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Völlig neue Möglichkeiten verspricht Microsofts Touchtisch Surface – Segen und Fluch zugleich: Denn Standardsoftware läuft nicht darauf. Wir haben uns den 90-Kilo-Koloss angesehen.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Jan-Keno Janssen
Inhaltsverzeichnis

Fast auf jeder Messe, die auch nur am Rande etwas mit Computern zu tun hat, begegnet man ihnen inzwischen: sogenannten Multitouch-Tischen, die sich per Finger, Hand, Ellbogen oder was auch immer bedienen lassen. Im Unterschied zu konventionellen Touchscreen-Displays – wie die von Fahrkarten-Automaten zum Beispiel – können Multitouch-Geräte mehr als einen Berührungspunkt auswerten. So lassen sich nicht nur – wie beim iPhone – zweifingrige Aktionen ausführen, sondern es können auch mehrere Menschen gleichzeitig an einem Tisch arbeiten.

Der wohl bekannteste Multitouch-Tisch heißt Surface und kommt vom Software-Giganten Microsoft. Seine offizielle Deutschland-Premiere feierte der Surface auf der diesjährigen CeBIT. Inzwischen wurden hierzulande zwar erst ein paar Handvoll der Touch-Tische verkauft – im Vergleich zu einigen Konkurrenten, die nicht viel mehr als einen Prototypen vorzuweisen haben, ist das dennoch beachtlich.

Während einige Hersteller ihre Touch-Tische nur auf Bestellung bauen, wird der schwarze Tisch von Microsoft in Serie gefertigt. Er kostet 11 000 Euro, die Entwicklerversion inklusive fünf SDK-Lizenzen ist für 13 000 Euro zu haben. Der Preis macht es schon deutlich: Der Surface ist kein normaler Computer, sondern lebt von seinem ungewöhnlichem User-Interface. Doch das erfordert maßgeschneiderte Anwendungen – mit Standardsoftware kommt man nicht weit. „Ich muss den Leuten immer wieder sagen: Ihr wollt auf dem Surface kein Excel laufen lassen. Das funktioniert einfach nicht“, erklärt Clemens Lutsch, User Experience Evangelist bei Microsoft und zuständig für den Surface.

Microsoft arbeitet in Deutschland mit elf sogenannten Partnern zusammen, also Firmen, die Software für den Surface gestalten und programmieren. Bei einem dieser Partner, Sariamo in München, haben wir dem Surface ausführlich auf den Zahn gefühlt. Der erste Eindruck überzeugt: Der Tisch wirkt edel und robust, die leicht angeraute Oberfläche fasst sich angenehm an. Nach dem Einschalten ist eine Art Bildschirmschoner zu sehen, Microsoft nennt das – wie bei Arcade-Spielautomaten – Attract-Modus. In der Voreinstellung ist eine schicke interaktive Wasseroberfläche zu sehen. Um ins Hauptmenü zu kommen, muss man einen der vier Buttons in den Ecken des Displays berühren. Je nachdem, welcher Button gedrückt wird, richtet sich die Darstellung aus: Stehen sich zwei oder mehr Benutzer gegenüber, müssen sie entscheiden, wo „oben“ sein soll.

Die Darstellung ist ausreichend hell und sollte auch in lichtdurchfluteten Räumen noch gut zu erkennen sein. Der Projektor im Surface-Gehäuse ist direkt auf die Plexiglas-Oberfläche gerichtet. Über den Lichtstrom des Geräts schweigt sich Microsoft aus, nur so viel ist sicher: Der Beamer projiziert mit der DLP-Mikrospiegel-Technik, bei der die Farben mit einer drehenden Scheibe nacheinander erzeugt werden. Das führt bei Augenbewegungen zu Farbblitzern. Beim Surface ist dieser sogenannte Regenbogeneffekt ebenfalls zu sehen – wenn auch die Blitzer bei vielen DLP-Front-Projektoren weitaus stärker stören. Die Tischplatte hat insgesamt eine Diagonale von 128 Zentimetern, davon dienen 76 Zentimeter (30 Zoll) als Rückprojektions-Display.

Die Berührungserkennung haben die Microsoft-Ingenieure mit LED-Lichtquellen und fünf Kameras realisiert: Infrarot-LEDs mit einer Wellenlänge von 850 Nanometern leuchten die Oberfläche gleichmäßig aus und die Kameras erfassen das an den Berührstellen auf der Oberfläche reflektierte Licht. Während der Projektor mit einer Auflösung von 1024 x 768 Bildpunkten arbeitet, liefern die fünf Infrarot-Kameras zusammen ein 1260 x 960 Pixel großes Bild. Zuerst hatten die Microsoft-Ingenieure mit vier Kameras gearbeitet – ein „blinder Fleck“ erforderte ein fünftes Bildaufnahmegerät.

Die Kameraauflösung reicht für eine recht genaue Fingersteuerung – außerdem kann der Surface mit einem sogenannten Tag versehene Objekte erkennen. Eine mögliche Anwendung dafür: Die Kundin in einer Parfümerie legt einen Lippenstift auf den Tisch, dieser erkennt anhand des Tags das Produkt und zeigt per Foto an, wie der Lippenstift aufgetragen aussieht.

Wermutstropfen: Die Auflösung reicht nicht für die auf praktisch allen Produktverpackungen verwendeten EAN-Strichcodes. Daher unterstützt Microsoft nur „Domino-Tags“ (auch als „Byte-Tag“ bekannt), mit denen man lediglich 256 Zustände unterscheiden kann. Domino-Tags nutzen keine Striche, sondern dicke Punkte; der Name spielt auf ihre Ähnlichkeit mit den gleichnamigen Spielsteinen an.

Laut Hersteller kann der Surface 52 Objekte gleichzeitig erkennen – fünf Menschen können also mit all ihren Fingern am Tisch arbeiten und gleichzeitig noch zwei Karten mit Tags einsetzen. „Wir geben 52 als Limit an, weil das System bei mehr Objekten langsamer wird. Theoretisch sind aber mehr Objekte gleichzeitig möglich – auch wenn so viele Leute gar nicht um den Tisch passen“, so Microsoft-Evangelist Lutsch. Die Objekterkennung kann Finger und Domino-Tags als solche identifizieren, die Umrisse aller anderen Objekte werden als „Blobs“ verbucht. Wenn man eine Karte mit aufgeklebtem Tag auf das Display legt, erkennt das System einmal den Umriss der Karte als Blob und zusätzlich den Tag. Bei allen erkannten Objekten wird neben der Position auch die Ausrichtung ausgewertet.

Die Objekterkennung soll auch in hellen Messehallen noch funktionieren. Problematisch sind allerdings direktes Sonnenlicht sowie Strahler, die direkt auf die Oberfläche gerichtet sind. Apropos Oberfläche: Die hat es in sich.

„Die Entwicklung der Oberfläche war sehr, sehr aufwändig“, berichtet Dr. Alexander Laschitsch vom Mischkonzern Evonik – hier wird die komplette Surface-Tischplatte hergestellt. Die Platte muss stabil sein, gute Rückprojektions-Eigenschaften aufweisen und sich gleichzeitig noch für die Infrarot-Bilderkennung eignen. Gerade letzteres sei problematisch gewesen, so Laschitsch: „Bei der Entwicklung kam es immer wieder zu Geisterbildern. Das haben wir durch den komplexen Schichtaufbau in den Griff bekommen.“ Die fertige Version besteht nun aus sieben Schichten: Auf der Plexiglas-Basisplatte liegt eine Rückprojektions-Folie auf, die wiederum mit fünf Schichten bedruckt ist: Jeweils zwei graue und zwei schwarze dienen der Farbdarstellung, die fünfte aufgedruckte Schicht hilft den Infrarotkameras bei der Kalibrierung. Durch den Schichtaufbau wird verhindert, dass sich bei der Berührung mit den Fingern Interferenzen (sogenannte Newtonsche Ringe) bilden.

Bodenplatte und Projektionsfolie müssen sehr akkurat verklebt werden, denn die von Microsoft vorgegebene Spezifikation verbietet bereits allerkleinste Verunreinigungen und Lufteinschlüsse. Die Platten werden deshalb unter Reinraum-Bedingungen am Evonik-Standort Weiterstadt hergestellt.

Die Tischplatte kommt aus Hessen, die Software aus Redmond: Der Tisch nutzt kein spezielles Betriebssystem, sondern ein ganz normales Windows Vista. Alle Touch-Tisch-Anwendungen laufen in der sogenannten „Surface Shell“. Die normale Vista-Oberfläche bekommt man auf dem Surface-Display im Normalfall gar nicht zu Gesicht. Diese kommt erst im Debug-Modus zum Vorschein oder wenn man einen Monitor an den im Tisch eingebauten Rechner anschließt, so lässt sich der Surface auch am komfortabelsten administrieren.

Surface-Applikationen lassen sich mit Hilfe des Grafik-Framework Windows Presentation Foundation (WPF, gehört seit Version 3.0 zu .NET) oder dem Spieleentwicklungs-Toolkit XNA entwickeln. So kann ein Designer mit dem Interface-Werkzeug Expression Blend oder direkt in der Beschreibungssprache XAML die Oberfläche gestalten und ein Programmierer parallel die Logik in C# entwickeln. Ob der Surface nach der Einführung von Windows 7 mit dem neuen Betriebssystem ausgeliefert wird, ist noch unklar. Sinn ergeben würde es, schließlich wirbt Microsoft damit, dass der Vista-Nachfolger bereits von Haus aus Multitouch unterstützt.

Multitouch-Tische sind in puncto Bedienung nicht ansatzweise mit herkömmlichen Rechnern vergleichbar. Das ist Segen und Fluch zugleich. Segen, weil sich viele Anwendungen wirklich vollkommen intuitiv bedienen lassen. Fluch, weil man keine Standard-Software verwenden kann, sondern alles maßschneidern muss. Die Frage ist auch: Wie und wo kann man solche Tische produktiv einsetzen? Die Anwendungen, die wir bisher gesehen haben, basierten fast ausschließlich auf dem Wow-Effekt, den die ungewohnte Bedienung auslöst. Klar: Ein Surface-Tisch, auf dem eine interaktive Unternehmens-Präsentation läuft, zieht auf einer Messe die Menschen an. Noch. Auf lange Sicht müssen aber andere, spannendere Anwendungen her.

Interessante Demoprogramme hat Microsoft bereits in petto. Eine Applikation erlaubt es beispielsweise Ärzten, ihren Patienten an einem 3D-Modell genau zu demonstrieren, wie eine Operation ablaufen wird. Denkbar ist auch eine Anwendung für die gemeinsame Fotoauswahl in Werbeagenturen oder Redaktionen. Eine Hotel-Bar in Las Vegas setzt auf Surface-Tischen bereits eine Cocktail-Mix- sowie eine Flirt-Anwendung ein.

Die Zukunft wird zeigen, ob Multitouch-Tische das Zeug zum Produktiv-Werkzeug haben. Microsoft jedenfalls scheint fest daran zu glauben: Der Surface-Nachfolger Second Light, der mit einem zweiten Projektor ausgestattet ist und zwei Bilder parallel (Bild in Bild) darstellen kann, wird bereits entwickelt.

Literatur

[1] Peter König, Ulrike Kuhlmann, Finger-fertig?, Multitouch: Wunsch und Wirklichkeit, c't 08/14, S. 150

[2] Peter König, Tangible Interfaces, Schnittstellen machen Daten anfassbar, c't 08/21, S. 86

Mehr Infos

Auch anderswo wird angefasst

Der Multitouch-Tisch von Microsoft ist zwar wahrscheinlich der bekannteste seiner Art, doch die Konkurrenz wächst. Neben dem xdesk von der deutschen Firma Impressx, dem Illuminate-Tisch von GestureTek, dem DiamondTouch von Circle Twelve und anderen Produkten gibt es auch Selbstbau-Lösungen. Hier kursieren etliche Ansätze im Netz. Einige Bastler nutzen wie Microsoft Infrarot-LEDs und Webcams. Andere setzen ebenfalls auf Kameras, verwenden statt Infrarot-LEDs aber beispielsweise eine mit blau gefärbtem Wasser gefüllte Plastiktüte. Drückt man auf die Tüte, wird das Wasser verdrängt – die Bildverarbeitungssoftware interpretiert alles, was nicht blau ist, als Berührungspunkt.

Auch softwareseitig tut sich einiges, mehrere fertige Bibliotheken für das Kameratracking sind im Netz zu haben: Neben dem Klassiker touchlib gibt es inzwischen auch neuere Ver-treter wie tbeta und reacTIVision. Letzteres Framework ist aus der Entwicklung des Synthesizer-Touch-Tisch reactable hervorgegangen. Alle genannten Bilderkennungs-Bibliotheken sind Open Source und laufen plattformübergreifend. Allerdings sind sie hardwarehungrig – und erfordern einen ähnlichen Rechner wie den im Surface.

Angesagt ist Multi- oder zumindest Dual-Touch derzeit auch in kleineren Dimensionen: Die aktuellen TouchSmart-All-in-one-PCs von HP (in 22 und 25,5 Zoll zu haben) beherrschen die Technik, außerdem Tablet-PCs beziehungsweise Netbooks von HP, Dell, Gigabyte und bald auch von Asus. Diese Geräte nutzen nicht wie viele Touch-Tische kamerabasiertes Tracking, sondern setzen berührungsempfindliche Displays ein.

Microsoft Surface
Hardware-Ausstattung
Display 30 Zoll, 1024 x 768 (Rückprojektion)
Projektor 1-Chip-DLP
Lampenlebensdauer 6000 Stunden
Prozessor Intel Core 2 Duo, 2,13 GHz
Speicher 2 GB Dual-Channel DDR2
Festplatte 250 GB SATA (minimal)
Eingabegerät kamerabasierte Berührungserkennung mit Infrarot-Beleuchtung und 5 Kameras
Audiosystem Stereo-Flachlautsprecher
Netzwerk Intel Gigabit-Ethernet, WLAN (802.11g), Bluetooth
Schnittstellen 6 x USB 2.0, Sub-D-VGA, RJ-45, 2 x Audio-Out (Klinke)
Maße (L x B x H) 108 cm x 69 cm x 64 cm
Gewicht 90 kg
Preis 11 000 € (Standardversion), 13 000 € (Entwicklerversion)

(jkj)