Keine Pille für alle Fälle

Der Wirkstoff Methylphenidat, der Kindern mit ADHS verabreicht wird, ist umstritten. Eine Metastudie bezweifelt jetzt gar die Wirksamkeit von Ritalin.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Inge Wünnenberg

Der Wirkstoff Methylphenidat, der Kindern mit ADHS verabreicht wird, ist umstritten. Eine Metastudie bezweifelt jetzt gar die Wirksamkeit von Ritalin.

ADHS polarisiert wie kaum eine andere Krankheit. Vielleicht, weil es sich hier um die am häufigsten bei Kindern diagnostizierte psychiatrische Störung handelt. Experten schätzen die Zahl der ADHS-Fälle in der Altersgruppe von 6-18 Jahren auf ungefähr 5 Prozent, was etwa 500.000 Betroffenen allein in Deutschland entspräche. Dabei handelt es sich meistens um Jungen, die in der Schule nicht still sitzen können, Konzentrationsschwierigkeiten haben, impulsiv bis aggressiv sind und deren Sozialverhalten auffällig ist. Allerdings lässt sich das Krankheitsbild nicht organisch nachweisen, sondern nur über den Umweg von Beobachtungen und Einschätzungen diagnostizieren.

Die erst Ende der Sechzigerjahre von dem amerikanischen Psychiater Leon Eisenberg klassifizierte Erkrankung wird meist – neben anderen Maßnahmen wie Verhaltenstherapie – mit dem umstrittenen Wirkstoff Methylphenidat (MPH) behandelt. Diese Substanz, oft unter dem Markennamen Ritalin verordnet, unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz. Denn nicht nur in den USA wird der Stoff als leistungssteigernde Droge missbraucht.

Wie gefährlich der langfristige Einsatz für Kinder aber in der Tat sein könnte, ist überhaupt noch nicht erforscht. Eltern werden auf einschlägigen Ratgeberseiten zum Teil in einem verharmlosenden Tonfall auf die möglichen Folgen hingewiesen: "Typische Nebenwirkungen können Unwohlsein, Kopf- oder Bauchschmerzen sein. Manche Kinder haben auch weniger Appetit als früher und manchen fällt das Einschlafen schwerer", heißt es da etwa auf dem Infoportal des zentralen adhs-netzes.

Auf der anderen Seite stehen viele erfahrene Psychologen, Ärzte und Forscher, die sich seit Langem mit dem Phänomen beschäftigen, ADHS nicht unkritisch gegenüber. Wasser auf die Mühlen der Skeptiker ist nun eine Metastudie der Cochrane Collaboration: Für diese bislang umfangreichste Metaanalyse zum Einsatz von Methylphenidat bei ADHS wertete Ole Jakob Storebø, klinischer Psychologe der Psychiatric Research Unit in der dänischen Region Seeland, mit seinen Kollegen insgesamt 185 randomisierte Studien mit mehr als 12.000 Kindern und Jugendlichen aus.

Und das Ergebnis ist desillusionierend: Immerhin scheint Ritalin in der Schule die ADHS-Symptome zu mildern – wenn auch letztlich nicht in überzeugendem Maße. So ergab dem untersuchenden Team zufolge die Mehrheit der Studien, dass sich das Verhalten und die Lebensqualität der Kinder dank der Einnahme von Methylphenidat verbesserten. Im Durchschnitt handelte es sich jedoch nur um eine Besserung um 9,6 Punkte auf der 72-stufigen ADHS-Skala, wobei erst ab 6,6 Punkten überhaupt von einer Wirkung ausgegangen wird.

Zieht man zusätzlich in Betracht, dass die Aussagen für Verbesserungen und Nebenwirkungen der Metastudie zufolge meist verlässlich nur für einen Zeitraum von rund sechs Monaten getroffen wurden, erhöht das wesentlich die Vorbehalte gegenüber der Forschungslage. "Wir können daher nicht ausschließen, dass die negativen Folgen schlimmer sind, als hier berichtet", zitiert das Onlinemagazin scinexx Storebø und seine Kollegen. Denn nur neun von 185 Studien hätten überhaupt angegeben, ob es zu schweren Nebenwirkungen gekommen war.

Laut den Wissenschaftlern um Storebø deutet eine bereits gestartete zweite systematische Metaanalyse darauf hin, dass durchaus schwere Nebenwirkungen bei der Verabreichung von Ritalin auftreten können. Das deckt sich nicht zuletzt mit den Einschätzungen der US-Drogenbehörde DEA. Auch die Skandinavier machen darauf aufmerksam, dass ein Risiko für plötzliche Todesfälle bei Jugendlichen existiert.

Wie der Glaubenskrieg zwischen den Befürwortern und den Gegnern eines Einsatzes von Ritalin bei Kindern ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Fraglich scheint auch, ob sich das Phänomen ADHS auf Dauer als Krankheit etablieren kann, wie es andere psychische Erkrankungen, etwa die Depression, konnten. Selbst der Erfinder von ADHS, Leon Eisenberg, haderte am Ende mit der rasanten Entwicklung, die das Phänomen nahm. "ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung", sagte Eisenberg kurz vor seinem Tod 2009 dem Spiegel. "Die genetische Veranlagung für ADHS wird vollkommen überschätzt." Bekanntlich ist es nicht leicht, die Geister die man rief, wieder los zu werden. (inwu)