Midlife-crisis

Mutter IBM erfreut sich bester Gesundheit. Sohnemann OS/2 dagegen taumelt schon im zarten Alter von zehn Jahren in seine Midlife-crisis. Die Geburtstagsgäste sind sich nicht einig. Die einen sehen ihn als kraftstrotzenden Jüngling mit glänzender Zukunft. Andere dagegen meinen einen schwächelnden Greis vor sich zu haben, der kaum noch auf die Beine kommt.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Jürgen Kuri
Inhaltsverzeichnis

Gandalf! Schon der kleine Hobbit war beeindruckt, als Tolkiens Zauberer das erste Mal auftauchte. Kein Wunder, daß sich auch die OS/2-Gemeinde von dem mysteriösen Mann bezaubern läßt. Der Codename für die nächste OS/2-Version scheint trickreich gewählt. Denn die Gerüchte kochen über, zu was sie alles fähig sein soll. Gandalfs Vorgänger hat allerdings so seine Probleme mit der Entfaltung seiner Zauberkraft. OS/2 Warp 4, lange unter dem Codenamen Merlin geführt, enttäuschte viele, die sich den nächsten Aufschwung für OS/2 im Endanwendermarkt erhofft hatten. Und das ausgerechnet zum zehnten Geburtstag!

Geplant war Merlin eigentlich als die Version, die OS/2 endgültig bei den Heimanwendern duchsetzen sollte. Großkunden hin oder her, immerhin hatte IBM mit OS/2 Erfolge vorzuweisen. Insgesamt wurden seit 1987 über zehn Millionen Exemplare verkauft, wovon ein Großteil in den Versionen ab 2.0 und vor allem OS/2 Warp 3 bestand. Verkäufe gingen einmal nicht nur an Banken - auch kleinere Betriebe und Endanwender interessierten sich für das IBM-System.

Besonders die deutsche IBM tat sich hervor, teilweise konnte sie von Warp 3 jährlich über eine Million Pakete an den Mann und die Frau bringen. Leider, leider sah es in den USA, immer noch dem wichtigsten Markt für Computerprodukte, nicht ganz so rosig aus. Anfängliche Euphorie wich schnell Ernüchterung - inzwischen liegen die US-Verkäufe von OS/2 in diesem Bereich nahezu bei Null. Auch in den USA ist OS/2 allerdings als wichtigstes Betriebssystem bei einigen Großkunden im Einsatz. Kein Wunder, daß die amerikanische IBM kurz vor der Freigabe von OS/2 Warp 4 das Ruder herumriß und den Schwerpunkt auf eben diese Großkunden verlegte.

Die Verwirrung, die Warp 4 auslöste, war entsprechend groß. Die meisten Features und Veränderungen der neuen Release wirkten wie für Heimanwender gemacht. Für Firmen bedeutet etwa die doch sehr an Windows 95 angepaßte Oberfläche vor allem eines: neue Schulungskosten. Die Neuerungen ausgerechnet im Netzwerkbereich hielten sich arg in Grenzen. Und die Sprachsteuerung, beziehungsweise die Diktierfähigkeiten überzeugte die Großkunden nicht. Ein Großteil von ihnen ist heute noch auf dem Stand von OS/2 2.11, einige sind zu Warp 3 gewechselt. Installationen von Warp 4 in diesem Bereich kann man immer noch suchen wie die Stecknadel im Heuhaufen.

Die Wege von IBM sind oft unerforschlich und geheimnisvoll. Mit Warp 3 und besonders Warp 3 Connect stellte man eine Version vor, die gerade für Unternehmen sehr ansprechend war. Eine Oberfläche, die schon seit OS/2 2.0 bekannt war, in Kombination mit Netzwerk-clients, einer ausgezeichneten TCP/IP-Implementation sowie Internet-Zugang, bot alles, was Anwender wie System-Administratoren in den Firmen sich wünschten - auch die bekannte Stabilität und Eignung für ressourcenfressende Transaktionssysteme. Gleichzeitig versuchte IBM besonders in Deutschland, aber auch in den USA diese OS/2-Release in den Endkunden-Markt zu drücken. Vereinbarungen mit Vobis und einigen PC-Herstellern über die Vorinstallation des Systems sorgten für einige Überraschung - und für Verunsicherung bei den Firmen, ob denn überhaupt noch der Support gewährleistet sei, den sie erwarteten.

Aber obwohl Warp 4 sich anscheinend an den End-User richtete, gab man die Versuche seiner Etablierung in diesem Markt vollständig auf - Konzentration auf den Großkunden und das Network Centric Computing waren angesagt. Das Durcheinander ist perfekt: Die IBM hackt sich wieder einmal selbst Beine und Arme ab, um dann wie die kriegsversehrten Bettler von Otto Dix dem Markt hinterherzurollern.

Die Verwirrung hat damit aber noch kein Ende. IBM gab immer mehr NT-Versionen von Software-Paketen frei, die bislang entwender nur für OS/2 oder für OS/2 und AIX verfügbar waren. Mit DB2, Systemview (beziehungsweise Tivoli TME10), Lotus Notes, Communications Server und anderen löst die IBM NT-Probleme, die Microsoft bislang nicht in den Griff bekommt. Daß bei einer 28prozentigen Steigerung des IBM-Dienstleistungssektors im ersten Quartal 1997 ein großer Teil dieses Erfolges auf NT-Projekte zurückgeht, braucht da niemanden zu wundern.

Eher verwundert es, daß erst so wenige Großkunden ins Grübeln kommen, wo IBM sie mit der Nase darauf stößt, es doch einmal mit NT zu probieren. Im Zweifelsfall hat man ja IBM im Hintergrund, die erwiesenermaßen ein gerüttelt Maß an Erfahrung mit Großprojekten hat - ganz anders als Microsoft. IBM liefert auch alles, was für einen Umstieg auf NT benötigt wird. Neben den großen Softwarepaketen auch die wichtigen Tools. Die Windows-Version von Rexx, der Script-Sprache von OS/2, erscheint vielen als das Beste seit der Erfindung des Rads. Viele Firmen haben mit Rexx eigene Anwendungen und Utilities für ihre OS/2-Installationen entwickelt. Auf die verzichtet niemand gerne, nur weil Microsoft immer noch nicht in der Lage ist, eine vernünftige Script-Sprache für NT zu liefern.

Und IBM tut alles dafür, den Ruf als NT-Experte mit ausreichend Know-how in Netzwerken und Großprojekten zu fördern. Wenn spätestens im Juni erste Versionen der ObjectRexx Developer Edition herauskommen, wird ein Aufschrei durch die OS/2-Gemeinde gehen: ObjectRexx mit Debugger, Tracer und grafischer Entwicklungsumgebung für NT - auf diese netten Zugaben müssen die OS/2-User verzichten. Noch mehr solche Aktionen, und niemand glaubt das Commitment zu OS/2 mehr.

Natürlich wird IBM OS/2 nicht aufgeben. Aber nicht aus Begeisterung für das System, sondern weil die Firma gerade von den vielbeschworenen Großkunden dazu gezwungen wird. Zu hoch sind deren Investitionen, zu schwierig der Umstieg, als daß ein schneller Tod von OS/2 auch nur entfernt im Bereich des Wahrscheinlichen läge.

Auf der anderen Seite heißt dies gewiß nicht, OS/2 würde sich eines blühenden Lebens erfreuen. Die Zusage der IBM, OS/2 noch mindestens für zehn Jahre weiterzuentwickeln, bedeutet nur die Unterstützung für laufende Projekte. Hinter vorgehaltener Hand erfahren die Kunden, daß IBM die OS/2-Fahne zwar nicht einholt, aber höchstens noch auf Halbmast hängt. Laufende Projekte solle der Kunde abschließen, parallel dazu werde IBM bei der Migration zu neuen Systemen helfen.

Hier zeigt sich, neben dem verfehlten Marketing, eines der größten Probleme, was IBM und OS/2 angeht: mangelnde Transparenz. Es ist nahezu unmöglich, von IBM offizielle Aussagen zu OS/2 zu erhalten, die über Allgemeinplätze hinausgehen. Keine guten Voraussetzungen, um das Vertrauen in die Zukunft des Betriebssystems zu stärken, zumal interne Informationen ganz anders klingen.

Das OS/2-Labor in Austin (das Labor in Boca Raton wurde ja geschlossen und die Entwickler, so sie denn wollten, nach Austin verschoben) wird `finanziell ausgequetscht, daß das Blut spritzt´, kann man unter der Hand hören. Und Gandalf? Der neue Zauberer ist nicht mehr als ein Gerücht. Selbst wenn OS/2 noch einmal eine höhere Versionsnummer verpaßt bekommt, wird es keine neue Release sein. Die Weiterentwicklung von OS/2 beschränkt sich auf Bug-Fixes und die vorsichtige Integration neuer Technologien. Wer heutzutage mit IBM-Mitarbeitern spricht, bekommt nur noch zu hören: Java. Und Java. Und noch mehr Java. Ein neues OS/2 als Client-Version wird es definitiv nicht geben, so kann man, hört man genau hin, ebenfalls erfahren. Es ist weit und breit nichts zu sehen von all den schönen Sachen, die OS/2-Fans in die neue Version hineingeheimnissen.

Natürlich, offiziell schlägt IBM problemlos alle Java-Entwicklungen OS/2 zu - schließlich existiert die Java Virtual Machine für OS/2 schon länger. Ein OS/2-Kernel mit Java VM und Web-Browser, ohne WPS (allerdings mit GDI) und dem anderen Schnickschnack läuft in den Labors schon: Ein Projekt, das demonstriert, wohin die Reise geht, wie sich IBM die Migration von OS/2 zu anderen Systemen vorstellt. Da rennen sie bei vielen Firmen offene Türen ein. Ein Großteil ihrer Anwendungen besteht in sogenannter vertikaler Software, also Eigenentwicklungen der Unternehmen für spezielle Bedürfnisse. Kann IBM einen vernünftigen Migrationspfad vorweisen, hält sich der Schmerz über die eingeschränkte Unterstützung von OS/2 in Grenzen.

Langsam die Migration zu planen, ist für viele Kunden auch dringend angeraten. Neben den offensichtlichen Richtungsweisern wie ObjectRexx und den Software-Servern für NT ergeben sich auch im Innern des Systems Schwachpunkte. SOM und OpenDoc sind für IBM tot. Für OpenDoc war dies schon länger klar, bei SOM zuckt man überrascht (und erschreckt) zusammen. Immerhin stellt es die Basis für viele der schönen Möglichkeiten dar, die Anwender bislang zu OS/2 gebracht haben. Die gesamte Workplace Shell, immer noch eine der mächtigsten und einfachsten Oberflächen für Betriebssysteme, baut vollständig darauf auf.

IBM aber propagiert heute Java und die JavaBeans. Verteilte Objekttechnologien mit DSOM und den Object-APIs für Business Applications (BOS oder Business Object Services genannt) passen damit gut zusammen. Ein lokales SOM dagegen nicht. So heißt es sogar, daß SOM-Labor werde geschlossen. SOM ist keine Basistechnologie mehr. Wer all die Ankündigungen von IBM genauer liest, die neue Erfolge für OS/2 vermelden, erfährt vor allem eines: OS/2 ist nur noch die Basis für Java-Anwendungen. Selbst die mit viel Tamtam aus der Taufe gehobene Abteilung Network Computing Projects, die ausdrücklich OS/2-Kunden unterstützen soll, spricht in ihren Unterlagen nur von Java- und Notes-Projekten.

Das Ziel heißt Network Computer beziehungsweise Thin Client. Von IBM als Teil des Network Centric Computing mit aus der Taufe gehoben, schlägt IBM zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens kommt IBM damit den Großkunden entgegen, die mit den PCs als Client-Arbeitsplätzen schon lange nicht mehr zufrieden sind (die Diskussion um Total Cost of Ownership spiegelt nur ein Teil des Problems wider). Zweitens verringert der schmale Netzwerk-Client in Kombination mit Java beziehungsweise einem JavaOS die Abhängigkeit auch der IBM von Intel und Microsoft. IBM will die Kontrolle über die Technologie auf der Client-Seite zurückgewinnen - genau das, was sie mit OS/2 nicht geschafft haben. Den Server aber glaubt man sicher zu haben, sei es mit OS/2, NT, AIX oder gar einer großen Büchse vom Schlage der S/390.

Eine Midlife-crisis geht vorbei. Entweder bricht der Betroffene zu neuen Ufern auf oder dämmert langsam auf die Rente zu. Leider scheint bei OS/2 alles für letzteres zu sprechen. Zu neuen Ufern bricht nur die Mutter IBM auf.

Ob die Strategie aufgeht, mit den Kunden laufende OS/2-Projekte abzuschließen und dabei langsam auf Java zu migrieren, wird sich zeigen. IBM ist in der Zwickmühle. Sie kann OS/2 nicht mit einem Knall einstellen - die verlorenen OS/2-Kunden wären auch verlorene IBM-Kunden. Sie kann aber auch niemandem mehr weismachen, OS/2 wäre das Betriebssystem der Zukunft - denn IBM tut alles, um andere Lösungen zu propagieren.

Den Unternehmen kann´s egal sein, solange ihre Geschäfte nicht gestört werden, solange also IBM ihnen eine saubere, problemlose Migration anbietet. Für die Gemeinde der OS/2-User sind das natürlich düstere Aussichten. Da hilft es nur, das erworbene OS/2-Know-how in andere Richtungen zu lenken. Schließlich bedeutete es schon immer auch Netzwerk-Know-how ... Der IBM wünscht man dagegen, sie könnte sich zu etwas mehr Transparenz entschließen. Nicht nur die Firmenkunden wären glücklicher, wenn sie wüßten, wie der Hase läuft. Auch mancher ideologische Streit um Betriebssysteme ließe sich begraben. Die Energien kann man ruhigen Gewissens für wichtigere Dinge einsetzen. (jk) (jk)