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Was war. Was wird. Von Büchern, solchen und solchen. Und noch solcheren ... und etwas Musik.

Ein Buch! Ein Buch! Ein Königreich für ein Buch. Oder so ähnlich, oder wie? Hal Faber fällt wie allen anderen auch aller Anfang schwer. Aber das macht nichts. Es sind auch nicht alle Bücher wirklich von Wert, auch wenn sie bedeutungsvoll sein mögen.

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Bibliothek, Bücher
Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro", schrieb Thomas von Kempen, wie man bei Umberto Eco nachlesen kann. Nirgendwo habe ich Ruhe gefunden, nur in der Ecke mit einem Buch. Bei all den Dingen, die in der IT-Branche so abgehen, sind gute Bücher ein wichtiger Ausgleich. Zumal dann, wenn man sie umstandslos auf ein iPad oder ein Tablet packen kann, am besten ohne DRM als gemeinfreie Artefakte. Also, dann wollen wir mal: Eine etwas andere Wochenschau zum Jahresanfang.

*** Ja, aller Anfang ist schwer. Das kommt davon, dass man Anfänger ist oder Anfängerin. Anne Frank war so eine, als sie im Juni 1942 Het Achterhuis begann. Bekanntlich konnte sie ihre Aufzeichnungen nur bis zum 1. August 1944 fortführen, da wurde sie von begeisterten Lesern des Buches "Mein Kampf" zu einer Landpartie mitgenommen, die in Bergen-Belsen 1945 endete. So kam es, dass ihr Vater Otto Frank Hand an die Aufzeichnungen legte und alle Abschnitte entfernte, in denen Anne Frank sich beispielsweise mit ihrer Sexualität beschäftigte. Das von ihm erstellte Kompilat gehört heute zum Weltdokumentenerbe. Nun liegt nicht nur die Böllerei und Feierei des Unglücksjahres 2015 hinter uns, sondern auch Neujahr, der Internationale Tage der Gemeinfreiheit. An ihm werden die großartigen künstlerischen Leistungen der Personen gemeinfrei, die vor 70 jahren gestorben sind. Dazu gehört die wundervolle Tiergeschichte "Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde" und die "Meine 365 Liebhaber" einer gewissen Josephine Mutzenbacher, geschrieben von Felix Salten – zumindest in Europa, denn in den USA sind sie das Eigentum anderer. So können wir das hemmungslos genießen, was der große Kybernetiker Oswald Wiener einen Roman von Weltrang genannt hat.

*** Für Anne Frank gibt es keine Gemeinfreiheit. Der schweizerische Anne Frank Fond sieht das Redigier-Werk seines 1980 gestorbenen Gründers in Gefahr und konnte sich mit seiner Auffassung vor einem niederländischen Gericht durchsetzen. Zwar gibt es weiterhin Widerstand gegen die Entscheidung, etwa von der niederländischen Anne Frank-Stiftung oder vom Blogger Olivier Ertzscheid, doch was zählt, ist der Sieg der Anwälte. Frühestens 2036 oder 2050 wird Annes Weltdokumentenerbe gemeinfrei. Bemerkenswert: Nach dem Willen der Anwälte soll der Blogger nicht nur die Veröffentlichung des Tagebuches zurückziehen, sondern alle Medien von der Löschung informieren, seine Reue aussprechen und seine Schande bekennen sowie den Anwälten eine Liste aller kontaktierten Medien übermitteln, damit die Reue gerichtsfest dokumentiert ist. Das gesamte Verfahren erinnert an Thomas Morus' "Utopia" von 1516. In seinem utopischen Land gibt es keine Anwälte, denn würde es sie geben, wäre jeder Frieden dahin.

*** In Deutschland ist Mein Kampf von Adolf Hitler gemeinfrei geworden, eine kommentierte wissenschaftliche Ausgabe mit der Erstauflage von 4000 Stück bereits ausverkauft. Hitler starb 1945. Zu seinen Lebzeiten wurden mehr als 12 Millonen Exemplare verkauft und sehr wohl auf breiter Flur gelesen, obwohl das später geleugnet wurde. Da machten Deutschlands Bürger ganz besorgt auf ahnungslos und machten das "Tagebuch der Anne Frank" zum meistverkauften Taschenbuch der 50er jahre. Hitlers böses Buch wird landauf, landab besprochen, ganz besorgt fragt etwa die tageszeitung ihre Leser, ob dieses Buch noch gefährlich ist. Dazu gibt es das berühmte Bild von Sergant Arthur E. Peters, wie er in Hitlers Münchener Wohnung auf dem Bett liegend im Buch schmökert und den Inhalt durchtelefoniert. Mein Kampf kommt auch ins Theater, wo der türkische Musiker Volkan Türeli aus dem Buch liest, das jeder seine Fraunde dort bessesen hat. In der Türkei gilt mein Kampf als weit verbreitete Lektüre, als Teil der Weltgeschichte, heißt es in der Berlin-Ausgabe der tageszeitung an diesem Wochenende. Dort wird der Wirbel um Erdogan nicht verstanden. War ja nur gut gemeint.

*** Mein Kampf gibt es auch als Dokumentarfilm, der auf Youtube in 12 Teilen gesehen werden kann. Der Regisseur Erwin Leiser hatte sich mit den Folgen des Hitler-Buches beschäftigt und den im Buch deutlich lesbaren Judenhass von Hitler dokumentiert, überwiegend mit nationalsozialistischer Propaganda, die er in DDR-Archiven gefunden hat. Die Kollegen von Leni Riefenstahl hatten 1942 im Warschauer Ghetto einen "Informationsfilm über den Juden" gedreht. Ihre Bilder wurden auf Geheiß des Propaganda-Ministeriums unter Verschluss gehalten, da sie das Elend der Juden "zu krass" darstellten. Unter dem Tarntitel "Richthofen, der rote Baron" verschwand der Film in den Archiven, bis Erwin Leiser ihn fand und mit NS-Aufmärschen zusammenschnitt. Die Filmkritik bemäkelte damals den problematischen Umgang mit Archivmaterial, wir würden heute von einem gelungenen Remix sprechen.

*** Wird Hitlers Gefängnisschrift den deutschen besorgten Bürgern Munition zur Hand geben wie diese Böller, mit denen sie zum Jahreswechsel vor Flüchtlingsheimen auftauchten? Man wird sehen, doch in den bornierten Pegida-Köpfen bräunt es längst dank anderer Lektüre. Der freigestellte Geschichtslehrer Björn Höcke hat in einer Rede über das Fortpflanzungsverhalten von Europäern und Afrikanern seine Argumente eindeutig vom "wissenschaftlichen Rassismus" des Philippe Rushton abgeschrieben. Rushton machte mit seiner r/K-Theorie im rechten Umfeld der Eugeniker Karriere. Die überlegene Rasse sind bei ihm die Asiaten, gefolgt von den Kaukasiern und den Schwarzen. Der Islam war für Rushton keine Religion, sondern ein besonderer genetischer Defekt, der besonders aggressive Personen bzw. Araber erzeugt, die vernünftigen Argumenten nicht zugänglich sind.

*** Vernünftige Argumente sind nicht die Sache von Helmut Roewer a.k.a. Stephan Seeberg, den Theoretiker des völkischen Umsturzes. Er ist die leibgewordene Verköperung meines Dauerargumentes, dass der Verfassungsschutz aufgelöst werden muss. Mutige Menschen, die gegen einen nationaldeutsch witzelnden Bachmann stehen, sind ein Konglomerat von Taugenichtsen und Schwätzern. Wo Adolf Hitler vom Erzfeind Frankreich schrieb, steht ihm Helmut Roewer nicht nach. Der erste Weltkrieg ist das Resultat einer russisch-französischen Verschwörung. Na, so ein Zufall.

Was wird.

Doch raus aus den Büchern, hinein ins "richtige" Leben! Frischauf ins neue Jahr 2016, allein die Themen klingen altbacken und fad. Etwa dann, wenn sich der Großauftrieb von Politikern und Wirtschaftsführern auf dem Weltwirtschaforum zu Davos mit der 4. industriellen Revolution, bei uns auch Industrie 4.0 genannt, beschäftigt. Etwas knapper geht es kurz davor bei der DLD-Konferenz in München zu, wo der zu Recht vergessene Hausphilosoph von Google, Luciano Floridi, mit dem Philosophen des Internet-Kolonialismus, Peter Sloterdijk, über die 4. Revolution unterhalten wird. Als Moderator wünschen wir uns mal WhatsApp-Gründer Jan Koum, der ebenfalls auf Burdas Digitalsimulation auftreten will. Wegen der vorbildlichen Nutzlosigkeit.

Nun, da das neue Jahr endlich angefangen hat, gibt es mal keine Musik zum Start ins Wochenende, die mein Redakteur sonst empfiehlt, den ich ja nur Samstagnachts, aus meinem schwarzen Hubschrauber kletternd, auf dem Heise-Parkplatz treffe. Zum Start ins Jahr gehen wir vielmehr in die Geschichte zurück und hören uns den wunderbaren, großartigen Oscar Pettiford an. Es ist nicht nur sein Bass-Solo bei der von Coleman Hawkins aufgenommen, besten jemals gespielten Version von "The Man I Love". Es ist auch ein Auftritt wie 1958 "mit Freunden" (zu denen unter anderem auch Attila Zoller gehörte), den er in Hamburg spielte. Ach, wäre das Leben nur immer so relaxed, swingend und spannend wie diese Musik. Hoffen wir das Beste für 2016. (jk)