Paintracker: Aua!

Ein neues Gerät des Berliner Start-ups Dolosys meldet, ob bewusstlose Patienten Schmerzen haben. So lassen sich Gegenmittel deutlich genauer dosieren. Doch nun bekommt das kleine Unternehmen die Marktmacht der großen Medizintechnik-Hersteller zu spüren.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Ein neues Gerät des Berliner Start-ups Dolosys meldet, ob bewusstlose Patienten Schmerzen haben. So lassen sich Gegenmittel deutlich genauer dosieren. Doch nun bekommt das kleine Unternehmen die Marktmacht der großen Medizintechnik-Hersteller zu spüren.

Wer sediert und beatmet auf der Intensivstation liegt, wird rundum gut überwacht: Maschinen achten auf den Puls, die Atmung, den Blutdruck und die Körpertemperatur des Kranken. Sie versorgen ihn auch mit Sauerstoff, Medikamenten und reinigen sein Blut. Doch eines kann die Armada von Maschinen nicht: Verraten, ob die bewusstlosen Patienten trotz Schmerzmittel nicht doch Schmerzen haben – durch die Operationswunde, Pflegemaßnahmen wie Katheter und Verbandswechsel oder eben die Beatmungsmaschine selbst.

Ärzte müssen die Patienten deshalb genau beobachten: Schwitzen oder stöhnen sie? Sind sie angespannt oder grimassieren sogar? Bewegen sie ihre Arme? Wehren sie sich gegen die künstliche Beatmung? Aus der Intensität dieser Anzeichen lässt sich zum Beispiel die sogenannte "Behavioral Pain Scale" (BPS, zu Deutsch etwa verhaltensbezogene Schmerzskala) bestimmen. Doch es bleibt immer eine subjektive Schätzung, nach der Mediziner dann Schmerzmittel verabreichen. Sie kann schon allein dadurch danebenliegen, dass die sedierenden Medikamente die äußerlichen Anzeichen überdecken.

Starke Schmerzen richten aber, auch wenn Patienten sie nicht bewusst wahrnehmen, Schaden an: Sie können etwa die Atmung erschweren, das Herz belasten und den Blutdruck steigern oder die Wundheilung verzögern. Dann müssen die Kranken länger beatmet werden, was ihr Infektionsrisiko – und die Behandlungskosten – steigert. Die subjektive Einschätzung hat einen weiteren Nachteil: Zeigt ein Patient keines der Warnzeichen, ist das trotzdem nur eine halbe Entwarnung. Die Ärzte wissen dann immer noch nicht, ob sie die Mittel nicht zu hoch dosiert haben. Auch das kann sehr unangenehme Folgen haben: Die Kranken können zum Beispiel nach dem Aufwachen in einen deliranten Zustand geraten, bei dem Symptome wie Orientierungslosigkeit, Bewusstseinsstörungen oder Halluzinationen auftreten können. Studien zufolge kann eine Überdosierung innerhalb der ersten 48 Stunden der Intensivtherapie die Sterblichkeit sogar signifikant erhöhen.

Bekommen Patienten aber die richtige Schmerztherapie, können sie die Intensivstation schneller verlassen, sagt Jan Baars, Geschäftsführer des Berliner Start-ups Dolosys. Dafür hat der Anästhesist, der früher an der Charité gearbeitet hat, mit seinem Team den Paintracker entwickelt. Dieser macht sich den Schmerzreflex zunutze, der uns zum Beispiel auch beim Barfußlaufen ruck, zuck das Bein hochziehen lässt, wenn wir auf etwas Spitzes treten – noch bevor wir den Schmerz bewusst fühlen. Er funktioniert auch, wenn man bewusstlos ist.

In einer zu Büros und einer Werkstatt umfunktionierten Altbauwohnung im Stadtteil Berlin-Mitte demonstriert Baars, wie das Gerät funktioniert. Er hat mehrere Elektroden an seinem rechten Bein angebracht: Zwei messen am Oberschenkel die Muskelaktivität, zwei stimulieren später seitlich unter dem Knöchel einen Nerv, die fünfte dient als Erdung. Nun verabreicht ihm der Paintracker ganz leichte Stromreize von wenigen Milliampere (mA) und steigert deren Intensität langsam. So lange, bis das Gerät die Schmerzgrenze findet. Bei sieben Milliampere zucken Baars' Oberschenkelmuskeln unwillkürlich, und der Monitor zeigt einen Ausschlag an. "Das ist meine persönliche Schwelle. Es fühlt sich ein bisschen wie beim Kneifen an", sagt Baars.

Bei sedierten Patienten liegt die Schwelle – bei richtig dosierten Schmerzmitteln – bei 15 bis 25 mA, wie mehrere Studien gezeigt haben. Denn die Schmerzbehandlung unterdrückt das normale Schmerzempfinden und verschiebt die Schwelle nach oben. Zeigt der Paintracker nun bei stündlichen Messungen, dass die Reflexschwelle stark ansteigt, ist das ein klares Indiz für eine Überdosierung. "Schmerzhafte Maßnahmen führen dagegen zu einer Senkung der Reflexschwelle, das zeigen laufende Studien", erklärt Baars. Eine genaue Untergrenze müsse noch ausgelotet werden. Sinkt sie aber deutlich unter den Normbereich von etwa sieben bis zwölf mA, gilt das als Hinweis auf eine Unterdosierung.

Ursprünglich wollte Baars an der Charité eine Methode entwickeln, die überprüfen hilft, ob eine Narkose tief genug ist und voraussagen kann, bei welcher Dosierung Patienten noch auf Schmerzreize reagieren würden. Das ließ sich per Reflexmessung auch gut ermitteln, allerdings waren die Apparate für Operationssäle zu unhandlich. Um ein praktischeres Gerät zu entwickeln, bewarb sich Baars mit seinem Team erfolgreich für das Forschungstransfer-Förderprogramm Exist des Bundesforschungsministeriums.

Mit der Finanzierung entwickelten sie einen ersten Prototyp. Es folgten mehrere Gründerpreise. Anschließend warb Dolosys, das im Mai 2012 aus der Charité ausgegründet wurde, eine Summe im mittleren sechsstelligen Bereich beim High-Tech Gründerfonds und einen günstigen Kredit bei der Investitionsbank Berlin (IBB) in fast derselben Höhe ein. Der inzwischen dritte und viel handlichere Prototyp mit Touchscreen und dreisprachiger Menüführung (Deutsch, Englisch und Französisch) wird nun in Kleinserie mit zweistelliger Stückzahl produziert. Nach der Zertifizierung des Herstellungsprozesses 2014 und der CE-Kennzeichnung des Paintrackers 2015 startete dann die Markteinführung.

Beim seit vier Monaten laufenden Verkauf bekommen sie jedoch die Macht der großen Medizintechnikanbieter zu spüren. Großunternehmen wie GE Healthcare oder Covidien dominieren den Markt bei Geräten für die Intensivstation. Um ihre Stellung zu halten, geben sie ihre Geräte monatelang umsonst zum Ausprobieren ab. "Das wurde auch von uns erwartet, bevor dann vielleicht die Kaufentscheidung der Kunden fiel", erzählt Baars. Dolosys aber kann sich das wie viele andere Medizintechnik-Start-ups kaum leisten.

Deshalb beschloss Baars, "das machen wir – bis auf gut begründete Ausnahmefälle – nicht mehr". Dolosys reist auch im Ausland zu vielen Interessenten, um das Gerät vor Ort zu demonstrieren, und stellt den Paintracker auf Ärztekongressen vor. Weitere Verhandlungen erfolgen aber erst, wenn die Finanzierung beim Kunden gewährleistet ist. Die ersten sechs Geräte verkaufte das Unternehmen neben Deutschland nach Norwegen, in die Schweiz und die Niederlande. Zudem hat das Unternehmen Vertriebspartner für Deutschland und Tschechien gefunden.

Neben den Intensivstationen gehören bereits auch Schmerzzentren zu den Kunden. Denn die Methode eignet sich auch dafür, um bei chronischen Schmerzpatienten schneller die richtige Therapie zu finden und ihre Auswirkungen zu kontrollieren. Mehrere große Schmerzmittelhersteller interessieren sich bereits für den Paintracker, um mit seiner Hilfe die Wirkung der Mittel objektiv bewerten zu können. Zeigt er etwa an, dass der Schmerz erfolgreich betäubt wurde, der Patient klagt aber trotzdem weiter, braucht er vielleicht ein anderes Mittel – der Hersteller weiß aber, dass sein Mittel grundsätzlich wirkt. Gibt der Patient umgekehrt eine deutliche Besserung an, während das Gerät keine Veränderung der Schmerzschwelle anzeigt, handelt es sich wahrscheinlich um eine Placebowirkung. Darüber hinaus kann das Gerät helfen, schneller die richtige Dosis zu finden.

Und Baars hat noch viel mehr Pläne. Deshalb hat er sich schon im Mai entschieden, seine Beurlaubung von der Charité nicht zu verlängern, sondern sich ganz auf Dolosys zu konzentrieren: "Ich bleibe voll hier." (vsz)