Wie wir schmecken

Wollen Sie sich gesund ernähren? Dann mischen Sie doch einfach Müsli mit warmem Wasser an, rühren roh gehacktes Gemüse dazu und ein bisschen gekochten Fisch.

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Von
  • Tobias Hürter

Illustration: Mario Wagner

Wollen Sie sich gesund ernähren? Dann mischen Sie doch einfach Müsli mit warmem Wasser an, rühren roh gehacktes Gemüse dazu, ein bisschen gekochten Fisch und eine Prise Meersalz - fertig ist die vollwertige Mahlzeit. Oder eher: wäre fertig. Was uns satt und zufrieden macht, darüber entscheidet letztlich der Geschmack, nicht die Vernunft. Die Zunge teilt deutlich mit, was sie zufrieden stellt - wenngleich sie merkwürdig erlahmt, wenn es darum geht, ihre Meldungen in Worte zu fassen: "Wir haben keine Sprache für Geschmack", sagt Andreas Scharf, Ökonom an der Universität Göttingen und Experte für Geschmacksmarketing. Bilder und Klänge beschreiben wir leichthin, beim Kommunizieren von Geschmacksreizen geraten selbst geübte Sensoriker ins Stocken.

Auch die Wissenschaft hatte lange wenig zum Geschmack zu sagen. Seine molekularen Mechanismen sind weitaus schlechter verstanden als die unseres Sensoriums für Schall, Licht und Duft. Erst mit den Werkzeugen der Molekulargenetik konnten Biologen in den 1990er Jahren beginnen, den Bauplan und die Funktionsweise der chemischen Fühler auf der Zunge zu enträtseln.

Die Aromenindustrie, eine Branche mit mehr als 15 Milliarden Dollar Jahresumsatz weltweit, wartet gierig auf die neuen Erkenntnisse. Sie hofft auf die Möglichkeit, den Geschmackssinn gezielt zu manipulieren. Ihr Ziel: eine neue Klasse von Nahrungszusätzen, die natürliche Aromen verstärken oder übertreffen - oder unerwünschte Geschmäcker hemmen. Endlich soll Köstlichkeit nicht mehr das Metier kunstfertiger Köche sein, sondern eine harte Wissenschaft. Vorbild ist die Pharmazie, die seit Jahrzehnten danach strebt, ihre Wirkmoleküle exakt in die Körperchemie einzupassen.

Jedes alltägliche Geschmackserlebnis gleicht einer gigantischen chemischen Sinfonie. Tausende Molekülsorten wirken während eines herzhaften Bisses gemeinsam auf die Geschmacksrezeptoren. Dazu mischen sich Signale der anderen Sinne: "Was wir als Geschmack erleben, ist tatsächlich zu 80 Prozent Geruch", sagt Boris Schilling, Biochemiker beim Schweizer Aromenkonzern Givaudan. Flüchtige Bestandteile der Nahrung gelangen durch den Rachen von hinten in die Nase und reizen die Riechrezeptoren. Auch die Tast- und Temperaturfühler stimmen ein - sogar das Schmerzsystem: Die Schärfe etwa von Chilischoten vermelden so genannte Nozizeptoren, sonst zuständig für Wehgefühl.

Nur ein kleiner Teil der Zunge dient dem Schmecken. Als kräftiger Muskel sorgt sie für Ordnung im Mundraum, formt den Sprachklang und ist des Menschen sensibelstes Tastinstrument. Von den etwa hundertzelligen Geschmacksknospen, den Endorganen des Geschmackssinns, sind nur ein paar Tausend über Zunge und Gaumen verstreut, tief versteckt im nichtschmeckenden Gewebe. Zwar ahnten die Geschmacksforscher schon lange, wie das Detektorsystem im Mund ungefähr gebaut sein muss. Aber der schlichte Materialmangel hinderte sie daran, die chemischen Antennen dingfest zu machen.

Die zielführende Spur nahmen die Geschmacksdetektive deshalb nicht mit Pipette und Petrischale auf, sondern mit Computerhilfe in den elektronischen Datenbanken, die sich in den 1990er Jahren rasant mit der Erbinformation alles erdenklich Lebendigen füllten. Vor fünf Jahren fanden die amerikanischen Biologen Charles Zuker und Nicholas Ryba im Gencode von Nagern die Baupläne von Rezeptorproteinen, die ausschließlich in den Geschmacksknospen realisiert sind: die Gruppe der so genannten T1R-Gene, die sich später als zuständig für Süßgeschmack erwiesen. Die Produkte von T1R entsprachen dem Phantombild, denn sie gehören zu den so genannten G-Protein-bindenden Rezeptoren, dem häufigsten Rezeptortyp im menschlichen Körper. "Die Arbeiten von Zuker und Ryba waren die Initialzündung der Geschmacksforschung", sagt Wolfgang Meyerhof, Genetiker am Deutschen Institut für Ernährungsforschung bei Potsdam.

Dann kamen Schlag auf Schlag neue Rezeptoren ans Licht. Ein paar Monate nach der ersten Entdeckung fanden Zuker, Ryba und andere Teams im menschlichen Genom, das damals nur zu einem kleinen Teil bekannt war, die T2R-Gruppe: Codes für Bittersensoren.

Den entscheidenden Fingerzeig hatten die veränderten Gene von bitter-unempfindlichen Menschen gegeben. Den Beweis lieferten schließlich Versuche mit künstlich vermehrten Mauszellen, die nur bei aktiven T2R-Genen auf Bitterstoffe ansprachen. Auch die T2R-Schmeckfühler koppeln im Zellinneren an ein G-Protein: an Gustducin, einen engen Verwandten des Seh-Botenstoffs Transducin. Der molekulare Ansprechpartner der T1R-Rezeptoren ist vermutlich Transducin selbst.

Die Molekulargenetik brachte endlich Klarheit in den ewigen Forscherstreit über die Geschmacksqualitäten - die Entsprechungen der Grundfarben Rot, Grün und Blau. Der japanische Chemiker Kikunae Ikeda hatte ihn im Jahr 1908 ausgelöst, als er vor einer Schale würziger Kombu-Brühe saß und erkannte, dass sich deren Aroma nicht aus klassischen vier Qualitäten Süß, Sauer, Salzig und Bitter mischen lässt. Ikeda postulierte eine fünfte Qualität: Umami, abgeleitet vom japanischen "umai", zu Deutsch etwa "lecker" oder "herzhaft".

Als Hauptträger des Umami-Geschmacks erkannte Ikeda Glutamat, das Salz der häufigsten Aminosäure in unserer Nahrung. Den Rest des 20. Jahrhunderts erörterten die Aromawissenschaftler, ob Umami gleichrangig neben den vier anderen Grundgeschmäckern stehe, bis im Jahr 2000 die amerikanische Physiologin Nirupa Chaudhari den Rezeptor für Glutamat in Geschmackszellen von Ratten isolierte und so Ikeda zu posthumer Genugtuung verhalf. Doch wer sagt, dass es mit fünf Geschmacksqualitäten getan ist? Manche Sinnesforscher spekulieren bereits über eine sechste Qualität: Fettgeschmack.

Auch ein halbes Jahrzehnt nach dem Durchbruch von Zuker und Ryba ist informiertes Raten noch die Regel in der Geschmacksforschung. Es ist noch nicht einmal geklärt, ob Geschmackszellen Spezialisten oder Generalisten sind - ob sie nur eine Geschmacksqualität wahrnehmen können oder mehrere. Darüber sind Elektrophysiologen und Molekularbiologen geteilter Meinung: Die einen haben gemessen, dass Zellen selektiv auf Geschmacksstoffe reagieren, die anderen haben Rezeptoren aller Art in jeder einzelnen Zelle gefunden.

Gemessen an anderen Sinnen sollte die Genetik des Geschmacks eigentlich überschaubar sein. Zum Vergleich: Der Geruchssinn ist mit rund tausend Genen die größte Gengruppe überhaupt im menschlichen Erbgut. Ein Drittel dieser Gene kodieren funktionierende Riechrezeptoren, der große Rest besteht aus so genannten Pseudogenen. Dagegen kennt man heute nur etwa dreißig Geschmacksrezeptoren. Dennoch bietet die Funktion des Geschmacksapparats ein verwirrendes Bild. Manche Substanzen, etwa Kohlenhydrate, schmecken unterschiedlich, obwohl sie sich in Nährwert und Chemie ähneln. Andererseits ruft Zucker einen ähnlichen Sinneseindruck hervor wie Chloroform und die Süßstoffe Aspartam und Saccharin, deren chemische Struktur eine ganz andere ist.

Während saure und salzige Stoffe direkt durch die Zellwand auf die Chemie der Geschmackszellen wirken, werden Bitter-, Umami- und Süßsignale durch Rezeptoren vermittelt - allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Die Bitterstoffe Chinin und Koffein beispielsweise umgehen die Rezeptoren. Offenbar stand der Geschmacksapparat in der Evolutionsgeschichte unter großem Anpassungsdruck. Während unsere Vorfahren bis zur Errichtung erster Zuckerraffinerien Ende des 16. Jahrhunderts intensiven Süßgeschmack fast nur von Honig kannten - wofür der einzige bislang bekannte Süßrezeptor ausreichen würde –, musste sich die Bitterwahrnehmung, das Alarmsystem vor Giften, "bei der Eroberung neuer Nahrungsräume" (Meyerhof) ständig weiterentwickeln. Mehr als 25 Bitterrezeptoren mit unterschiedlicher Spezialisierung sind inzwischen identifiziert. Zusammen decken sie ein Sammelsurium tausender Geschmacksstoffe ab, die außer Bitterkeit wenig gemein haben.

Meyerhof untersucht derzeit, wie die Empfindlichkeit für die Grundgeschmäcker von Mensch zu Mensch variiert. Die Unterschiede bei Süß und Salzig sind eher klein, beim Bittergeschmack hingegen sind sie gewaltig: Meyerhof hat Schwankungen um den Faktor Tausend bei der Wahrnehmungsschwelle für die künstlichen Bitterstoffe PROP und PTC gemessen. Daraus schließt er zurück aufs Erbgut. Bisher nämlich galten die Gene des Geruchssinns als diejenigen mit der größten Variabilität im menschlichen Genom - aber "beim Geschmackssinn sind die Unterschiede wohl noch größer", vermutet Meyerhof.

Während wesentliche Geschmacksfragen noch auf Antworten warten, hat die Suche nach Anwendungen längst begonnen. Schon der Durchbruch von 1999 weckte in James Battey, Co-Autor von Zuker und Ryba, die Hoffnung auf "Nahrungsmittel mit speziell konstruierten Geschmackseigenschaften". Als Konstrukteure sind in erster Linie die großen Aromenhersteller gefragt. Givaudan und Firmenich in der Schweiz, International Flavors and Fragrances (IFF) in den USA und Symrise in Deutschland sind die stillen Riesen der Branche: Kaum ein Verbraucher kennt sie, obwohl die meisten ihre Produkte im Flakon oder im Kühlschrank haben.

Die Biotech-Revolution in der Geschmacksforschung ist nicht an den Konzernen vorbeigegangen. "Wir beobachten das sehr genau", sagt Jakob Ley, Chemiker bei Symrise. Allerdings werde es noch eine Weile dauern, bis die Einsichten der Molekularbiologie sich in Produkten niederschlagen: "Die Änderungen werden gewaltig sein", sagt Ley, "aber sie beginnen erst."

Dass es so langsam geht, liegt am Geld. Denn davon ist mit Aromen nicht so viel zu verdienen wie etwa mit Arzneien. Deshalb können Symrise und seine Konkurrenten nicht wie die großen Pharmakonzerne mal schnell eine neue Forschungsabteilung zusammenkaufen. Man sichert sich die molekularbiologische Option lieber in Kooperationen mit Hochschulen und anderen externen Einrichtungen. Welche Möglichkeiten vor den Aromenherstellern liegen, demonstrierten Biochemiker der Universität Lyon schon vor acht Jahren: Sie entwarfen den Süßstoff Lugdunam, der 230000-mal intensiver schmeckt als Speisezucker.

Unter den Konzernen zeigt Givaudan vergleichsweise viel Forschergeist. Die Schweizer haben die althergebrachte Aromenentwicklung zumindest teilweise nach dem Modell der modernen Medikamentenforschung umgestellt. Die großen Pharma-Unternehmen gehen weltweit auf chemischen Beutezug - Givaudan schickt seine Experten in Programmen namens "TasteTrek" und "ScentTrek" auf Schmeck- und Schnüffeltour. Kleine Teams mit mobilen Labors durchstreifen afrikanische Gewürzmärkte und südamerikanische Regenwälder nach neuen Gaumenreizen und entnehmen Proben aus den Woks chinesischer Meisterköche. Auf "65 bis 70 neue Aroma-Chemikalien" seien seine Emissäre dabei gestoßen, sagt Bob Eilerman, Leiter der Geschmacksforschung im Givaudan-Labor in Cincinnati. Einige der Funde würden bereits in fertigen Produkten eingesetzt, sagt Eilerman, aber die genaue Erfolgsquote will er nicht verraten.

Ähnlich wie bei der konventionellen Pharmaforschung suchen Eilerman und seine Mitarbeiter mit Hochdurchsatz-Screening in zehntausenden Verbindungen nach so genannten Leitstrukturen für die gewünschten Geschmackseffekte. Aber zusätzlich greifen sie mehr und mehr zu den Werkzeugen der Bioinformatik, um gezielt Geschmacksmoleküle zu modellieren; um Aromakandidaten im Reagenzglas zu testen, klonen sie Geschmackszellen und programmieren andere Zellen auf die Ausbildung von Geschmacksrezeptoren - Techniken, die weltweit nur wenige Gruppen beherrschen. "Seit die G-Protein-bindenden Rezeptoren und ihre Signalwege bekannt sind, ist die Entwicklung neuer Geschmacksstoffe besser steuerbar", sagt Eilerman.

Wie oft bei Technologiesprüngen müssen sich die Etablierten der Branche vor jungen Herausforderern hüten. So arbeiten die Biotech-Unternehmen Linguagen in New Jersey und Senomyx in Kalifornien an Substanzen, die gezielt bestimmte Geschmacksrezeptoren blockieren oder anregen - ähnlich den "Target drugs" der Pharma-Entwickler. Sie haben zahlungskräftige Kunden gewonnen: Nahrungsmittelkonzerne wie Coca-Cola, Campbell und Kraft wollen den lästigen Bittergeschmack, der in Cola durch Koffein und in Dosensuppen bei der Pasteurisierung entsteht, nicht länger durch Unmengen von Zucker und Salz überdecken. Vor einem Jahr bekam Linguagen das erste Patent für einen "Bitterblocker": Adenosin-Monophosphat (AMP), das auch natürlich in Lebensmitteln vorkommt, besonders in Fleisch, Milch und Hefe. Die Linguagen-Forscher fanden beim sturen Durchtesten hunderter Verbindungen, dass AMP die Aktivierung des Bitterboten Gustducin hemmt. Nun muss sich zeigen, ob AMP kostengünstig in großem Maßstab zu produzieren ist, und ob es auf der Zunge hält, was es im Reagenzglas verspricht. Denn es bringt nur einen Teil der Bitterrezeptoren zum Schweigen.

Entbitterte Limonade und Fertigsuppe - mehr nicht? Wer sich schon auf das maßgeschneiderte Geschmackserlebnis freut, wird sich gedulden müssen. Die Erfahrungen der Pharma-Industrie mit der Molekularbiologie zeigen, wie lang der Weg von der reinen Erkenntnis zu einer neuen Generation von Produkten sein kann. Die Geschmacksforschung hat darauf noch ein gutes Stück zurückzulegen, und ihr Fortschritt ist eher gemächlich. Gute Köche bleiben weiterhin gefragt. (sma)