Privatsphäre im Datennebel

Datenschützer beschwören angesichts sich ausbreitender Informationstechnologien gerne Gefahren für die Privatsphäre. Doch die ist unter Terabytes von Infomüll bislang gut aufgehoben.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Michael Kunze
Inhaltsverzeichnis

Der Pop-Künstler Andy Warhol sagte vor einem Vierteljahrhundert den gesellschaftlichen Übergang von der privaten in die öffentliche Existenz voraus: Eines Tages werde jeder Mensch einmal im Fernsehen aufgetreten sein. Mittlerweile hat sich die Prophezeiung Warhols erfüllt: Wer nur ein etwas obsessives Hobby, leicht provokante Ansichten oder einen mittleren Schicksalsschlag vorzeigen kann, darf sein Innenleben in Gesellschaft von Arabella Kiesbauer oder Margarete Schreinemakers vor den versammelten Fernsehvoyeuren ausbreiten. So veröffentlicht sich die Privatsphäre im munteren Gequassel ungezählter Talkshows.

Wo derart Zurschaustellung freiwillig geschieht und für das Individuum augenscheinlich folgenlos bleibt, zeugt es von gespaltener Wahrnehmung, wenn hochbesorgte Datenschützer angesichts globaler Vernetzung und sich ausbreitender Informationstechnologie einmal mehr vor 'Big Brother' warnen.

Für die hoch arbeitsteiligen, individualisierten Industriedemokratien erscheinen die Orwellschen Ängste reichlich unbegründet. Hier leiden die Regelungsstrukturen mittlerweile eher an einem Zuviel von Daten. Wohlmeinende Schützer der Privatsphäre erliegen meist dem Fehlschluß, mit der Menge an verfügbarer Information stiege auch die Menge an verfügbarem Wissen. Das Gegenteil ist richtig: gerade global vernetzte Gesellschaften sind auf die intensive Kooperation ihrer Mitglieder angewiesen, um im Wust der über Jahrzehnte gesammelten Daten jene mit Entscheidungsrelevanz herauszufiltern.

Durch gestiegene Mobilität, Individualisierung, wirtschaftliche Entwicklung und andere gesellschaftliche Strukturverschiebungen veralten die Datenbestände heute schneller, als sie sich sinnvoll auswerten lassen. Ob es sich um epidemologische Erhebungen, Telefonnummern oder Wirtschaftsdaten handelt: mit der richtigen Statistik läßt sich jedes falsche Resultat aus der Infosuppe extrahieren.

Selbst wenn Sozialforscher und Datensammler einmal halbwegs richtig mit ihren Prognosen liegen, treffen sie auf politische und administrative Strukturen, die keineswegs davon besessen sind, aus trockenem Zahlenwerk reale Konsequenzen folgen zu lassen.

Gerade die Ära Kohl zeigt deutlich den geringen Einfluß der Sozial-Technokraten und den Primat der Politik. Die Entscheidungen, welche vor Jahren gegen eine Unzahl an wissenschaftlichen Erhebungen, Statistiken und Prognosen getroffen wurden, bescheren uns heute unerträglichen Wohnungsmangel in Ballungsgebieten, falsche Industriestrukturen, ein Millionenheer von Arbeitslosen und massenweise fehlende Kindergartenplätze. Bezüglich politischer Entscheidungsprozesse könnte man in Abwandlung eines alten Anarcho-Spruches formulieren: wenn Volkszählungen etwas ändern würden, wären sie verboten.

Der Fehleinschätzung, gesellschaftliche Entscheidungen könnten aufgrund rationaler Überlegungen und Auswertung relevanter Daten erfolgen, erliegen in Lobbykratien nur weltfremde Human-Ingenieure vom Schlage des ehemaligen BKA-Chefs Herold. Der mußte nach einem Interview mit der Zeitschrift 'TransAtlantik' 1981 seinen Hut nehmen - nicht, weil seine Vorstellungen von der Polizei als gesellschaftlichem Hygiene-Instrument bedenklich an '1984' erinnerten, sondern weil er für seine Behörde samt Fahndungscomputern politische Handlungskompetenz beanspruchte.

Selbst wenn der Staat per Datensammlung seine Bürger ausforschen wollte, träfe er auf schlichte technische Probleme. Wer jemals eine Diebstahlsanzeige auf einem durchschnittlichen deutschen Polizeirevier aufgegeben hat, wird kaum dem Glauben anhängen, die Behörden könnten mit ihren hoffnungslos veralteten EDV-Ausrüstungen dem Individuum auf die Spur kommen. Den Preis für eine adäquate Aufrüstung müßte der Steuerzahler aufbringen. Der wird dazu wenig Neigung verspüren, solange ihm nicht permanent Datenpiraten statt Waigel das Girokonto leeräumen.

Doch ein wenig symbolische Politik kann im Zweifelsfalle nicht schaden: Im Prinzip muß der Staat für sich beanspruchen, bei Verdacht auf Straftaten alles und jeden abhören zu dürfen. Andernfalls verlöre er seine Existenzberechtigung, denn der gesetzestreue Wähler erwartet eine sichere Datenautobahn. Ohne Regulierung, das weiß die Fernsehnation aus diversen Beiträgen von öffentlich-rechtlich bis privat, lauern schließlich hinter jeder zweiten Internetadresse finstere Kinderschänder, Drogenhändler oder Rechts- und Linksradikale. Da stört auch der Umstand nicht, daß Marcel Doutreaux keinen Internetanschluß hatte.

Mit feinem Gespür für das gesunde Volksempfinden unterbreitete Bundesforschungsminister Rüttgers so Ende August der 'Neuen Osnabrücker Zeitung' einen Aktionsplan zur Bekämpfung von 'Netzbeschmutzern'. Darunter versteht der medienbewußte Minister - wen wundertis - nicht nur 'linke Bombenbauer' und 'rechte Hetzer', sondern auch 'Mafios', die übers Netz dunkle Transaktionen vereinbaren' und jene, 'die mit Kinderpornographie große Kasse machen wollen'. Der Aktionsplan selbst nimmt sich etwas bizarr aus, hat aber den Vorteil, die Regierung nichts zu kosten: Zum einen ernennt Rüttgers jeden Internet-Teilnehmer zum Datenblockwart und fordert ihn auf, mutmaßliche kriminelle Verstöße den Behörden zu melden. Zum anderen verlangt er von den Service-Providern die inhaltliche Kontrolle ihrer Dienste und drängt sie zu einer schnellen Einigung. Dem ministerialen Drängen haben sich die meisten Internet-Provider immerhin durch Gründung eines Gremiums zur freiwilligen Selbstkontrolle ergeben.

Geht es um wirklich relevante Daten, verharrt die Politik lieber in Duldungsstarre. Spätestens beim Bankgeheimnis und den Steuererklärungen der Besserverdienenden sind medienwirksame Aktionspläne nicht mehr gefragt. Wer hier ernsthaft Hand anlegte und damit die Koalition gefährdete, stürbe schnell den politischen Tod von des ewigen Kanzlers Hand. Ebensowenig behindern die Administrationen der demokratischen Industrieländer die Bemühungen von Banken und Konzernen, anonyme und sichere Finanztransaktionen auf Internet-Basis zu gewährleisten - im Gegenteil - sie unterstützen diese Anstrengungen mit Forschungsprojekten. Wollten Regierungen sich tatsächlich des Treibens ihrer Bürger annehmen, böte sich an dieser Stelle ein wesentlich besserer Ansatzpunkt als mit dem Durchstöbern von EMails und Newsgroups.

Wo die Politik schon wenig echte Neigung zeigt, den Datenwust aufzudröseln, könnte der Datenreisende wenigstens fürchten, den Nachstellungen kommerzieller Anbieter und Internet-Direktwerber zum Opfer zu fallen.

Immerhin versprachen im letzten Jahr die Marketingstrategen der Werbeagenturen und Anzeigenabteilungen auf der Höhe der Internet-Hype ihren Kunden in der Tat eine Art gläsernen Web-Surfer. Dazu predigten die Anzeigenabteilungen der Content-Anbieter jedem, der es hören wollte, die demographischen Daten der Internet-Zielgruppe: jung, männlich, gebildet, und, sofern nicht in der Ausbildung, mit genügend Barem zu hemmungslosem Konsum versehen. Da alle relevanten Verbindungsdaten vermeintlich in den Logfiles der Webserver auftauchen sollten, schienen sich ungekannte Möglichkeiten der Werbewirkungsforschung und des Zielgruppenmarketings aufzutun. Firmen wie IPRO, Intersé und W3COM aus den traditionell etwas weniger um Datenschutz bemühten USA preisen denn auch vollmundig ihre Web-Trackingsoftware an und versprechen die Erstellung von Nutzerprofilen in Echtzeit.

Im Prinzip darf man derartige Versuche ruhig positiv sehen. Wer ärgert sich nicht über mit bunten Prospekten zugemüllte Briefkästen, prospektverschmierte Windschutzscheiben und nervtötende Unterbrecherwerbung im Fernsehen. Gegen solche Schrotschüsse böte personalisierte Web-Werbung eine Alternative: Wenn es bei kommerziellen Medienangeboten schon nicht ohne Werbung geht, dann sollte es wenigstens solche sein, die den individuellen Nutzer interessieren könnte. Die dienstleistungs- und kundenorientierte amerikanische Wirtschaft betrachtet ihre dahingehenden Experimente zu Recht als besonderen Service, zumal sich diverse Contentprovider dem Vorgehen mit hochwertigen individualisierten Inhalten anschließen. Der amerikanische Surfer nimmt denn auch eine wesentlich selbstbewußtere Haltung gegenüber Web-Werbern ein. Er begreift sich zumeist als König Kunde, dessen Konsumprofil den Firmen bei ihrer Produktplanung hilft.

In der Servicewüste Deutschland zeigt sich dagegen eine unheilige Allianz aus konservativer Werbebranche und kommerzfeindlichen Web-Fundis. Hierzulande geht es Werbewirtschaft und Firmen beileibe nicht um den einzelnen Web-Surfer. Statt dessen zählen immer noch die klassischen Begriffe der Mediaplaner wie 'realisierter Werbemittelkontakt' und 'Tausender-Kontaktpreis' - schon die Sprache verdeutlicht, daß es sich um Massengrößen handelt.

Zwar wird der Chef der Hamburger Medienagentur Kabel New Media, Peter Kabel, nicht müde, das Hohelied des Individual-Marketings per Internet und World Wide Web zu predigen. Die realen Zustände im deutschen Web geben allerdings auf den ersten Blick preis, daß die Verantwortlichen seine Vorstellungen nicht recht ernst nehmen. Bei den großen Contentprovidern regiert einfallslose Bannerwerbung auf 'Klick mich'-Niveau, die in der Regel auf nicht weniger einfallslose Web-Angebote verlinkt. Immerhin wirft die Lycos-Suchmaschine von 'Focus online' auf bestimmte Suchanfragen dynamisch generierte Werbung aus.

Der typische deutsche Web-Surfer scheint auch nicht viel von der Offenbarung seiner Individualität zu halten. Er wittert schon die unbestellte Lieferung einer 32bändigen Brockhaus-Ausgabe, sobald man ihn nur um die Angabe von ein paar demographischen Daten bittet, und lügt - eigentlich ein sympathischer Zug - den entsprechenden Formularen gern die Eingabemaske voll.

Unabhängig von lokalen Unterschieden im Selbstverständnis von Kunden und Anbietern konnte das Internet-Marketing bis jetzt seine hochgestochenen Versprechungen nicht einlösen: So kämpfen die Web-Statistiker noch immer mit massiven technischen Problemen. Proxy-Caches und Firewall-Rechner versauen die Werte für Nutzerzahlen und Seitenabrufe, sei es, weil durch Cache-Mechanismen viele Zugriffe nicht mehr auf dem Web-Server des Anbieters protokolliert werden oder weil für eine Vielzahl von Nutzern stets nur eine IP-Adresse übertragen wird. Bis heute existieren nicht einmal einheitliche Methoden zur Leistungsmessung von Online-Werbeträgern, die den gängigen Verfahren in anderen Medien wie etwa dem Print entsprechen. Von harten Fakten über individuelle Lebensgewohnheiten oder persönliche Vorlieben der Nutzer sind die Medienforscher noch Lichtjahre entfernt - vom gläsernen Websurfer kann also bislang keine Rede sein.

In der Not, ihren Werbekunden wenigstens halbwegs passable Nutzerzahlen nachzuweisen, greifen besonders amerikanische Contentprovider verstärkt zu 'Cookie'-Mechanismen. Die hatte Netscape zunächst für ganz andere Zwecke eingeführt, nämlich zur einfachen Programmierung von virtuellen Einkaufskörben für das Internet-Shopping. Auf den meisten Websites dienen Cookies jetzt lediglich zur Unterscheidung von Nutzerzugriffen, die sich wegen identischer IP-Adressen sonst nicht auseinanderhalten lassen. Leider können Anbieter Cookies auch dazu verwenden, den 'Clickstream' eines Nutzers durch die Website zu verfolgen. Der Verdacht auf ein derartiges Tracking ist immer dann gegeben, wenn die Lebensdauer des Cookies deutlich in der Zukunft liegt. Ob dem so ist, läßt sich unter Netscape 3.0 leicht überprüfen: Der Navigator enthält eine Option, die bei jedem Versuch eines Webservers, Cookies zu setzen, Alarm auslöst und die Daten des Kekses anzeigt.

Ob mit oder ohne Cookies: was man im Augenblick tatsächlich an Werbewirkung im Netz messen kann, dürfte Mediaplaner und Werbewillige nicht gerade von der Attraktivität der Web-Werbung überzeugen. Zahlen und globales Nutzerverhalten zeigen recht deutlich, daß die Surfergemeinde gegenüber der Werbewirtschaft gut auf sich selbst aufpassen kann. So verfügt die Zielgruppe anscheinend über genügend Bildung, um ihre Lebenszeit nicht mit dem Download von animierten GIF-Werbebildchen zu verschwenden: Rund die Hälfte aller Nutzer umsurfen bewußt werbebepflasterte Homepages, wenn sie nur irgendwie anders zum Content gelangen können.

Mit der Bereitschaft, sich die webmäßige Selbst- und Produktdarstellung der Werbetreibenden anzutun, ist es in Surferkreisen anscheinend auch nicht weit her. So scherzte die Internet-Szenezeitschrift 'Wired' vor kurzem mit der Frage 'Worauf haben Sie im Web noch nie geklickt?' und lieferte mit der Antwort 'Auf einen Werbebanner' die bittere Werbe-Wahrheit gleich dazu. In der Tat liegen die Klickraten für pfiffig gemachte Anzeigen in gut besuchten deutschen Content-Angeboten bei ein bis zwei Prozent der Nutzerzahlen - für langweilige Banner können sie schon einmal in den Promille-Bereich abrutschen. Ähnlich unwillig geben sich die Nutzer, wenn es darum geht, ihre (echte) EMail-Adresse anzugeben.

Unter diesen Umständen mögen Werbebanner, Klickstream-Profile und unverlangt zugesandte Reklame-EMails zwar lästig sein. Als eine Gefahr für die Privatsphäre wären sie aber weit überbewertet. Wer sich dazu einmal bewußt macht, mit wieviel Werbung er im realen Leben täglich konfontiert wird, wird den um vieles geringeren Anteil von Web-Werbung leichter ertragen. Außerdem: Wollen wir etwa mit Werbe- und Konsumverweigerung den Standort Deutschland noch weiter gefährden?

Letztlich wird die Qualität von Freiheit und Privatsphäre nicht von globaler Vernetzung und virtuellen Räumen, sondern von den realen Verhältnissen vor Ort abhängen. Wer das Netz also von einer Weltgegend aus bereist, in der Privatsphäre und öffentliches Handeln ohnehin starker Obrigkeitskontrolle unterliegen, muß im Netz gleichfalls entsprechende Vorsicht an den Tag legen.

Für den politisch unbotmäßigen Surfer aus den westlichen Industriedemokratien reicht es aller Voraussicht nach auch auf der Infobahn nicht zum Märtyrer: Die Sicherheitsbehörden mögen in Zukunft wohl einigen Aufwand treiben, um den allgegenwärtigen Datennebel auf der Suche nach Terroristen und Schwerkriminellen zu durchstochern. Zum Aufspüren von kleinen Fischen fehlen ihnen - ganz wie im realen Leben - schlicht der Auftrag und das Geld. Softwaretauschern und Gelegenheitspornographen bleiben allemal PGP, IRC und anonymisierende Remailer.

Wer schließlich fürchtet, mit hitzigen Newsgroup-Postings eines Tages seine Position als Konzernlenker oder Minister für Wahrheit gefährdet zu sehen, mag dann die Internet-Version der Masche mit dem Unterschriftsautomaten als Ausrede nutzen: Solange keine digitalen Signaturen und Identitätskontrollen im Netz existieren, kann jeder etwas geschicktere Hacker unter meinem Namen Postings verfassen. Und letztlich gilt für eine Gesellschaft und gerade im Web die alte Großmutterweisheit: Ist der Ruf erst ruiniert, surftis sich völlig ungeniert. (ae) ()