Ich-Netze

Die Geburtstagsparty der Hamburger IT-Firma SinnerSchrader wurde zum Stelldichein der Web-2.0-Aktivisten.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Herbert Braun

Zwei scheinbar widersprüchliche Aussagen standen am Anfang und am Ende der Veranstaltung „Next 10 Years“. „Das Internet ist wieder da“, fasste Martin Virtel von der Financial Times Deutschland die Aufbruchstimmung der Branche zusammen. Firmengründer Matthias Schrader warnte dagegen: „Das Abo auf Wachstum im Internet läuft aus.“

Schrader machte für die bisherigen Web-Zuwächse vor allem die immer bessere PC- und Online-Ausstattung der Anwender verantwortlich. Dieser Effekt werde aber nachlassen. Mehr Attraktivität für E-Commerce müsse her - und Web 2.0 könne der Schlüssel dazu sein.

Der ehemalige Amazon-Vordenker Andreas Weigend erklärte das Buzzword. Web 2.0, das seien vor allem vier Punkte: die Aktivität der Nutzer, Frontends, welche die Grenzen zu lokalen Anwendungen aufweichen, neue Erlösmodelle und schließlich offene Web-Schnittstellen - aufsummiert bedeute das: „Das Internet findet wieder zu sich selbst.“

Weigend warnte davor, Web 2.0 zu unterschätzen. Es verändere nicht nur die Präsentation, sondern auch das Kerngeschäft der Unternehmen. Statt weniger Privilegierter speisten jetzt viele Nutzer ihr Wissen ins Web ein. Triebfeder sei das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Anstelle der „money economy“ trete eine „attention economy“.

Das neue Erfolgsrezept für Internet-Unternehmer sei es, die Anwender für sich arbeiten zu lassen. Baut der Anbieter die technischen Hürden ab, beginnt die Community zu schreiben, zu kommentieren oder Webseiten zusammenzuklicken, so Weigend. Fragt sich nur, ob mit dem Senken der Produktionsschwellen nicht auch die Qualität des Gesagten fällt - man denke an das typische Chat-Gestammel.

Die passende Kulturtechnik, der Byte gewordene Geltungstrieb, ist das Bloggen. Selbst im redefaulen Deutschland wächst die Bloggerschar geschwind.

Dass Blogger und andere Web-2.0-Anwender eine Menge über sich selbst preisgeben, kann zu Problemen führen. Virtel konstruierte das Beispiel eines CEO der Zukunft, der über sei-ne alten Jugendsünden auf myspace.com stolpert. Weigend dagegen schockierte kürzlich eine Talkshow-Runde dadurch, dass er seinen Terminkalender offen online führt; der Deutsche aus dem Silicon Valley spricht lieber von „Transparenz“ als vom „gläsernen Menschen“.

Für Johnny Haeusler von Spreeblick.com sind Blogger die Journalisten von morgen. Allerdings sieht er eine Aufspaltung der Szene in die große Schar der öffentlichen Tagebücher und eine kleine, viel gelesene Minderheit. Klingt eigentlich nicht viel anders als bei den Journalisten von heute - außer, was das leidige Geldverdienen angeht.

Kaum einer hat die „attention economy“ so erfolgreich in die gute, alte Geldwirtschaft überführt wie Lars Hinrichs, Gründer von OpenBC. Als die Dating-Plattform für Businesspeople im Herbst 2003 anfing, schien das Internet für Investoren mausetot, keiner sprach von Web 2.0. Heute besitzt OpenBC über eine Million Mitglieder, die Mehrzahl hat laut einer hauseigenen Studie bereits Geschäftskontakte über den Club geknüpft.

Als Hinrichs anwesende Mitglieder um Handzeichen bat, meldeten sich fast alle Zuhörer - ein gelungenes Beispiel für virales Marketing, denn OpenBC hat keinen Cent für Werbung ausgegeben. Oder ein Beleg dafür, dass zum Aufbau einer großen Community eine kleine nötig ist: OpenBC startete mit knapp 500 Mitgliedern.

Erfolgsgeheimnis von OpenBC ist, dass nicht Firmen Geschäfte machen, sondern Menschen - Menschen, die oft mehrere Rollen haben, die an unterschiedlichen Projekten arbeiten, kurz nacheinander oder gleichzeitig. In OpenBC sind sie mit Klarnamen versammelt, alle Rollen zu einer Identität gebündelt.

Communities werden mit zunehmender Größe exponentiell wertvoller, sagt Hinrichs. So fördert gerade der Community-Faktor von Web 2.0 Quasi-Monopole. Hinrichs rechnete mit einer baldigen Konsolidierung des Markts.

Venture-Capitalist Christian Leybold warnte denn auch vor überzogenen Erwartungen. Anders als beim ersten Web-Hype gibt es jedoch keine Web-2.0-Aktiengesellschaften - die Blase, die platzen könnte, ist noch überschaubar groß. Für ihn vereint die ideale Web-2.0-Anwendung ein praktisches Werkzeug, von den Anwendern erzeugte Inhalte und eine rege Community. Die Community biete auch den besten Schutz davor, dass Google (oder Yahoo oder MSN) nächste Woche die gleiche Idee mit einer riesigen Marktmacht im Rücken kopiert.

Neben den klassischen Erlösmodellen Werbung und Premiummitgliedschaften nannte Leybold auch „virtual gifts“. Mit Pixel-Blumensträußen und gerenderten Kaminuhren erwirtschaftet der koreanische Anbieter cyworld.com mehr Umsatz als die Riesen-Community myspace.com.

Als neuer Nachbar von OpenBC ist Stephan Uhrenbacher am Hamburger Gänsemarkt eingezogen. Anfang des Jahres hat der E-Commerce-Veteran (Travelchannel, lastminute.com, Bild.T-online, Doc Morris) Qype gegründet, das jüngste Vorzeigeprojekt der einheimischen Web-2.0-Szene.

Qype ist eine Art getaggte Gelbe Seiten. Oder eine Community mit Ortsbezug. Oder vielleicht doch ein Blog. Die Idee ist, dass die Mitglieder Gaststätten, Geschäfte und andere interessante Orte vorstellen. Auf diese Weise kämen auch Menschen zum Bloggen, die sonst kein Thema hätten, glaubt Uhrenbacher. Vor allem aber empfehlen sie sich den besten Italiener oder die fähigste Autowerkstatt, wie es außerhalb der virtuellen Welt Freunde und Bekannte tun.

Finanzieren will Uhrenbacher seinen Dienst mit „Sponsored Links“. Bleibt die Frage, ob Qype nicht wie manche Produktbewertungsdienste für Missbrauch anfällig ist. Uhrenbacher ist zuversichtlich: Solche Versuche habe es noch kaum gegeben - in den knapp drei Wochen seit Start des Dienstes. Wie alle Web-2.0-Apologeten vertraut Uhrenbacher auf die Selbstreinigungskräfte der Community. Web 2.0, das heißt auch: Die Menschen sind im Grunde gut.

„Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist“, witzelt ein berühmter Cartoon über Online-Anonymität. Im Web 2.0 ist der Hund kein simpler Hund mehr, sondern Teil vieler Communities, aufgespalten in einzelne Rollen, die kaum noch voneinander wissen: der Business-Hund, der Dating-Hund, der Bookmark-Hund, der Blog-Hund.

Und alle wollen sie Aufmerksamkeit, alle wollen gelesen und gestreichelt werden. (heb)