Schluss mit dem Schlüssellochblick

Noch bevor die ersten richtigen 3D-Brillen auf den Markt kommen, zeigen kreative Filmemacher, was sich damit alles anstellen lässt.

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Noch bevor die ersten richtigen 3D-Brillen auf den Markt kommen, zeigen kreative Filmemacher, was sich damit alles anstellen lässt.

Am Anfang war mir Google Cardboard ja ziemlich suspekt. Fliegengitter-Optik, unbequem, umständlich. Doch mittlerweile bin ich ein großer Fan der Pappe. Das ist vor allem der Verdienst von kreativen Filmemachern und App-Programmierern.

Zum Beispiel die App "Titans of Space": Mit einem Raumschiff kurve ich zu sphärischer Musik durchs All; lasse mich von Jupiters Wolkenspiel hypnotisieren; staune, wie pockennarbig Callisto aus der Nähe aus sieht; besichtige die berühmten Fontänen von Enceladus; entdecke einen mir bisher unbekannten Mini-Mond namens Pan zwischen den Saturn-Ringen. Und wenn dann noch ein Blauer Riese oder gar ein Roter Überriese das ganze Blickfeld ausfüllt, ist alles Mäkeln über die Bildqualität schnell vergessen.

Oder die 360-Grad-Videos der Arte-App. Ein Wetterballon nimmt mich mit auf seine Reise in 40 Kilometer Höhe, wo ich schon deutlich die Krümmung der Erde sehe. Schon am Boden, bei den Startvorbereitungen, macht das Rundum-Video Spaß: Geschickt wechselt mit jedem Schnitt die Position der Kamera – mal befindet sie sich auf Augenhöhe des Personals, mal hängt sie einige Meter darüber am Ballons. Als Zuschauer muss man sich jedes Mal neu orientieren. Das mag man als anstrengend empfinden, aber für mich macht dieses Spiel mit Oben und Unten gerade den Reiz des neuen Formats aus. Doof sind nur die Untertitel – sie fixieren den Blick auf eine bestimmte Ecke des Raums.

Auch cool fand ich ein Musikvideo von U2, bei dem ich als Zuschauer mitten zwischen den Musikern sitze, die mich direkt ansingen. Und bei einem Konzert von Jack White stehe ich virtuell mit auf der Bühne: Vor mir das Publikum, neben mir die Boxen, über mir die Scheinwerfer, um mich herum die Band.

Selbst bei ernsten Themen ist das 3D-Kugelpanorama mehr als eine Spielerei. Bei einer Doku über Flüchtlingskinder der New York Times kann ich mir beispielsweise einen viel unmittelbareren Einblick von ihren Lebensumständen machen – zum Beispiel von der zerbombten Schule in der Ukraine, wo ein Junge inmitten zerfledderter Schulbücher und zerborstener Bänke erzählt: "Früher fanden wir es toll, wenn die Schule ausgefallen ist."

Einen ähnlich tiefen Eindruck hinterlässt auch eine Reportage, die der US-Nachrichtensender Sky gemeinsam mit Jaunt in einem Flüchtlingslager auf Lesbos gedreht hat. Ich kann auf den Boden aus festgetrampelter Erde und Müll schauen, auf dem ein paar zerrupfte Zelte stehen. Über mir sehe ich flatternde Wäsche in den Olivenbäumen. Gegenüber wartet eine Menschenschlange vor einem Metallzaun. Kein Kameramensch gibt mir einen Bildausschnitt vor, ich kann meinen Blick frei schweifen lassen.

Wenn die Kugelpanorama-Videos schon mit einer Papp-Halterung und einem ältlichen Mittelklasse-Smartphone so beeindrucken, um wieviel cooler müssen sie erst sein, wenn endlich die ersten brauchbaren VR-Brillen auf den Markt kommen? Natürlich möchte ich so ein Ding nicht für eine gesamte Spielfilmlänge auf dem Kopf haben.

Aber das eigentliche Killer-Feature ist für mich auch weniger der 3D-Effekt als vielmehr die Möglichkeit, mich selbst umzusehen. Und das kann ich auch in 2D haben. Auf einem Smartphone erspare ich mir damit den Fliegengitter-Effekt, Druckstellen im Gesicht und jegliche Anflüge von Seekrankheit. So etwas ließe sich auch auf normalen Fernsehbildschirmen realisieren, etwa mit den Pfeiltasten der Fernbedienung zum Umherschwenken. Ich kann mir vorstellen, dass uns ein eingeschränkter Kamerablick irgendwann so anachronistisch vorkommt wie das lineare Fernsehprogramm. (grh)