Überschätzte Debattenkultur: Soziale Medien in Protestbewegungen

Wissenschaftlerinnen der Universität Hildesheim haben sich mit der Debattenkultur in sozialen Netzwerken beschäftigt. Ihre Bilanz: Inhaltliche Auseinandersetzungen finden auf Facebook oder Twitter kaum statt. "Wohlfühlaktivisten" liken und retweeten.

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Facebook und Twitter

(Bild: dpa, Julian Stratenschulte)

Lesezeit: 5 Min.
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Wie tragen Twitter, Facebook und Co zur inhaltlichen Debatte während Protestbewegungen bei? Professorin Marianne Kneuer von der Arbeitsgruppe "Politik und Internet" der Universität Hildesheim hat auf diese Frage Antworten. Zwar würden soziale Medien dazu genutzt, um Proteste zu organisieren, "die Erwartung, dass soziale Medien neue Räume für inhaltliche Debatten eröffnen" lasse sich aber nicht bestätigen. Kneuer hat mit ihrer Kollegin Dr. Saskia Richter eine Studie zu sozialen Medien in Protestbewegungen verfasst. Sie soll heute in Hildesheim vorgestellt werden.

Kneuer untersuchte in ihrer Studie, wie etwa während der weltweiten Finanzkrise seit 2011 unter anderem in Deutschland, Großbritannien, den USA, Spanien und Portugal in sozialen Medien kommuniziert wurde. Sie meint, dass die Occupy-Protestbewegungen 2011 vorschnell als "neues Phänomen" globaler Aktivismen betrachtet wurden.

Hoffnungen darauf, eine globale Bürgerschaft entstehen zu lassen, schienen durch das Internet umsetzbar, allerdings zeigte sich in der Analyse, dass deutlich weniger Beiträge im Netz "transnational" ausgerichtet waren als vermutet. Die transportierten Botschaften – ob Wort, Bild oder Link – bezogen sich überwiegend auf nationale Belange. Globale Akteure wie IWF und Weltbank oder internationale Themen wurden dagegen kaum adressiert. "Eine transnationalisierte Kommunikation als Weg, um sozusagen eine globale Antwort auf die globale Banken-, Finanzkrise und ihre Folgen zu formulieren" sei somit "nicht zu erkennen" gewesen, erläutert Kneuer.

Besonders ernüchternd erscheint durch die Studie, wie es um inhaltliche Debatten in sozialen Netzwerken bestellt ist. Es zeige sich, dass "breite inhaltliche Debatten" eher nicht geführt werden. Von Kommentaren wurde auf Plattformen wie Facebook und Twitter wenig Gebrauch gemacht. In den Protestbewegungen wurden eher "Likes" gesetzt oder Beiträge auf Twitter retweeted. Ein virtueller Raum öffentlicher Beratschlagung (Deliberation) entstand so nicht, erläutert Kneuer. Wenn viel geschrieben wurde, dann eher, um Organisatorisches zu klären – und das wiederum meist im lokalen Bezug.

Wichtiger als die inhaltliche Debatte sei die "Verbreitung von Emotionen oder Symbolen und die Mobilisierung von Aktivisten" gewesen, stellt die Wissenschaftlerin fest. Zwar müsse das nicht heißen, dass keine programmatischen und inhaltlichen Diskurse in den Protestbewegungen existierten, diese würden nur nicht in sozialen Netzwerken geführt.

Deshalb ruft Kneuer dazu auf, das Bild, "das wir von der Nutzung sozialer Medien in Protestbewegungen haben", der Realität anzupassen. Soziale Medien dienten zwar dazu, organisatorische Hinweise zu geben, auf Diskurse hinzuweisen oder kombiniert mit affektiven Botschaften Emotionen zu verbreiten. Die jeweiligen Reaktionen auf die einzelnen Posts bildeten jedoch nur die Teilnahme einiger weniger sehr aktiver Nutzer ab. Der Großteil der "Follower" nutze die Plattformen lediglich als Rezipienten.

Kneuer nennt diese Nutzer "Wohlfühlaktivisten", die das Gefühl hätten, Einfluss auszuüben, ohne mehr tun zu müssen, als einer Facebook-Gruppe beizutreten. Auf diese Weise könnten sich Sympathisanten und Aktivisten die Illusion politischer Partizipation erschaffen. Kneuer macht deutlich, dass der Like-Button auf Facebook dazu einlade, sich vom Sofa oder Schreibtisch aus mit einem Klick an einer sozialen Bewegung zu beteiligen. So entstehe aber nur eine gefühlte und symbolische Partizipation, "die gleichwohl keine oder kaum Wirkung entfaltet".

Kneuer kommt zu dem Schluss, dass einige Protestbewegungen im Netz zu optimistisch eingeschätzt und sie zu Unrecht in den Himmel gelobt wurden. Während der Proteste zur weltweiten Finanzkrise im Jahr 2011 wurde im Netz vor allem Organisatorisches geteilt, 2012 wurde dann mehr Programmatisches diskutiert. Von richtigen inhaltlichen Debatten in sozialen Netzwerken kann in diesem Zusammenhang aber kaum die Rede sein. Diese fänden eher offline statt.

Und auch nach dem Arabischen Frühling sei die Rezeption "zu optimistisch" gewesen, denn es wurde "nur die Möglichkeit gesehen, Autokratien unter Druck zu setzen". Genügend Beispiele hätten allerdings gezeigt, dass nicht nur demokratisch gesinnte Oppositionen das Netz nutzen können, sondern auch radikale Gruppen, um ihre Botschaften zu verbreiten und zu mobilisieren. Je nach Anlass würden die Sozialen Medien und das Internet also nur einseitig wahrgenommen.

Unter diesem Aspekt erscheint die "Initiative für Zivilcourage Online" von Facebook, die Sheryl Sandberg kürzlich in Berlin vorstellte, als falsches Mittel gegen Hasskommentare. Facebook setzt auf "Counterspeech" statt "Takedown". Nutzer sollten sich in Debatten einschalten und gegen den Hass anschreiben. Zum einen zieht sich Facebook mit dieser Initiative aber aus der Affäre – der Nutzer soll die Probleme lösen –, zum anderen zeigen Studien wie die von Kneuer und Richter, dass viele Nutzer ohnehin kaum an Debatten in sozialen Netzwerken teilnehmen. Wird Facebook nicht aktiv, bleiben Hasskommentare also vermutlich in großer Zahl unkommentiert in dem sozialen Netzwerk stehen, werden geliked und geteilt. Dadurch würde der Hass nicht eingedämmt, sondern kontinuierlich verbreitet. (kbe)