Die frohe Botschaft

Super! Wissenschaftler verwenden immer häufiger positive Wörter in ihren Veröffentlichungen. Warum das ein fantastischer ...

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Super! Wissenschaftler verwenden immer häufiger positive Wörter in ihren Veröffentlichungen. Warum das ein fantastischer ...

... Grund zum Meckern ist, lesen Sie hier.

Kein Scherz: Christiaan Vinkers von der Universität Utrecht hat gemeinsam mit Kollegen sämtliche Abstracts von Artikeln in der medizinischen Datenbank PubMed durchgeflöht – jedes Paper, das zwischen dem 1. Januar 1974 und dem 31. Dezember 2014 erschienen ist. Natürlich nicht per Hand, sondern mit dem Computer.

Das Ergebnis der Studie: Die Häufigkeit von 25 ausgesuchten, positiven Begriffen wie "bahnbrechend", "exzellent" oder "unglaublich", die in den Zusammenfassungen der Artikel auftauchen, hat seit 1974 um 880 Prozent zugenommen. "Wenn wir den Trend extrapolieren", schreiben die Wissenschaftler, "wird das Wort "neu" 2123 in jedem Abstract auftauchen. Fantastisch – um im Bild zu bleiben.

In der selben Ausgabe des altehrwürdigen British Medical Journal findet sich übrigens auch ein Artikel, in dem analyisiert wird, wie oft Autoren wissenschaftlicher Aufsätze Bob Dylan zitieren. Und eine "bahnbrechende Arbeit" über den Verlauf einer Infektion nach dem Biss durch einen Zombie. Alles streng wissenschaftlich abgeleitet aus vorhandener Literatur.

Nun kann man sich natürlich fragen, was die eigentlich so reintun, in ihre Weihnachtskekse. Oder die Briten mal wieder um ihren skurrilen Humor beneiden. Aber das Paper von Vinkers und Kollegen ist mehr als ein Scherz. Die Zunahme der Häufigkeit von mehr oder weniger plumper Werbung in Überschriften und Zusammenfassungen wissenschaftlicher Arbeiten entspringt ja keineswegs drogenvernebelten Hirnen. Das ist ja tatsächlich so. Und zwar nicht nur in wissenschaftlichen Zeitschriften: Jedes Jahr, wenn ich auf der CeBit durch die Forschungshalle laufe, beschleicht mich dieses Gefühl: Immer mehr Verpackung, immer weniger Inhalt.

Und jedes Mal wundere ich mich darüber, wie stark sich der Zeitgeist in einer Community durchsetzen kann, die eigentlich der Suche nach Wahrheit und Fortschritt verpflichtet ist. Kritik ist ja so schrecklich negativ. Und negative Gedanken will keiner mehr lesen – also drucken wir sie nicht.

Was ist aus dem guten, alten Gelehrtenstreit geworden? Polemik war mal ein Mittel, um Argumente zu schärfen, Widersprüche so lange zuzuspitzen, bis die Wahrheit sich nicht mehr zwischen dutzenden von Fußnoten herauswinden kann. Heute ist Polemik ein Schimpfwort – der Inbegriff der unsachlichen Auseinandersetzung. Aber Wissenschaft lebt davon, scheinbar gesicherte Erkenntnisse in Frage zu stellen – und gegebenenfalls scharf zu kritisieren. Vielleicht trauen sich Forscher heute nicht mehr, so deutlich Positionen zu beziehen, weil sie nicht mehr so unabhängig sind, wie ihre Vorgänger. Denn wie sagt der Kabarettist so schön: Wer überall die Finger drin hat, kann die Hand schlecht zur Faust ballen. (wst)