Durchgefallen

Nicht nur die Auszubildenden, auch Lehrer, Ausbilder und Berufsbildungsexperten halten die bisherigen theoretischen Prüfungen in den IT-Berufen für unzulänglich. In Zukunft soll ein Prüfungskatalog verhindern, dass die Beteiligten von unerwarteten Fragen überrascht werden.

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Von
  • Angela Meyer
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‘Als verantwortliche Ausbilder dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie Auszubildende nach drei Jahren intensiver Vorbereitung auf einen herausfordernden Beruf in eine Sinnkrise stürzen und die zurückliegende Ausbildungszeit in Frage stellen. Da kann ich mich nicht achselzuckend vor meine Lehrlinge stellen und konstatieren, dass betriebliche Praxis und Berufsabschlussprüfung nichts miteinander zu tun haben.’

Peter Spies, Geschäftsführer der Infoways Faxmarketing KG und Vorsitzender eines der Prüfungsausschüsse für kaufmännische IT-Berufe, hält mit seinem Ärger über die Abschlussprüfungen in den 1997 eingeführten neuen IT-Berufen nicht hinter dem Berg. Rund 5000 junge Erwachsene haben damals die Ausbildung zum Fachinformatiker Systemintegration oder Anwendungsentwicklung, zum IT-Systemelektroniker, zum Informatikkaufmann und zum IT-Systemkaufmann begonnen.

‘Die Auszubildenden wollen nach drei Jahren unter Beweis stellen, dass sie gelerntes Wissen qualifiziert anwenden können. Eine Prüfung hingegen, die offensichtlich von Leuten erstellt wurde, die technisches ‘Kreuzworträtselwissen’ abfragen wollen, taugt dafür nicht. Ohne Zusammenhänge der EDV in die Prüfung einzubeziehen kann nicht ernsthaft über Wohl und Wehe für die zukünftige berufliche Laufbahn von Tausenden von jungen, engagierten IT-Leuten entschieden werden. Der ‘Prüfungsfragen-Erfindungsausschuss’ muss sich die Frage gefallen lassen, wie mit einem durchgefallenen oder schlecht bewerteten Azubi umzugehen ist, der zwar fachlich nachweislich sehr versiert ist, es aber versäumt hat, die technischen Daten aus einer Bedienungsanleitung auswendig zu lernen.’

Mit seiner Kritik steht Spies nicht alleine, andere Ausbilder und Berufsschullehrer sahen sich nach der Prüfung ebenfalls verunsicherten und verärgerten Auszubildenden gegenüber. ‘Ich habe das Gefühl, dass ich die ganze Zeit das Falsche gelernt habe. Die Prüfungsfragen haben mit dem Berufsbild doch gar nichts zu tun’, lautet der Tenor der Klagen, gefolgt von der Sorge, dass jetzt schlechte Noten auf ihrem Abschlusszeugnis stehen, weil die Fragen sich nicht auf das bezogen, was sie in Berufsschule und Betrieb gelernt haben.

Die Kritik kommt nicht zum ersten Mal [1|#lit1]. Bereits bei den vorgezogenen Prüfungen im Juli 1999 und im Januar 2000 gab es Beschwerden von Auszubildenden, Berufsschulen und Betrieben, ohne dass sich dadurch Grundlegendes geändert hat. Jetzt hat das Gros der 1997 eingestellten Auszubildenden die theoretische Abschlussprüfung abgelegt. Neben der betrieblichen Projektarbeit, die ebenfalls von einem von der jeweils zuständigen Industrie- und Handelskammer (IHK) eingesetzten Prüfungsausschuss bewertet wird, ist diese Prüfung mit die Grundlage für das Ausbildungszeugnis der Kammern - der Eintrittskarte in das Berufsleben.

Entsprechend empfindlich reagierten jetzt die Betroffenen auf die ihrer Meinung nach unhaltbaren Zustände und machten unter anderem unter www.fachinformatiker.de ihrem Unmut Luft. Die Prüfungen zum Fachinformatiker Systemintegration unterschieden sich nicht von denen der Fachinformatiker Anwendungsentwicklung, hieß es dort unter anderem, obwohl die Berufsbilder sehr wohl zu unterscheiden seien. Angehende Systemelektroniker beschweren sich vor allem darüber, dass der Ausbildungsschwerpunkt Netzwerke in den Prüfungen nicht oder nur am Rande vorgekommen sei - dafür aber sehr detaillierte Fragen zum Thema ISDN, stark angelehnt an Beispiele aus der Telekom-Broschüre ISDN leichtgemacht. Und bei allen sei nach der Geschwindigkeit eines AGP-Busses gefragt worden - nachschlagbarem Detailwissen, obwohl die so genannten Ganzheitlichen Prüfungen eigentlich die Fähigkeit zur Lösung berufstypischer Probleme abfragen sollen.

Die Ursache für die sich wiederholenden Probleme scheint in der Organisation von Ausbildung und Prüfung zu liegen. Die Fragen werden zentral für das Bundesgebiet - mit Ausnahme von Baden-Württemberg - von einem Aufgabenerstellungsausschuss formuliert. Die Inhalte der Ausbildung sind aber nur relativ grob in Rahmenlehrplänen festgeschrieben, die Berufsschulen und Betriebe selbst mit konkreten Inhalten füllen müssen. Dadurch kann die Ausbildung wechselnden Anforderungen unbürokratisch angepasst werden. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass die Ausbildung im Detail sehr unterschiedlich aussehen kann.

Insbesondere aus den Berufsschulen wurden deshalb bereits nach den vorigen Prüfungen Vorschläge laut, das Verfahren zu ändern. Notwendig sei mindestens eine bessere Abstimmung der Lehrenden und der Prüfenden. Bisher sind auch die Lehrer regelmäßig von den Prüfungsfragen überrascht worden. Andere fordern, die Berufsschulen an der Erstellung der Fragen zu beteiligen, zum Beispiel, indem die Lehrer ähnlich wie beim Abitur Vorschläge einreichen, aus denen von einer zentralen Kommission ausgewählt wird.

Ulrich Krause, Berufsschullehrer und ebenfalls Mitglied eines Prüfungsausschusses für die beiden eher technischen IT-Berufe, hält den theoretischen Teil der Abschlussprüfung für völlig entbehrlich. ‘Die Grundlagen werden doch bereits in der Zwischenprüfung abgefragt. Neben der betrieblichen Projektarbeit sollte man lieber die Berufsschulnoten in die Abschlussnote einbeziehen.’

An der grundsätzlichen Struktur der Ausbildung und der Prüfungen lässt sich ohne weiteres aber nichts ändern: Sie ist im Berufsbildungsgesetz sowie den entsprechenden Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen festgeschrieben. Danach haben die Kammern als Vertretung der Betriebe das Prüfungsprivileg in der dualen Berufsausbildung und damit auch bei den IT-Berufen. Die Aufgaben selbst kommen dabei von den Aufgabenerstellungsausschüssen, die sich aus Ausbildern und Berufsschullehrern zusammensetzen. Das Berufsbildungsgesetz schreibt fest, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam die Aufgaben in der Berufsbildung wahrnehmen. Das heißt für die Aufgabenerstellungsausschüsse ebenso wie auch für die Prüfungsausschüsse, dass diese paritätisch je zu einem Drittel mit Vertretern dieser beiden Gruppen und der Berufsschulen besetzt sein müssen.

‘Leider haben die Kammern immer noch Umsetzungsschwierigkeiten’, bedauert Michael Ehrke, Berufsbildungsexperte beim Vorstand der IG Metall. ‘Das liegt nicht nur an dem Problem, ein fortschrittliches Prüfungssystem in die Praxis zu bringen, sondern die Kammern scheuen auch Kosten und Mühe, zum Beispiel bei der Schulung der Prüfungsausschussmitglieder, die jetzt selbständig die Prüfungen kontrollieren und bewerten müssen.’

Ehrke sieht darüber hinaus aber auch strukturelle Probleme durch die zentrale Aufgabenerstellung. Den Gewerkschaften ist die derzeitige Form ein Dorn im Auge. ‘Die Arbeitgeberseite fährt die für die Aufgabenerstellung zuständigen Organisationen in einer Grauzone.’ Der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) als Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern fürchte, im Prüfungsgeschäft an Einfluss zu verlieren und sperre sich vor allem deshalb gegen eine stärkere Verlagerung der Prüfung auf Betriebe und Berufsschulen.

Zuständig für die Aufgabenerstellung bei den Abschlussprüfungen in den IT-Berufen ist die bei der IHK in Nordrhein-Westfalen angesiedelte Zentralstelle für Prüfungsaufgaben (ZPA) mit Sitz in Köln. Die Zwischenprüfungen dagegen liefert die Arbeitsstelle für kaufmännische Zwischen- und Abschlussprüfungen (AKA), ansässig bei der IHK Nürnberg. Beide sind Gemeinschaftsorganisationen der Kammern, die für alle kaufmännischen Berufe nicht nur die Aufgabenerstellung, sondern auch den Druck der Prüfungsunterlagen und die Auswertung der Prüfungen organisieren. Aus praktischen Gründen sind alle IT-Berufe trotz ihres zum Teil überwiegenden technischen Anteils ZPA und AKA zugeordnet worden.

Etwa 500 000 Abschlussprüfungen gebe es in der dualen Berufsausbildung in jedem Jahr, ein schriftlicher Aufgabensatz koste derzeit etwa 170 Mark, meint Ehrke, die als Teil der Einschreib- und Prüfungsgebühr von den Betrieben bezahlt würden. ‘Wenn wir hier jetzt mit Neuerungen kommen, die zu einem geringeren Aufwand bei der Aufgabenerstellung führen, greifen wir in einen Markt ein, in dem, ohne dass es wirklich offen gelegt wird, einige hundert Millionen Mark umgesetzt werden.’

Zustimmung für diese Sichtweise gibt es bei den Gescholtenen naturgemäß nicht. Andreas Bähre, Leiter der ZPA, sieht die Ursachen woanders. ‘Dass es Probleme gibt, ist nichts Neues und die Probleme gibt es nicht nur im schriftlichen Teil’, meint Bähre. ‘Das Dilemma ist, dass alle guten Glaubens handeln, das Ergebnis aber trotzdem unbefriedigend ist.’

Das liege an den ungewöhnlich heterogenen Ausgangsbedingungen: ‘Wir stehen vor einer Branche, wo der Zwei-Mann-Betrieb und der Weltkonzern nebeneinander ausbilden und vom 17-jährigen Gesamtschüler bis zum diplomierten Auszubildenden ganz unterschiedlich vorgebildete Leute in die Abschlussprüfung kommen.’ Auch die Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne seien offener formuliert als anderswo. ‘Um nicht missverstanden zu werden: Das ist auch notwendig, weil sie nur so in dieser heterogenen Branche auch Ausbildung an allen Orten möglich machen.’ Da sich deshalb an diesen offenen Formulierungen nichts ändern werde, müsse sich also an der Prüfung etwas ändern.

Einer der Kernpunkte der Kritik, die mangelnde Abstimmung zwischen Ausbildenden und Prüfenden, werde jetzt angegangen. Eine Gruppe von 40 Fachleuten aus allen Berufen und Bundesländern - sowohl Ausbilder als auch Berufsschullehrer - soll bis zum Jahresende einen Prüfungskatalog erarbeiten. ‘Wir wollen damit nicht den Lehr- und Ausbildungsplan ersetzen’, wehrt Bähre die Einwände von Bildungspolitikern ab. In diesem Katalog sollen die Inhalte der Prüfungsordnung aufgelistet und kommentiert werden. Zum Beispiel könnte dort bei dem Stichwort Programmierung stehen, dass die Prüfung nur bis hin zur strukturierten Programmierung gehe, nicht aber ausformulierten Programmcode verlange. Ziel sei es, Auszubildenden ebenso wie Ausbildern und Lehrern eine bessere Prüfungsvorbereitung zu ermöglichen.

Den jetzt Geprüften wird das nicht mehr helfen. Man will sich aber nach Aussage von Bähre zumindest in Schadensbegrenzung üben: Der Aufgabenerstellungsausschuss werde auch nach dieser Prüfung noch im laufenden Auswertungsverfahren zusammenkommen und die eingegangene Kritik sichten. ‘Wenn wir feststellen, die Kritik ist korrekt, dann werden wir das auch den Kammern mitteilen und das wird, wie immer, bei den Bewertungen gegebenenfalls berücksichtigt.’

Selbst wenn man die strukturelle Kritik außer Acht lässt, dürfte da einiges zusammenkommen: Die Detailklagen reichen von Schreibfehlern wie PX/SPX für das Protokoll IPX/SPX, über den Auftrag, die für eine Anwendung ausgewählten Drucker zu vergleichen, obwohl nur eines der vorgeschlagenen Geräte die geforderten Eigenschaften hat, bis zu unklaren Fragestellungen, unangemessenen Punktevergaben und zu knappen Zeitvorgaben. Ein Fehler allerdings geriet den Prüflingen eher zum Vorteil: Bei der Prüfung für die IT-Systemkaufleute fiel im fachspezifischen Teil eine von fünf Aufgaben weg. Die Lösung war bereits daneben abgedruckt. (anm)

[1] Angela Meyer, Aller Anfang ist schwer, Die neuen IT-Berufe kommen trotz einiger Kritik gut an, c't 6/00, S. 96 (anm)