Die Mode viel zu harter Fahrwerke im Alltag

"Hart ist schnell"

Seit langer Zeit regiert die Mode immer härterer Fahrwerke vor allem den deutschen Autobau. Der Kunde nimmt das gut an, weil Härte sich schnell anfühlt. Meistens ist sie aber nicht schneller. Oft sogar langsamer

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Einsteigen. Ein Auto des Volkswagen-Konzerns. Kennt man eins desselben Baukastens, kennt man grundsätzlich alle. Nur die Details sind anders, aber meistens so, dass man sie später kaum benennen könnte. Dann: *KRACH!* Oh. Das ist mal ein neues Detail. Da hat jemand versucht, die Mode überhärteter Sportfahrwerke über die Grenzen der Lächerlichkeit hinaus zu führen. Die Geschichte der Sportfahrwerke für Alltagsfahrer ist ein einziges Missverständnis. Der normale Fahrer hat gelernt "Ein Sportfahrwerk ist HART, daran erkennt man es", weil man in der Verkehrssozialisierungszeit des normalen Fahrers noch Alltagsfahrwerke fand, die viel federten und wenig dämpften, was komfortabel, schlechtwegtauglich, aber gelegentlich auch etwas schaukelig war. Ein Sportfahrwerk dämpfte im Vergleich deutlich mehr, oft verwendete der Fahrwerker auch härtere Federn, weniger Federweg und steifere Querstabis. Vielleicht stammt aus dieser Sozialisierung die Unart, viel zu harte Fahrwerke zu bauen, die fast ausschließlich aus Nachteilen bestehen. Beispiel heute: Seat Leon ST in der FR-Ausstattung, die sich hauptsächlich über das Sportfahrwerk definiert.

Bevor wir zu diesem merk-würdigen Fahrzeug kommen, möchte ich das weitergeben, was Fahrwerks-Experten immer sagen, um dem Mythos "je härter, desto schneller" entgegenzuwirken: "Ein Sportfahrwerk muss nicht hart sein, sondern DEFINIERT." Sie meinen damit, dass ein Sportfahrwerk die Fahrbahnoberfläche so gut nachzeichnen soll, dass der bestmögliche Grip entsteht. Der hängt natürlich immer an äußeren Bedingungen. Deshalb kann man ein besseres Sportfahrwerk auch an diese Bedingungen einstellen. Günstigere Sportfahrwerke ohne Einstellmöglichkeiten müssen daher mehr Kompromisse machen, damit sie auf mehr Strecken funktionieren. Seat versucht es für die FR-Ausstattung des Leon ST mit einem nicht einstellbaren Sportfahrwerk für den Bereich "heiß, glatter Asphalt" mit wenigen Kompromissen für alles Andere. Seine Funktion als Fahrwerk leidet darunter bei den Testtemperaturen von 6 bis 8° C derart, dass ich ihm die Schulnote "ungenügend" geben würde. Seine Funktion als Marketingmaßnahme dagegen verdient ein "gut" bis "sehr gut", denn wie das kracht im Gebälk, fühlt man sich, als würde man gleich den Vettel überrunden.

Vierkantstahl dämpfte immer gut genug für uns

Ich habe dieses Auto in der Europcar-Lotterie am Flughafen Stuttgart gezogen. Ich belud es mit drei Menschen, deren Gepäck und einer Kiste voll Hund. Wir fuhren zunächst die A81. Das ist eine Strecke, die sich sehr gut eignet, Schwächen von Fahrwerken aufzudecken. Ich kann mich erinnern, wie ich hier die Kopfschmerzen meines Lebens erntete, als ich mit einer vom Importeur geliehenen Aprilia Tuono (noch mit dem V2 damals) entlangbretterte. In Würzburg angekommen prüfte ich das Fahrwerk. Alle Dämpferschrauben für beide Achsen waren auf Anschlag zugeknallt. Auf welcher Rennstrecke dieses Setup hätte funktionieren sollen, ist mir bis heute schleierhaft. Arbeitshypothese: Eine topografielose Oberfläche und ein Fahrer mit 250 kg Nettogewicht. Ich hatte damals 58 kg netto und die A81 unter mir, auf der selbst bei weicheren Werks-Setups an einigen Stellen die Räder schneller Kräder den Bodenkontakt kurz komplett verlieren. Am Ende dieser Fahrt wog mein Kopf virtuelle 250 kg.