Blue Yonder: Die Preisfrage

Algorithmen aus der Teilchenphysik sagen das Kaufverhalten von Kunden vorher.

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Algorithmen aus der Teilchenphysik sagen das Kaufverhalten von Kunden vorher.

Knapp 2,6 Millionen Tonnen Lebensmittel werfen Händler in Deutschland jährlich weg. Und doch stehen Kunden oft schon lange vor Ladenschluss leeren Regalen gegenüber. Das menschliche Kaufverhalten ist offenbar so unvorhersehbar, dass Händler sich regelmäßig von der Nachfrage überraschen lassen.

Michael Feindt, 56, will sich damit nicht abfinden. Für ihn ist die Gesellschaft zwar ein komplexes System, aber das sei die Teilchenphysik auch. Und mit Teilchen kennt er sich aus: Er arbeitet unter anderem als Professor am Karlsruher Institut für Technologie daran, aus den Datenströmen moderner Teilchenbeschleuniger die relevanten Informationen herauszufiltern. Seine Karriere begann er am europäischen Forschungszentrum Cern. Dort gab es das Problem, dass sich bestimmte physikalische Werte wie die Energie des B-Quarks nicht direkt messen lassen. Feindt schrieb im Jahr 2000 einen Algorithmus, der die Energie stattdessen indirekt ermittelte.

Später kam ihm die Erkenntnis, dass sich dieser Algorithmus auf alles Mögliche ansetzen lässt – auch auf das Verhalten von Menschen. 2002 gründete er eine Firma, um den von ihm so getauften NeuroBayes-Algorithmus zu vermarkten. Erster Kunde war der Versandhändler Otto. Gemeinsam mit Otto entstand daraus 2008 Blue Yonder. Es beschäftigt mittlerweile 80 promovierte Mitarbeiter – meist Physiker, Informatiker oder Mathematiker. "Die größte Ansammlung von Data Scientists in Europa", sagt Feindt stolz. Sie sitzen nicht im Silicon Valley, sondern in einem unscheinbaren Bürogebäude an einer Ausfallstraße im Norden Karlsruhes.

Ende 2014 stieg die Investmentfirma Warburg Pincus mit 75 Millionen Euro ein. Blue Yonder sei ein "führender europäischer Anbieter von Vorhersage-Anwendungen", begründet die Firma ihr Investment. Jilles Vreeken, Leiter der Nachwuchsgruppe "Exploratory Data Analysis" an der Uni des Saarlandes, bestätigt diese Einschätzung: "Blue Yonder zählt in Deutschland und Europa zu den Führenden." Zu den Kunden zählen vor allem Einzelhändler wie dm, SportScheck, Kaufland und Kaiser's Tengelmann. Sie haben ähnliche Schwierigkeiten wie die Teilchenphysiker: Niemand kann Kunden in den Kopf schauen und ihre Absichten direkt messen. Die lassen sich aber indirekt erschließen – aus vergangenen Einkäufen. Gibt es genügend Daten darüber, kann ein Algorithmus darin Muster und Zusammenhänge entdecken. In komplexeren Fällen kommen 60 bis 70 Faktoren zusammen, die den Absatz bestimmen.

Die Blue-Yonder-Server liefern mehrere Hundert Millionen Prognosen am Tag ab. Sie können als "Software as a Service" direkt in die Warenwirtschaftssysteme der Händler einlaufen, die dann täglich autonom die nötigen Mengen bestellen. Die britische Fastfoodkette EAT muss dadurch im Schnitt 14 Prozent weniger Lebensmittel wegwerfen. Kaiser's Tengelmann will bis Ende 2015 bei allen 500 Supermärkten große Teile des Sortiments automatisiert ordern. In einem Pilotprojekt in zehn Filialen sank die Quote an vergriffenen Waren von über fünf auf unter ein Prozent.

Die Mathematik dahinter ist die gleiche wie bei anderen Big-Data-Ansätzen: die Suche nach Korrelationen. Doch mit Korrelationen ist das so eine Sache: Wohl jeder Statistikstudent erfährt im ersten Semester, dass es eine eisenharte Korrelation zwischen Störchen und Geburten gibt. Daraus folgt natürlich kein kausaler Zusammenhang. Für Prognosen ist das zunächst einmal egal. Wenn Störche tatsächlich ein guter Indikator für die Geburtenrate sind, lässt sich das eine aus dem anderen vorhersagen.

"Aber wenn ihre Entscheidungen die Zukunft verändern, reicht das nicht mehr", sagt Feindt. Dann muss ein Algorithmus auch Ursache und Wirkung verstehen. "Die Big-Data-Community kümmert sich bisher wenig um Kausalitäten", so Feindt.

Um aus nackter Statistik wirkliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen herauszudestillieren, braucht es hinreichend detaillierte Daten, die etwa alle Marketingmaßnahmen und Umsätze verzeichnen. Ansonsten muss der Kunde experimentieren, zum Beispiel mit dem Preis. Dann kann der Algorithmus etwa den Einfluss von Wetter, Wochentag oder Werbeaktionen herausrechnen. Das Ergebnis hilft Händlern zum Beispiel, ihr Marketing auf diejenigen Kunden zu konzentrieren, die am stärksten auf Werbung ansprechen.

Seit Kurzem bietet Blue Yonder seinen Kunden auch eine automatische Preisgestaltung an, um Gewinn, Umsatz oder beides zu optimieren. Sie gilt nur für einzelne Produkte, aber nicht für individuelle Kunden wie etwa beim Berliner Start-up SO1. Otto erreichte damit sechs Prozent mehr Umsatz und Marge sowie drei Prozent mehr Neukunden.

Die Logik dahinter: Wer mitten in der Woche ein neues Hemd kaufen will, benötigt es vermutlich dringend und wird nicht so sehr auf den Preis schauen. Am Samstag haben die Menschen hingegen mehr Zeit, Angebote zu vergleichen. Bei der Modekette Bonprix, die 2014 zwei Versuchsläufe mit dem dynamischen Pricing unternahm, lagen die von Blue Yonder festgelegten Preise rund zehn Prozent über oder unter den manuell bestimmten. Käufer von Jacken und Mänteln ließen sich am ehesten von erhöhten Preisen abschrecken. Bei Kleidern hingegen stieg bei einer Preiserhöhung der Absatz sogar.

Künftig will Blue Yonder seinen Kundenkreis über den Handel hinaus ausweiten – zum Beispiel in die Industrie. Dort könnte der Algorithmus etwa vorhersagen, wann eine Maschine gewartet werden muss. Banken und Versicherungen stehen hingegen nicht mehr im Fokus von Blue Yonder. Ein Fonds, bei dem der NeuroBayes-Algorithmus unterbewertete Aktien herausfischte, wird nur noch auf kleiner Flamme weitergeführt, weil er mit den neuen Eigenkapitalregeln für Banken kollidierte.

Auch Pharmafirmen halten sich zurück. Sie scheinen sich vor zu viel Transparenz bei ihren Produkten zu fürchten. "Datenanalyse ist eine scharfe Waffe – sie bietet aber auch viele Chancen", sagt Feindt. "Man kann mit ihr zum Beispiel gigantische Medizinforschung machen – nicht mit ein paar Hundert, sondern mit Millionen Fällen nach Nebenwirkungen suchen." Aber keine Pharmafirma wollte sich dieser Prüfung stellen. "Die haben uns gleich wieder nach Hause geschickt", sagt Feindt. (grh)