Das vierte Element

Forscher um Hewlett-Packard-Fellow Stanley Williams haben ein neues passives Bauelement für Switches konstruiert und gezeigt, dass es dem seit 37 Jahren gesuchten Memristor entspricht, den einst Berkeley-Professor Chua als noch fehlendes viertes Element der passiven Schaltungstechnik „eingefordert“ hatte.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Andreas Stiller

Der legendäre Physiker Paul Dirac pflegte in seinen Vorträgen gerne darauf hinzuweisen, dass für ihn das Streben nach Harmonie ein wesentlicher Eckpfeiler für die Entwicklung seiner quantenmechanischen Formeln gewesen seien: „Natur ist eben schön und das müssen folglich die sie beschreibenden Formeln auch sein“, so Dirac, frei aus dem Gedächtnis zitiert. Und noch heute sucht man nach magnetischen Monopolen, die das Symmetriemodell in Diracs Formeln vervollständigen würden – bislang vergeblich. Durchaus ähnlich motiviert hatte Berkeley-Professor Leon Chua im Jahre 1971 hergeleitet, dass es neben Widerständen, Spulen und Kondensatoren ein viertes passives Schaltungselement geben müsste, das den Formelraum zwischen Strom, Spannung, Ladung und magnetischem Fluss vervollständigt: den Memristor [1].

Dieses vierte Element haben viele Forscher seitdem gesucht, aber immer an falscher Stelle – wie Williams und seine Mitarbeiter in ihrem Nature-Beitrag vom 1. Mai feststellten [2]. Der Memristor müsste sich als Abhängigkeit zwischen Ladung und magnetischem Fluss in dφ= M · dq zeigen, auch ohne dass explizit ein Magnetfeld auftaucht. Es reicht hierfür bereits eine Nichtlinearität zwischen den Strom- und Spannungsintegralen aus, so die HP-Forscher. So was ließe sich leicht mit aktiven Bauelementen realisieren, aber die verbrauchen zusätzliche Energie.

Das Bauelement, das die HP-Forscher als Schalter für schnelle Switches konstruiert haben und das als Memristor-Beleg dienen kann, besteht aus zwei Layern Titandioxid (TiO2) zwischen Platin-Kontakten. Einer der beiden Layer hat einige Sauerstoff-Atome weniger (TiO2–x), sodass er wegen resultierender Fehlstellen gut leitet (Ron), während der andere ohne Defektstellen gut isoliert (Roff). Legt man eine Spannung an, wandern die Sauerstoff-Fehlstellen im elektrischen Feld in den isolierenden Layer hinein, sodass dieser leitend wird und sich dadurch der Gesamtwiderstand drastisch ändert. Der Widerstand wird somit abhängig von der Ladung, die in eine Richtung geflossen ist. Er hat also eine Geschichte beziehungsweise ein Gedächtnis.

Der Effekt lässt sich im einfachen Fall einer linearen Drift in die Formel gießen:

M(q) = Roff(1 – µvRon/D2 · q(t)) 

Dabei ist µv der Mobilitätsfaktor der Ionen und D die Schichtdicke der Layer. Wegen des quadratischen Terms 1/D2 wird auch klar, warum erst im Nanometerbereich diese Abhängigkeit von q sichtbar wird – im Mikrometerbereich ist der Faktor nur ein Millionstel so groß. Die Schichtbreiten des HP-Testelements liegen daher bei nur 5 Nanometer.

Mit Umpolung der Spannung wandern die Sauerstoff-Fehlstellen wieder zurück, das ganze System ist also reversibel. Schaut man sich bei einem linearen Memristor – die Widerstand fällt proportional zur durchgelaufenen Ladung – die Strom-Spannungskurven für eine sinusförmige Spannung an, so sieht man, dass die Stromkurve die gleiche Phase hat, der Sinus aber etwas verbogen wird. Wer dies nachrechnen will, hat es im einfachen Fall unter der Vereinfachung Roff >> Ronmit folgender Differenzialgleichung zu tun (mit a = µvRon/D2):

u0 · sin (ωt) = Roff(1–a · q(t)) · dq(t)/dt 

Die lässt sich noch elementar für die Ladung q lösen – okay, ist eine kleine Übungsaufgabe, zur Not nimmt man Mathematica. Als sinnvolle Randbedingung setzt man ein, dass zum Zeitpunkt t = 0 auch die Ladung q = 0 sein soll und bestimmt sodann den Strom aus i(t) = dq(t)/dt. Letztlich erhält man eine phasengleiche Sinuskurve, versehen mit einem etwas unhandlichen Faktor, in dem in einer reziproken Wurzel noch cos (ωt) enthalten ist, das ergibt dann diese verschrobene Form. Bei unserer Nachrechnung sah die Kurve zwar erst bei niedrigeren Frequenzen als von den Autoren in [2] angegeben so aus wie in der Abbildung – aber es geht ja ums Prinzip.

Die Strom-Spannungskurve zeigt das Zeitverhalten eines Memristors: keine Phasenverschiebung, aber eine Verbiegung der Kurve.

Diese Betrachtung gilt für den linearen Bereich. Sind aber erst mal alle Fehlstellen im zweiten Layer angelangt, ändert eine längere Drift-Dauer oder eine weitere Erhöhung der Spannung den Widerstand nicht mehr wesentlich, das System übersteuert. In den Grenzbereichen sind auch „dynamische“ negative Widerstände realisierbar: der Strom fällt oder bleibt konstant, auch wenn man die Spannung erhöht. Dynamisch deshalb, weil im Unterschied zu den bekannten statischen negativen Widerständen der Effekt abhängig ist von seiner Geschichte, also etwa davon, wie schnell man in die Übersteuerung hineingefahren ist. Hier breitet sich ein großes Feld von Möglichkeiten aus, wie man die nichtlinearen Randbereiche nutzen kann. Für die von HP vorgesehenen Schalter will man den „hard switching mode“ zwischen voll leitend und voll sperrend verwenden. Mit den hauchdünnen TiO2-Schichten zwischen feinsten Platindrähten kann man sehr komplexe Switches realisieren, schon das erste Testdesign soll 100 GBit Kapazität aufweisen. Auch als „semi-volatiler“ Speicher sei das Element denkbar. Bislang sei die Geschwindigkeit, so HP zur New York Times, auf etwa ein Zehntel der DRAM-Geschwindigkeit beschränkt.

Doch HP steht hier nicht allein, andere Firmen sind mit Resistive RAMs (ReRAMs) zum Teil schon weiter. So hat Fujitsu vor ei-nem Jahr ihr ReRAM vorgestellt, ein Speicherelement bestehend aus Titandioxid- und Titan-Nickeloxid-Schichten. Fujitsu löste dabei das Problem der Rückdrift per Diffusion bei fehlender Spannung, sodass die ReRAMs langfristig speichern können. ReRAMs könnten daher bald schon Flashes ersetzen. Samsung ist natürlich mit im Geschäft und hat ein entsprechendes Patent angemeldet, und IBM hat ohnehin schon längst so was im Forschungsportfolio. Den allerersten Memristor wird HP mit seinem Bauelement wohl nicht haben, aber den HP-Forschern gebührt die Ehre, als Erste den Bezug zu Chua und seinem gesuchten vierten Element hergestellt zu haben.

[1] Leon Chua, Memristor, The Missing Circuit Element, IEEE Transactions on Circuit Theory 1971, CT-18 (5) S. 507–519

[2] Strukov, Dmitri B; Snider, Gregory S; Stewart, Duncan R & Williams, Stanley R, The missing memristor found, Nature 453, S. 80–82 (as)