Nachzügler

Deutschland setzt EU-Richtlinien chronisch zu spät um. Grund dafür ist unter anderem eine völlig veraltete Datenbanksoftware, mit der die Bundesregierung die Umsetzung koordiniert.

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Von
  • Christiane Schulzki-Haddouti

Wenn es um die rechtzeitige Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht geht, ist Deutschland gemeinsam mit Luxemburg, Griechenland und Italien europäisches Schlusslicht; Fristüberschreitungen sind hierzulande die Regel. In den letzten fünf Jahren musste die Europäische Kommission in 305 von insgesamt 531 Fällen Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten und die Tendenz ist negativ: 2003 konnte die Bundesregierung 86 Prozent der Richtlinien nicht termingerecht umsetzen. Eine derart schleppende Umsetzung füge der Wirtschaft und den Bürgern „enormen Schaden“ zu, die nicht in vollem Umfang vom Binnenmarkt profitieren könnten, wetterte die Kommission.

Fristüberschreitungen sind in Deutschland die Regel: Mehr als die Hälfte der EU-Richtlinien werden zu spät umgesetzt, Tendenz steigend.

Der Bundesrechnungshof untersuchte Anfang 2004 die Ursachen der schleppenden Umsetzung. Eine interne Prüfmitteilung an das Bundeswirtschafts- und Arbeitsministerium (BMWA), die c't vorliegt, nennt neben Managementfehlern und Personalmangel die „fehlerhafte und unvollständige Datenerfassung“ durch das Bundeswirtschaftsministerium, die eine effiziente Koordinierung der Richtlinienumsetzung erschwere.

Die Umsetzung der EU-Richtlinien liegt in den Händen von zwei Ministerien: Das Bundesfinanzministerium (BMF) erfasst die Richtlinienvorhaben und leitet sie an die zuständigen Ressorts und den Bundestag weiter. Während der Umsetzung ist das BMWA für die Koordinierung zuständig. Es meldet auch den Fortschritt der Umsetzung an die Europäische Kommission und unterrichtet den Bundestag über Vertragsverletzungsverfahren. Sobald aber Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben wird, ist wieder das BMF zuständig - denn die Verfahren kosten Geld.

Obwohl diese dezentrale Koordinierung höchst anspruchsvoll ist, verwendet Wolfgang Clements Wirtschaftsministerium dafür eine veraltete Datenbank aus den frühen 80er Jahren, die vor den Augen der Rechnungsprüfer nur wenig Gnade findet: „Die derzeit verwendete Datenbank ist nach unserer Auffassung nicht geeignet, die Koordinierungsaufgaben der Ressorts bei der fristgerechten Umsetzung von Richtlinien wirksam zu unterstützen“, heißt es in der Prüfungsmitteilung des Bundesrechnungshofs.

Die Mängelliste ist lang: Ein Pflichtenheft zu der auf dem Progress-Format basierenden Datenbank existiert nicht. Relevante Daten wie etwa die Umsetzungspläne der federführenden Fachressorts werden nicht erfasst. Die Ressorts können fehlerhafte Eingaben nicht verifizieren, denn auf die Daten hat ausschließlich das BMWA Zugriff. In einer Stichprobe stellte der Bundesrechnungshof fest, dass bei drei von sechzehn Richtlinien von Anfang an gar kein Handlungsbedarf bestanden hatte, da deutsches Recht ihnen bereits entsprach. Bereits 2002 sollte die Entwicklung einer neuen Datenbank auf Access-Basis abgeschlossen sein. Doch als sich der Bundesrechnungshof mit der Sache beschäftigte, war die alte Datenbank noch immer im Einsatz.

Zur Koordinierung von Vertragsverletzungsverfahren setzt Eichels Finanzministerium ein Datenbanksystem ein, das auf dem System des BMWA beruht. Aufgrund der Komplexität und der mangelnden Kompatibilität mit der übrigen verwendeten Software werde das System den Anforderungen nicht gerecht, zitiert der Bundesrechnungshof einen Ministeriums-Mitarbeiter. Ohne das IT-Referat einzubeziehen, habe sich daher bereits ein Mitarbeiter selbstständig um ein auf MS-Outlook basierendes Aufgabenplanungssystem gekümmert.

Der Bundesrechnungshof fordert für eine effektive Überwachung der Umsetzungsfristen den Einsatz eines zentralen Datenverarbeitungssystems, in dem sämtliche relevante Daten so zu verarbeiten sind, dass eine Fristkontrolle sowie die Einleitung von Maßnahmen zur Vermeidung von Fristüberschreitungen möglich werden. Auch sollen nicht nur die koordinierende Stelle, sondern auch die für die Umsetzung zuständigen Ressorts auf die Daten zugreifen dürfen. Nur so könnten die eingegebenen Daten verifiziert und berichtigt werden.

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement lässt die Umsetzung von EU-Richtlinien mit Jahrzehnte alter Software koordinieren.

Die Investition in eine ordentliche Koordinierungssoftware hätte sich schon längst gelohnt, denn Bürger und Wirtschaftsunternehmen haben bereits Schadensersatzforderungen gegen den Bund geltend gemacht: So erstritten 82 Kläger eine Entschädigung von insgesamt 1,4 Millionen Euro aus der nicht fristgerechten Umsetzung der Richtlinie zur Einlagensicherung der Banken. Weitere 4000 Bürger konnten Ansprüche von rund sechs Millionen Euro geltend machen. Sie hatten den Bund erfolgreich wegen der verspätetet eingeführten Pauschalreise-Richtlinie vor Gericht zitiert.

Zwangsgelder an Brüssel musste Deutschland zwar noch nicht zahlen, das dürfte sich aber mit den verschärften Regeln der neuen EU-Verfassung ändern: Wird die Umsetzungspraxis nicht radikal reformiert, rechnet das Bundesfinanzministerium jährlich mit Bußgeldbescheiden über 100 Millionen Euro - die Höhe des Zwangsgeld kann bis zu 792 000 Euro pro Tag betragen. (ad) (ad)