 und 1999 kam es zu schweren Unfällen in der experimentellen Wiederaufbereitungsanlage in Tokaimura;
  • 2002 musste Tepco sämtliche seiner 17 Meiler vom Netz nehmen, weil Mitarbeiter über 16 Jahre Zwischenfälle und Reparaturen nicht gemeldet und Berichte gefälscht hatten.

Kürzlich flog der Industrie ein weiterer Skandal um über Jahrzehnte vertuschte Störfälle um die Ohren.

Dennoch konnte die Regierung bisher an ihrem Plan festhalten, die Atomenergie als vermeintlich Klima schonende Energiequelle auszubauen und Japan zur führenden Exportnation von ziviler Atomtechnik aufzurüsten. Derzeit rangiert Japan mit 55 Atomreaktoren und einer Atomstromkapazität von 291,5 Megawattstunden hinter den USA und Frankreich und vor Deutschland auf Rang drei der Atomnationen. In Zukunft solle der Anteil von Atomenergie an der Stromerzeugung von derzeit rund 30 auf 40 Prozent erhöht werden, erklärt Shunsuke Kondo, Vorsitzender der Japanischen Atomenergiekommision. Außerdem will Japan bald eine Wiederaufbereitungsanlage in regulären Betrieb nehmen und langfristig Schnelle Brüter bauen, um sein Plutonium wiederzuverwerten. Derzeit besitzt Japan 44 Tonnen Plutonium, eine schier unerschöpfliche Energiequelle.

Das Ziel ist, die Energieversorgung des Landes zu sichern. Japan selbst verfügt inzwischen über keine nennenswerten Vorkommen an fossilen Brennstoffen mehr und deckt seinen Energiehunger vorrangig durch Erdölimporte aus dem mittleren Osten. Kommissionschef Kondo bemerkte allerdings schon vor dem Beben, dass es immer schwerer werde, die Zustimmung der betroffenen Anwohner für neue Projekte zu gewinnen. (nbo)