Digitale Telepathie

Noch ist es nicht so weit, dass Menschen, denen Arme oder Beine amputiert wurden, Neuroprothesen wie eigene Glieder kontrollieren könnten. Rein über Gedanken gesteuerte Kommunikationshilfen für Schwerstgelähmte dürften jedoch schon in wenigen Jahren kommerziell verfügbar sein. In den letzten Jahren hat sich für die Nutzer von Brain Computer Interfaces (BCIs) insbesondere die erforderliche Trainingszeit drastisch verkürzt.

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Lesezeit: 24 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske
  • Angela Meyer
Inhaltsverzeichnis

Hans-Peter Salzmann wurde bereits seit drei Jahren künstlich ernährt und beatmet, als er im September 1996 in Kontakt mit der Universität Tübingen trat. Der damals 41-jährige Jurist litt an der Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), einer fortschreitenden Muskellähmung, die ihm nur noch schwache Bewegungen der Augen und zweier Gesichtsmuskeln erlaubte. Die Kommunikation mit der Außenwelt war extrem mühsam und drohte gänzlich zu versiegen.

Hoffnung machte ihm ein Experiment am Institut für Medizinische Psychologie der Uni Tübingen: Dort wurde ein Gerät entwickelt, das die Steuerung eines Computercursors durch Messung der Gehirnaktivität ermöglichte. Mit Hilfe dieses Thought Translation Device (TTD) gelang es Salzmann, Texte zu verfassen. Bevor er allerdings auch nur einen Buchstaben schreiben konnte, musste er lernen, die so genannten langsamen kortikalen Hirnpotenziale gezielt positiver oder negativer werden zu lassen. In einem seiner Texte beschrieb er die mentalen Strategien, die er dabei einsetzte.

Um den Cursor durch Positivieren nach unten zu lenken, versuchte er, „Druck im Gehirn zu erzeugen“: Salzmann stellte sich dafür etwa eine auf grün umspringende Ampel, einen startenden Leichtathleten oder einen von der Sehne schnellenden Pfeil vor. Gelegentlich half auch das Bild des Computercursors, der ins richtige Buchstabenfeld springt. Schwieriger war die umgekehrte Richtung. Um den Cursor durch Negativieren nach oben zu bewegen, versuchte Salzmann, sein Gehirn zu entspannen, „eine Art gedankliche Leere herzustellen“. Es zeigte sich indessen, „dass fast regelmäßig neue, ungebetene Gedanken die Leere stören, die auch, je nach ihrem emotionalen Gehalt, zum Positivieren führen können“ und so unbeabsichtigte Bewegungen nach unten auslösten.

Salzmann verfasste diesen Text nach mehreren Monaten Training mit einer Geschwindigkeit von zwei Zeichen pro Minute und der geistigen Disziplin eines Zen-Meisters. Heutige Nutzer eines Brain Computer Interface (BCI), das den Computer mit Hilfe direkt gemessener Gehirnaktivität steuert, können es da einfacher haben, wie unter anderem ein kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichter Artikel und online zugängliche Videos zu einer von mehreren US-Forschungsinstitutionen gemeinsam durchgeführten Studie deutlich machen [1, 2] . Danach konnte der nach einer Messerattacke seit drei Jahren querschnittsgelähmte US-Amerikaner Matthew Nagle schon nach einer Einweisung von wenigen Minuten den Cursor auf einem Monitor lenken. Er lernte recht schnell, damit E-Mails zu öffnen und ein Computerspiel zu spielen. Auch das Öffnen und Schließen einer Handprothese gelang ihm. Nagle brauchte dafür keine ausgefeilten mentalen Strategien, sondern stellte sich einfach vor, die eigene Hand zu bewegen.

Hans-Peter Salzmann gelang es 1996 erst nach monatelangem Training mit dem Thought Translation Device, den Cursor zu steuern.

(Bild: Uni Tübingen)

Der Vergleich der beiden Experimente zeigt den beachtlichen Fortschritt, den die BCI-Technologie über die letzten zehn Jahre gemacht hat, auch wenn die verwendeten Technologien nur bedingt vergleichbar sind: Salzmanns Gehirnsignale wurden mit Hilfe der klassischen Elektroenzephalografie (EEG) über sechs auf der Kopfhaut aufsitzende Elektroden gemessen, Nagle hingegen wurde ein vier mal vier Millimeter großer Chip direkt ins Hirn implantiert. Obwohl die damit erreichten Leistungen Nagles bemerkenswert sind, markieren aber auch sie nur einen Zwischenstand auf dem Weg zu direkt steuerbaren Prothesen und einer weiteren Verschmelzung von Mensch und Computer.

Die Unterscheidung zwischen invasiven (einen chirurgischen Eingriff erfordernden) und nicht-invasiven Methoden ist die wichtigste bei der Betrachtung der verschiedenen BCI-Projekte. Die weitaus meisten Forschungen stützen sich bisher auf die nicht-invasive EEG-Technik, bei der Elektroden auf der Kopfoberfläche im Mikrovolt-Bereich liegende Spannungsänderungen erfassen, die Rückschlüsse auf die neuronale Aktivität ermöglichen. Der große Vorteil liegt darin, dass es sich im Prinzip um eine seit Jahrzehnten erprobte, die Patienten und Versuchspersonen nicht oder nur gering belastende Technik handelt. Alle nötigen Komponenten sind kommerziell verfügbar. Die Gehirnaktivität lässt sich mit hohem zeitlichem Auflösungsvermögen messen, die räumliche Auflösung des EEG ist dagegen begrenzt. Unter anderem letzteres erschwert die Nutzung des EEG für die Steuerung durch Gedanken und ist deshalb ein wichtiger Ansatzpunkt für Optimierungen.

Ebenfalls ohne chirurgische Eingriffe kommt die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) aus, die den Sauerstoffgehalt des Blutes im Gehirn misst. Sie ermöglicht eine höhere räumliche Auflösung, kann zeitliche Veränderungen, die kürzer sind als wenige Sekunden, jedoch nicht erfassen. Gleichwohl ist es einem Forschungsteam an den ATR Computational Neuroscience Laboratories in Kioto kürzlich gelungen, mit Hilfe dieser Technik Handbewegungen einer Versuchsperson im Aktivitätsmuster des Gehirns zu erkennen und nahezu in Echtzeit auf eine Roboterhand zu übertragen. Die Probanden sollten dazu die Bewegungen des in Japan besonders beliebten Spiels „Stein, Schere, Papier“ ausführen. Das Experiment verspricht grundlegende, neue Einsichten zur Dekodierung der Gehirnaktivität. Die direkte Umsetzung in Anwendungen dürfte jedoch aufgrund des hohen apparativen Aufwands nur sehr begrenzt möglich sein [3].

Statt auf der Schädeloberfläche können die elektrischen Hirnströme auch direkt auf der Gehirnoberfläche gemessen werden. Dieses Verfahren der Elektrocorticografie (ECoG) dient vor allem der Lokalisierung von Epilepsie-Herden im Gehirn. Durch kleine Löcher in der Schädeldecke werden Elektroden eingeführt, die über mehrere Tage ununterbrochen die Hirnaktivität messen, bis ein epileptischer Anfall auftritt. In dieser Zeit wird das ECoG, sofern die Patienten einverstanden sind, gelegentlich auch für BCI-Experimente genutzt.

Die ECoG-Signale haben eine höhere Präzision als das EEG, erfassen aber zumeist nur einen bestimmten Ausschnitt des Gehirns. Zudem erfordern sie einen chirurgischen Eingriff, mit dem ein erhöhtes Infektionsrisiko verbunden ist.

Noch größer sind die gesundheitlichen Risiken bei implantierten Elektroden, die nicht nur auf der Hirnoberfläche messen, sondern tiefer in die Großhirnrinde eindringen. Im Fall von Matthew Nagle bestand der von der Firma Cyberkinetics gefertigte BrainGate-Sensor aus 96 Elektroden, die gut einen Millimeter tief in den für die Steuerung willkürlicher Bewegungen zuständigen primären Motorkortex reichen.

Der Neurowissenschaftler Stephen H. Scott von der kanadischen Queen’s University in Kingston sieht in solchen Gehirnimplantaten trotz der gesundheitlichen Risiken, die neben dem generell hohen Operationsrisiko unter anderem das Auftreten von Epilepsie einschließen, langfristig mehr Möglichkeiten als bei nicht-invasiven Methoden. „EEG-Aufzeichnungen geben die durchschnittliche Aktivität von Millionen von Neuronen wieder und erzeugen ein Signal von begrenzter räumlicher und zeitlicher Auflösung“, schreibt er in Nature in einem Kommentar zu der zitierten Studie. „Dagegen können Aufzeichnungen mit hunderten von Mikroelektroden, von denen jede die Aktivität einzelner oder kleiner Gruppen von Neuronen misst, hochkomplexe Kontrollsignale erzeugen.“

Auch wenn der Versuch mit Nagle gegenüber früheren Implantationen deutlich erfolgreicher war, sieht allerdings auch Scott, dass noch viele Probleme gelöst werden müssen, bevor solche Implantate im klinischen Alltag genutzt werden können. So erfolgten die Bewegungen des Cursors nicht nur zeitverzögert, sondern waren auch noch recht ungenau und teilweise falsch. Völlig unklar ist derzeit noch, wie lange im Gehirn implantierte Elektroden überhaupt funktionsfähig bleiben. Für junge querschnittsgelähmte Patienten wäre eine Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten erforderlich. Bei Matthew Nagle beobachteten die Forscher schon nach etwa sechs Monaten, dass die Aktivität von deutlich weniger Neuronen als am Anfang gemessen wurde. Die genaue Ursache ist noch unklar, aber die Experimentatoren gehen nach den bisherigen Untersuchungen von einem Ausfall von mehr als der Hälfte der Elektroden aus.

Dazu kommt ein weiteres Problem, das sich Nutzern nicht-invasiver Verfahren im Prinzip genauso stellt: Bisher sind die Probanden noch fest über Kabel mit einem umfangreichen technischen Equipment verbunden, zu dessen Benutzung sie auf eine intensive fachkundige Unterstützung angewiesen sind. Um die Nutzer eines BCI möglichst unabhängig zu machen, müssten die Daten bei einer dauerhaften Nutzung per Funk übertragen werden. Bei invasiven Verfahren müsste dazu ein Teil der Signale bereits im implantierten Chip vorverarbeitet werden, um die drahtlose Übermittlung durch die Schädeldecke auf ein Minimum zu beschränken.

Scott hält diese Probleme aber grundsätzlich für lösbar und verweist auf den Erfolg von Cochlea-Implantaten zur Wiederherstellung des Hörvermögens, den bisher einzigen kommerziell erhältlichen Prothesen, die zumindest in großer Nähe zum Gehirn im Kopf implantiert werden. Diese mehrteiligen Prothesen können ein geschädigtes Innenohr überbrücken, solange der Hörnerv noch intakt ist. Dazu wandelt ein hinter dem Ohr sitzender Sprachprozessor die mit einem Mikrofon aufgenommenen Sprachsignale in eine Form, die über Induktion an direkt an den Hörnerv angeschlossene Elektroden weitergeleitet werden kann. Obwohl der Höreindruck völlig anders ist als üblicherweise, können nach der Operation manche Ertaubte damit selbst in unruhigen Umgebungen wieder Sprache verstehen. In ähnlicher Weise sollen die noch nicht kommerziell erhältlichen Retina-Implantate bei Blinden mit intaktem Sehnerv die beschädigte Netzhaut ersetzen.

In beiden Fällen geht es darum, dem Gehirn künstliche Sensorinformationen zur Verfügung zu stellen, während BCIs auf dem umgekehrten Weg vom Gehirn ausgehend motorische Funktionen ersetzen oder unterstützen sollen. Per Gedanken technische Hilfen wie Computer oder Prothesen zu steuern ist dabei nur eine der angestrebten Möglichkeiten. Die Gruppe, die unter anderem die Experimente mit Matthew Nagle durchgeführt hat, hält es prinzipiell sogar für machbar, mehrere Sensoren in unterschiedlichen Regionen der Hirnrinde zu implantieren und parallel über eine neuromotorische Prothese auszuwerten. Mit den gewonnenen Signalen könnte nach Ansicht der Forscher dann die elektrische Stimulation gelähmter Arme und Beine gesteuert werden, um diese zu reanimieren.

Die grundsätzliche Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Reanimation möglich sein könnte und wie diese machbar wäre, untersuchen andere Forschergruppen bereits seit einiger Zeit. So ist es beispielsweise einem Probanden des BCI-Labors der TU Graz gelungen, das Öffnen und Schließen einer weitgehend gelähmten Hand über ein EEG-BCI zu steuern [4]. Eine Verknüpfung all dieser Ansätze zu einer kompakten, von einem Hosentaschencomputer gesteuerten kommerziellen Technik, die alle Gelähmten wieder direkt bewegungsfähig machen kann, dürfte aber noch für geraume Zeit in das Reich der Wunschträume gehören.

Auch gemessen an dem allgemeineren Anspruch, Gelähmten eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit von der Hilfe Anderer zu bieten, sind viele Verfahren zur Steuerung per Gedanken trotz interessanter Erfolge immer noch im Experimentierstadium. Für vollständig Gelähmte ist natürlich bereits die Möglichkeit, zumindest überhaupt einen Cursor zu bewegen, immer noch weit besser als gar nicht kommunizieren zu können.

Mit den bisherigen Verfahren kommt man aber noch nicht annähernd an die Geschwindigkeit heran, die ein Gesunder bei der herkömmlichen Interaktion mit einem Computer erreicht, geschweige denn darüber hinaus. Bisher ist die Steuerung eines Computers mit Gedanken auch immer noch deutlich langsamer als mit von einer Kamera erfassten Blinzel- und Augenbewegungen. Auf diese Weise bedient beispielsweise der ebenfalls an ALS leidende Physiker Stephen Hawking seinen Sprachcomputer.

Eine Chance zumindest für invasive BCIs, bei der Geschwindigkeit gegenüber anderen Verfahren deutlich aufzuholen, bieten möglicherweise die gleichzeitig mit dem bereits erwähnten Nature-Artikel veröffentlichten Ergebnisse einer Forschergruppe an der kalifornischen Stanford University [5]. Die Wissenschaftler testeten an Affen eine einfachere Art der Signalauswertung, die bei vergleichbarer Genauigkeit eine deutlich schnellere Steuerung als bei den bisher getesteten invasiven BCIs möglich machen soll. Allerdings muss der Algorithmus für einen Test in einem Human-BCI erst noch angepasst werden.

Aber auch die Möglichkeiten nicht-invasiver BCIs sind noch längst nicht ausgereizt. Bereits mehr Elektroden oder eine bessere Kontaktierung können dazu beitragen, für einen Menschen, der ansonsten nicht in der Lage ist, zu kommunizieren (Locked-In-Syndrom), das Fenster zur Außenwelt weiter zu öffnen [6]. Prinzipiell bleibt das Signal-Rausch-Verhältnis beim EEG aber sehr ungünstig: Zwar sind jeweils nur ganz bestimmte, recht klar umrissene Hirnregionen aktiv. Aber wenn die Hirnströme auf der Kopfhaut abgegriffen werden, haben sie sich bereits so weit ausgebreitet, dass das gewünschte Signal an der Elektrode direkt über dem aktiven Bereich völlig im Rauschen untergeht und erst durch die vergleichende Auswertung mehrerer Elektroden herausgefiltert werden kann.

Die entscheidenden Weichen für die Leistungsfähigkeit eines BCI werden daher bei der Auswertung gestellt: In welchem Teil der Gehirnströme spiegeln sich die gedachten Aktionen am deutlichsten wider? Welchen Teil kann man am besten zur Auswertung nutzen? Welchen Gewinn kann eine andere Kombination der EEG-Merkmale bringen? Diese grundsätzlichen Fragen sind ebenso entscheidend für Geschwindigkeit und Genauigkeit der Gedankensteuerung wie die Auswahl der Rechenverfahren, mit denen die gewählten Merkmale dann aufbereitet und in Steuersignale für einen Cursor oder eine Prothese umgewandelt werden.

In der Regel beschränkt man sich auf die Unterscheidung von zwei verschiedenen Signalen, zum Beispiel für links und rechts. Bei mehr Signalen steigt die Fehlerrate des Computers bei der Zuordnung zu stark an. Bereits bei zwei Signalen ist es nicht einfach, die zugehörigen hochdimensionalen Merkmalsvektoren so zu wählen, dass man sie in einer linearen Klassifikation durch eine Hyperebene trennen kann. Beispielsweise für Buchstabiersysteme bedeutet das, dass man ein System entwickeln muss, das sich möglichst effizient mit Ja/Nein-Entscheidungen steuern lässt.

Ein weiteres wichtiges Ziel bei der Optimierung ist es, den Trainingsaufwand für die Nutzer drastisch zu verkürzen. Während beim Tübinger Thought Translation Device der Mensch lernen muss, bestimmte Gehirnwellen zu erzeugen, versuchen andere Gruppen, dem Computer mit Hilfe von Methoden des maschinellen Lernens beizubringen, sich auf die vorhandenen Signale des jeweiligen Menschen einzustellen.

Mit dem Berlin Brain Computer Interface lernt der Computer binnen 20 Minuten, die Hirnsignale des Probanden in Cursorbewegungen umzusetzen - wie hier für ein Pongspiel, das auch in der Ausstellung pong.mythos zu sehen sein wird [11].

(Bild: Fraunhofer FIRST)

Das von einer Forschergruppe der Berliner Universitätsklinik Charité und dem Fraunhofer-Institut für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik (FIRST) entwickelte Berlin Brain Computer Interface (BBCI) mit bis zu 128 Elektroden braucht dafür derzeit etwa 20 Minuten. In dieser Zeit lernt das BBCI, in der Gehirnaktivität des jeweiligen Nutzers die spezifischen Signale herauszufiltern, die mit der Vorstellung einfacher Bewegungen verbunden sind. Während das System sich auf die spezifischen Hirnsignale des jeweiligen Benutzers einstellt, werden auch Abweichungen in der Elektrodenkonfiguration mit abgefangen, sodass die Kappe nicht jedes Mal exakt gleich aufgesetzt werden muss.

Während des Versuchs erleben viele Probanden den Computer wie einen Teil des eigenen Körpers (siehe Interview auf Seite 94, c't 18/06). Dieses außergewöhnliche sinnliche Erlebnis verdanken sie unter anderem trockener Mathematik: dem Algorithmus CSSSP (Common Sparse Spectral Spatial Pattern). Die Berliner haben ihn entwickelt, um die gleichzeitige Filterung räumlicher und spektraler Muster im EEG zu optimieren. Die vom BBCI für die Steuerung benutzten Hirnströme haben etwa zwischen 7 und 30 Hz ein charakteristisches Verhalten, das sich aber bei jedem Probanden in einem etwas anderen Frequenzbereich zeigt. Die einfachste Lösung, bei der Berechnung der räumlichen Filter kurzerhand immer den ganzen Bereich zu nutzen, liefert noch recht ungenaue Ergebnisse. Um sie zu verbessern, bestimmten die Wissenschaftler anfangs selbst für jeden Probanden, welcher Frequenzbereich für ihn am besten passt, und gaben diesen Wert für die weitere Berechnung vor. CSSSP integriert dies nun als einen weiteren Schritt hin zu einer möglichst automatischen Anpassung des Computers an den Nutzer.

Die Entwicklung solcher neuen Algorithmen wird seit 2001 durch einen Wettbewerb gefördert. BCI-Forschergruppen stellen hierfür Daten ihrer Experimente zur Verfügung, unterteilt in Trainings- und Testdaten. Teams in der ganzen Welt sind aufgefordert, ihre Auswertungsmethoden anhand der Trainingsdaten zu kalibrieren und dann auf die Testdaten anzuwenden. Bei der ersten dieser BCI Competitions gab es zehn Teilnehmer. Die dritte, deren Auswertung gerade erschienen ist [7], verzeichnete bereits 92 Einreichungen.

Die bei diesen Wettbewerben gestellten Aufgaben geben die Bandbreite der BCI-Forschung recht gut wieder. So gab es bei der letzten BCI Competition ECoG-Daten eines Epileptikers, die ein Team der Universität Tübingen, des Max-Planck-Instituts für Biologische Kybernetik und der Universität Bonn an zwei Tagen mit einem Abstand von einer Woche erhoben hatte. Die Aufgabe des Probanden bestand darin, sich auf ein optisches Zeichen hin eine Bewegung des kleinen Fingers oder der Zunge vorzustellen. Die Auswertung der Daten wurde dadurch erschwert, dass die unterschiedlichen Verfassungen des Probanden während der beiden Sitzungen für Variationen bei den aufgezeichneten Hirnsignalen sorgten. Dennoch gelang es 12 von 27 Teams, die Testdaten mit einer Trefferquote von mehr als 80 Prozent korrekt zu klassifizieren. Das Siegerteam von der chinesischen Tsinghua University erreichte sogar 91 Prozent.

Das Wadsworth Center in Albany, New York, stellte die Daten eines Buchstabier-Experiments zur Verfügung. Hierbei wurde den Versuchspersonen ein Quadrat mit sechs mal sechs Feldern präsentiert, die Buchstaben und Ziffern enthielten. Die Zeilen und Spalten dieser Tabelle wurden in zufälliger Folge hervorgehoben, während der Proband sich auf einen bestimmten Buchstaben konzentrierte. Die Aufgabe der auswertenden Teams war es, den richtigen Buchstaben anhand des P300-Signals im EEG zu erkennen. Dabei handelt es sich um ein so genanntes ereigniskorreliertes Potenzial, das etwa 300 Millisekunden nach einem unerwarteten Sinnesreiz ausgelöst wird. Ein französisches Team gewann in dieser Kategorie mit der beeindruckenden Trefferquote von 96,5 Prozent.

Die Schreibhilfe ist von den Wadsworth-Forschern zusammen mit der Beratungsfirma Cambridge Consultants mittlerweile zu einem kommerziellen Produkt weiterentwickelt worden. Dabei ging es insbesondere darum, die Handhabung der Kappe mit den EEG-Elektroden zu vereinfachen. „Unsere Kappe ist von Probanden acht oder sogar zehn Stunden lang ohne Probleme getragen worden“, sagte Mark Manasas von Cambridge Consultants der Financial Times Deutschland. „Und wir haben die Bedienung und Kalibrierung so einfach gemacht, dass sie auch von untrainierten Betreuern aufgesetzt werden kann. Es braucht nur drei Mausklicks, um das System zu starten.“ Der Preis des P300-Systems soll bei etwa 5000 US-Dollar liegen.

Das Team vom Wadsworth Center zeichnete die Daten für die BCI Competition mit Hilfe der selbst entwickelten Software BCI2000 auf [8]. Dieses frei verfügbare, modular aufgebaute Programm enthält alle für den Betrieb von Brain Computer Interfaces nötigen Komponenten. Es kann unabhängig davon genutzt werden, welche Hirnsignale mit welchen Methoden aufgezeichnet und ausgewertet werden. Seit der erstmaligen Präsentation von BCI2000 im Jahr 2004 hat es sich, dem Chefentwickler Gerwin Schalk zufolge, „zum Standardsystem für Brain-Computer-Interface-Experimente“ entwickelt, das etwa 90 Labore rund um die Welt für die verschiedensten Experimente benutzen.

Unabhängig davon, auf welcher Ebene die Elektroden ansetzen, funktionieren alle Brain-Computer-Interfaces im Groben nach dem gleichen Prinzip: Die zu der vorgestellten Bewegung gehörenden Hirnsignale müssen herausgefiltert und in ein für das angeschlossene Gerät geeignetes Steuerungssignal umgewandelt werden.

(Bild: Gerwin Schalk, Wadsworth Center, Albany )

Neben Hirnsignalen, die auf einen vom System vorgegebenen Stimulus hin erzeugt wurden, stellten das Berliner BBCI-Projekt und das Schweizer Forschungsinstitut IDIAP (Institut Dalle Molle d’Intelligence Artificielle Perceptive) in Martigny für die BCI Competition auch solche Daten zur Verfügung, bei denen die Versuchspersonen ihrem eigenen Rhythmus folgen konnten, statt auf ein Signal des Systems zu reagieren. Bei der Auswertung waren daher die einzelnen Versuche, während derer sich die Probanden bestimmte Bewegungen vorstellten, nicht klar voneinander zu unterscheiden.

Benjamin Blankertz, der bei Fraunhofer FIRST am BBCI-Projekt mitarbeitet und zu den Wettbewerbsorganisatoren gehört, würde die BCI Competitions in Zukunft am liebsten an einem Ort mit Probanden veranstalten, sodass die verschiedenen Ansätze unter Echtzeitbedingungen getestet und miteinander verglichen werden können. Die bisherige Offline-Analyse, bei der die vollständigen Daten von Anfang an zur Verfügung stehen, entspricht eigentlich nicht der üblichen Situation, bei der die Daten kontinuierlich ausgewertet werden müssen, um eine Interaktion zwischen Nutzer und auswertendem Rechner zu ermöglichen. Daher fehlen im Wettbewerb bisher noch zwei wichtige Aspekte der BCI-Forschung: der Transfer der Methoden für die Offline-Analysen in Feedback-Anwendungen und die Optimierung des interaktiven Lernprozesses zwischen Mensch und Maschine. Der mit einem derart erweiterten Wettbewerb verbundene erheblich höhere Aufwand würde allerdings zusätzliche finanzielle Mittel erfordern, die derzeit nicht in Sicht sind. So wird auch die vierte BCI Competition, die für Dezember 2006 geplant ist, als Offline-Analyse stattfinden.

Auch wenn noch viele Fragen offen sind, hat die BCI-Technologie in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht, die bereits zu ersten kommerziellen Produkten geführt haben. Die Entwicklung konzentriert sich dabei nicht mehr allein auf EEG-BCIs als Kommunikationshilfe für Gelähmte.

Diese Art der Anwendung von BCIs erscheint den meisten nicht nur unproblematisch, sondern ausgesprochen wünschenswert. Arbeiten an Hirnimplantaten lösen dagegen recht häufig auch Unbehagen aus, denn diese ganz offensichtliche direkte Manipulation des menschlichen Gehirns berührt auch Fragen der Persönlichkeit und Identität. Auch manche Forscher lehnen daher Hirnimplantate nicht nur wegen der gesundheitlichen Risiken, sondern auch aus ethischen Gründen grundsätzlich ab.

Angesichts einer stark zunehmenden Bedeutung der Neurowissenschaften insgesamt hat sich vor einigen Jahren die Forschungsrichtung Neuroethik neu etabliert, die versucht, die Auswirkungen der Fortschritte in der Forschung wie in der klinischen Umsetzung in diesem Bereich systematisch zu untersuchen und eine öffentliche Diskussion über die Chancen und Risiken zu unterstützen.

Man könne zwar darüber streiten, ob die Risiken wirklich signifikant sind, schreibt Judy Illes, Leiterin der Neuroethics Imaging Group am Stanford Center for Biomedical Ethics. Aber es wäre in diesem Jahrhundert, das gekennzeichnet ist durch technische Innovation und eine Gesellschaft, die Hochtechnologie schnell bereitwillig akzeptiert, unbedacht, zu denken, dass sie überhaupt nicht existierten [9]. Besonders im Blick haben die Forscher die wachsende Zahl von Hirnuntersuchungen (neural imaging), die nicht unmittelbar medizinischen Zwecken dienen, sondern sich mit Fragen wie den gesellschaftlichen Einstellungen, religiösen Erfahrungen und genetischen Einflüssen beschäftigen [10]. Hirnuntersuchungen dienen aber nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis, auch an Anwendungen zur Unterstützung von Produktentwicklungen wird gearbeitet (siehe Interview auf S. 94, c't 18/06).

Schaut man sich die derzeitigen Erkenntnismöglichkeiten mit Hilfe von Hirnuntersuchungen näher an, erscheinen einem einige der Bedenken gar nicht mehr so weit hergeholt. Zwar dürfte es noch auf lange Sicht und möglicherweise sogar prinzipiell unmöglich sein, Gedanken wie einen semantischen Text zu lesen. Aber auch die Vorstellung, die eigenen Emotionen oder Reaktionen auf bestimmte Reize könnten womöglich heimlich beobachtet werden, hebt nicht bei jedem die Stimmung.

So hat ein Forschungsteam des Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel, die Gehirnaktivität von Versuchspersonen beobachtet, denen Ausschnitte aus dem Italowestern „Zwei glorreiche Halunken“ vorgespielt wurden. An den Aktivitätsmustern ließ sich ablesen, ob die Probanden gerade eine Szene sahen, die von Gesichtern oder Landschaften geprägt war. Szenen, in denen Aktivitäten der Hände eine besondere Rolle spielten, hinterließen ebenfalls ein spezifisches Muster. Könnten auf diese Weise Menschen eines Tages unfreiwillig als Spione missbraucht werden?

Einen Lügner glauben viele Forschungsteams schon heute anhand der Gehirnaktivität überführen zu können. An der University of Pennsylvania School of Medicine wird hierfür das bildgebende Verfahren der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) eingesetzt. Die Forscher glauben, Lügner auf diese Weise mit 99-prozentiger Sicherheit identifizieren zu können. „Eine Lüge ist immer komplizierter als die Wahrheit“, sagte Teammitglied Rugen Gur der Zeitschrift Nature. „Man muss mehr denken, und fMRI zeichnet das auf.“

[1] Leigh R. Hochberg et. al., Neuronal ensemble control of prosthetis devices by a human with tetraplegia, Nature, Vol. 442, 13. Juli 2006, S. 164

[2] Nature-Webfocus zu BCI inklusive Videos von den Experimenten mit Matthew Nagle

[3] Yukiyasu Kamitani, Frank Tong, Decoding the visual and subjective contents of the human brain, Nature Neuroscience 8 (2005)

[4] Filme zur Bewegungssteuerung per BCI

[5] Gopal Santhanam et al., A high-performance brain-computer-interface, Nature, Vol. 442, 13. Juli 2006, S. 195

[6] Nicola Neumann, Gehirn-Computer-Kommunikation, Einflussfaktoren der Selbstregulation langsamer kortikaler Hirnpotenziale, Dissertation, Tübingen 2001

[7] Benjamin Blankertz et al., The BCI Competition III: Validating Alternative Approaches to Actual BCI Problems, IEEE Transactions on Neural Systems and Rehabilitation Engineering, Juni 2006, 14(2), S. 153-9

[8] Gerwin Schalk et al., BCI2000: A General-Purpose Brain-Computer Interface (BCI) System, IEEE Transactions on Biomedical Engineering, Vol. 51, Nr. 6, Juni 2004

[9] Judy Illes, Neuroethics in a New Era of Neuroimaging

[10] John-Dylan Haynes, Geraint Rees, Decoding mental states from brain activity in humans, Nature Reviews Neuroscience, Vol. 7, July 2006

[11] Ausstellung pong.mythos (anm)