Liebes Tagebuch!

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Dr. Oliver Diedrich

Liebes Tagebuch!

31.8.1997

Ich bin stinksauer. Über zwei Monate habe ich jetzt damit zugebracht, den perfekten Webserver für die Firma zu basteln. Ich weiß gar nicht, wie viele Patches ich in die Apache-Quellen eingebaut habe, bis alles perfekt lief. Am Ende mußte ich sogar am Linux-Kernel rumfummeln, wegen der Netzwerksicherheit. Dafür entspricht meine Lösung hundertprozentig dem Pflichtenheft - sowas gibt´s für kein Geld der Welt zu kaufen.

Ich gehe also zum Chef, sage ihm, ich habe den Webserver genauso hingekriegt wie gewünscht, und führe ihm das System vor. Zuerst war er mächtig beeindruckt, auch weil alles so flott lief, ohne daß ich eine müde Mark für neue Hardware ausgegeben habe. Aber am Schluß fragt er, ob die Software denn auch von Microsoft kommt. Ich antworte, daß eine derart individuelle Anpassung mit MS-Software gar nicht möglich sei - und er nur: "Aber dann ist das doch gar nicht kompatibel! Das können wir uns als führendes Unternehmen der EDV-Branche nicht leisten." Ende der Diskussion.

16.11.1997

Es ist schon komisch. Mein Webserver ist doch im Einsatz - und keiner hat es gemerkt. Heute hat mich der Chef gelobt, daß der Server noch nicht ein einziges Mal abgestürzt ist. Wenn er wüßte, daß das meine Lösung mit Apache unter Linux ist, er würde mich sofort rausschmeißen: Es gibt inzwischen nämlich eine offizielle Anweisung, daß wir nur Software "unseres langjährigen Partners Microsoft" einsetzen dürfen.

22.12.1998

Unglaublich: Heute kommt der Chef ganz aufgeregt rein, gerade von seinem USA-Trip zurück. Ob denn bei uns auch Linux laufen würde? Damit könnten wir doch wahnsinnig viel Geld sparen, und stabiler als Windows sei es doch auch. Anscheinend hat er auf dem Flug irgend etwas darüber gelesen, oder jemand in den USA hat ihm was erzählt. Wie auch immer: Ich zeige ihm meinen alten Webserver, und er ist total glücklich. "Wir müssen uns endlich aus der Abhängigkeit von diesem Software-Monopolisten lösen", meint er. Ich mußte mich ja mächtig zurückhalten ...

29.10.1999

Das war vielleicht ein Flop heute. Ich habe das perfekte Projektverwaltungssystem für die Firma gefunden. Wochenlang habe ich gesucht, verglichen und rumgetestet, und das Programm dieses Softwarehauses paßt einfach in jeder Beziehung. Man könnte meinen, die hätten das speziell für uns entwickelt. Wenn wir selbst was basteln, kostet uns das ein Vielfaches der paar tausend Mark, die die für ihr System wollen.

Also lege ich mein Konzept dem Chef vor und erkläre ihm, wieviel Geld und Zeit wir mit dieser Fertiglösung sparen. Zuerst war er völlig überzeugt und lobte meine gründliche Marktrecherche. Aber dann fragt er, ob diese Software denn auch Open Source ist. Ich sage ihm, nein, diese Lösung beruhe auf ganz traditionellen kommerziellen Softwarekomponenten. Darauf er: "Aber dann ist das ja proprietär. Das können wir uns als führendes Unternehmen der EDV-Branche nicht leisten." Schluß aus. Naja, der nächste Trend kommt bestimmt ...

Oliver Diedrich

(odi)