Neuer Überwachungsanlauf

Entgegen Beschlüssen des Bundestags macht sich die Bundesregierung für eine verstärkte pauschale Überwachung der Nutzer stark. Bundesinnenminister Otto Schily drängt auf eine zumindest 12-monatige Speicherung aller Telekommunikations-Verbindungsdaten, Telefonfirmen wehren sich. Die eigentliche Entscheidung fällt in Brüssel, wo Speicherfristen bis zu 36 Monate und die Vorhaltung überaus weit gehender Datenarten gefordert werden.

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Die seit Jahren vom unionsdominierten Bundesrat und von Strafverfolgern geforderte Verpflichtung für Telekommunikationsfirmen, Verbindungs- und Standortdaten über viele Monate hinweg für Ermittlungszwecke zu archivieren (siehe c't 23/04, S. 58), wird im Zuge einer geplanten Brüsseler Regelung inzwischen hierzulande breiter diskutiert. Ein großes Echo löste etwa der Bericht einer Boulevardzeitung aus, der die Frage nach der „totalen Überwachung“ von Telefon, SMS und Internet aufwarf.

Auf Empörung bei vielen Branchenverbänden, Politikern und Datenschützern stieß insbesondere die Tatsache, dass Bundesinnenminister Otto Schily und seine ehemalige Staatssekretärin und jetzige Kollegin aus dem Justizressort, Brigitte Zypries, mit handverlesenen Größen aus dem Telekommunikations- und Providerbereich Ende Februar über die Speicherung der so genannten Verkehrsdaten für die Dauer von einem Jahr verhandelten. Dabei hatte sich der Bundestag 2004 wiederholt gegen die Festlegung von Mindestspeicherfristen für die begehrten Nutzerinformationen ausgesprochen. Erst Ende Januar hatte der Rechtsausschuss die Regierung noch einmal klar aufgefordert, dieses Votum „zur Grundlage ihrer Verhandlungen auf EU-Ebene zu machen“ (siehe c't 4/05, S. 56).

Die Reaktionen kamen postwendend. Die FDP-Innenpolitikerin Gisela Piltz warf den Bundesministern „Verrat an den Interessen“ des Parlaments vor. Die EU-Sprecherin der Liberalen im Bundestag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, veranlasste die „unverschämte Missachtung“ der Haltung der Volksvertreter zur Forderung nach der engeren Bindung der Regierung an die Bundestagsbeschlüsse. Als nach wie vor „völlig inakzeptabel“ bezeichnete der Bitkom die über die EU vorangetriebenen Pläne zur Vorratsdatenspeicherung. Der Hightechverband hatte im Dezember vor Investitionskosten für die Branche in Höhe von 150 Millionen Euro bei weit gehender Nutzlosigkeit der umstrittenen Maßnahme gewarnt.

Die im VATM versammelten Telekom-Wettbewerber wollten ebenfalls nichts davon wissen, „Hilfssheriff zu spielen“. Europäische Netzbetreiber sprachen angesichts der zu erwartenden „untragbaren Mehrbelastungen“ von einem falschen Signal für den Standort. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar lehnt eine „flächendeckende Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten“ weiterhin entschieden ab. Er empfahl der Politik erneut, über Alternativen wie eine fall- und verdachtsabhängige Blitzspeicherung der gewünschten Daten nach US-Vorbild nachzudenken.

Viele Landesminister sprangen Schily und Zypries aber bei. Der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens (SPD) begrüßte die Pläne zur zwölfmonatigen Datenspeicherung, die seiner Ansicht nach keinen tieferen Eingriff in die Grundrechte darstellen. Ähnliche Töne erklangen aus Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen. Nur der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP) sprach sich entschieden dagegen aus. Einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung diene die Anhäufung von „Datenmüll“ bis hin zu gesammelten Spam-Mails nicht.

Bei der neuen Debatte läuft allerdings manches verquer. Die deutschen Sicherheitsbehörden bestehen laut einem Ergebnispapier der Hinterzimmergespräche auf einer Speicherdauer von einem halben Jahr für IP-Adressen und Login-Daten. Genauso lang sollen Verbindungsdaten bei einem Festnetzgespräch sowie im Mobilfunkbereich zusätzlich Standortkennungen sowie „gegebenenfalls Kartennummer (IMSI) oder Kennung der Endeinrichtung (IMEI)“ aufbewahrt werden. Die Deutsche Telekom, Arcor und 1&1 haben sich breitschlagen lassen, die persönlichen Daten nötigenfalls für diese Spanne zu archivieren. Momentan speichern sie die großen Telcos zwischen 80 und 90 Tage. 180 Tage würden sich laut Arcor-Chef Harald Stöber „gerade so an der Grenze“ bewegen. Alles darüber lasse die Kosten „explodieren“.

Von einem solchen nationalen „Kompromiss“, der laut Datenschützern ebenfalls tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen würde und ihrer Ansicht nach verfassungswidrig wäre, sind die Entscheider in Brüssel jedoch meilenweit entfernt. Der aktuelle Vorschlag für einen Rahmenbeschluss aus dem EU-Rat sieht eine Speicherfrist bis zu 36 Monaten vor - und zwar sämtlicher Daten, die beim Aufbau und dem Betrieb von TK-Diensten entstehen. Letztlich geht es dabei um sämtliche Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen. Das elektronische Leben der rund 450 Millionen EU-Bürger wäre damit größtenteils überwachbar.

EU-Kommission und -Parlament zweifeln jedoch an, ob der Rat überhaupt zuständig ist. So feilt Justizkommissar Franco Frattini gerade an einer eigenen Vorlage. Diese soll Informationen aus Brüsseler EU-Kreisen zufolge aber auch Speicherfristen von einem Jahr verlangen. Hannah Seiffert, Justiziarin beim Verband der deutschen Internetwirtschaft eco, erinnert daher daran, dass „die Fragen der Verhältnismäßigkeit und der ganzen rechtlichen Situation der Maßnahme weiterhin vollkommen ungeklärt sind“. Noch habe niemand schlüssig erklärt, wofür die Datenberge überhaupt angehäuft werden müssten. Ein 1&1-Sprecher bezeichnete das Brüsseler Vorhaben ebenfalls als „völlig unrealistisch“. Die dort verlangte Datenspeicherung sei „nicht machbar“. Angesichts des frühzeitigen Einlenkens der Branchengrößen bei der halbjährigen Frist für IP-Adressen und die klassischen Verbindungsdaten ist der Verhandlungsraum aber eng geworden. (jk)