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Fakten statt Reklame: Wenn Webshops wahrheitsgemäße Produktinformationen liefern, sparen sie Geld: Die Kunden schicken weniger bestellte Ware zurück.

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Von
  • Susanne Donner
  • Michael Sudahl

Fakten statt Reklame: Wenn Webshops wahrheitsgemäße Produktinformationen liefern, sparen sie Geld: Die Kunden schicken weniger bestellte Ware zurück.

Retouren sind lästig. Dem Online-Käufer ebenso wie dem Hersteller oder Shop- Betreiber. Gründe für Rücksendungen gibt es viele: Der Schuh passt nicht zum Fuß, oder der Bohrhammer bohrt doch nicht so einfach wie im Web angepriesen – und der Kunde muss sich in die Schlange bei der Post stellen. Retouren sind teuer: Händler müssen nicht nur die Rücksendung bezahlen, sondern die Ware wieder auspacken, einsortieren und das Geld zurückerstatten.

Vor allem Kleidung und Schuhe senden Online-Käufer gern zurück. Im Schnitt hat mehr als ein Fünftel der Online-Händler eine Retourenquote von mehr als 25 Prozent, manche kämpfen sogar mit 60 Prozent. Ein weiteres Fünftel muss zehn Prozent zurücknehmen. Neben der Marktdominanz großer Online-Händler ist die hohe Retourenquote einer der Hauptgründe für die finanzielle Schieflage vieler Internetanbieter.

Etwa 85 Prozent aller Onlineshops arbeiten unrentabel. Vor allem kleine Verkaufsplattformen leiden unter hohem Kostendruck. Nikolaus Mohr spricht davon, dass bis in rund "fünf Jahren 90 Prozent aller reinen Online-Shops schließen werden". Der McKinsey-Partner hat für dieses Urteil Studien ausgewertet, die am Institut für Handelsforschung in Köln entstanden sind.

Was hilft? So paradox es klingt: mehr Ehrlichkeit, weniger Werbung. Aus Rücksendungsanalysen weiß Falko Keller, dass Lieferprodukt und Kundenvorstellung oft auseinanderklaffen. "Die Leute bestellen und sind dann enttäuscht, wenn sie die Ware auspacken", erklärt der Webshop-Designer bei der Erdt-Gruppe, die etliche Online-Shops betreibt.

Häufigster Grund: Größe oder Farbe entsprechen nicht dem Bild im Netz. "Hochwertige Produktfotos sind das A und O", so Kellers Einschätzung. Zudem lohnt es sich, in exakte Beschreibungen zu investieren. "Je authentischer und ehrlicher Produkttexte sind, desto größer ist die Chance, dass der Käufer die Ware behält", sagt Axel Zawierucha, Chef der Berliner Agentur Internet Warriors. Hilfreich sind zudem kurze Erklärvideos, vor allem wenn es sich um technische Geräte wie einen Schlagbohrhammer handelt.

Philipp Deslandes, Gründer und Geschäftsführer des Fitnessmode-Labels Gym Aesthetics (GA), hat zudem gute Erfahrungen damit gemacht, Kunden einen direkten Kontakt anzubieten. Die Stuttgarter verkaufen Sportbekleidung ausschließlich über den eigenen Webshop. Das junge Unternehmen bietet werktags von 10 bis 14 Uhr einen Telefondienst zum Ortstarif an. "Bis zu 500 Leute nutzen das pro Woche", sagt Deslandes. Abgefragt werden dann passende Kleidungsgröße oder der Tragekomfort von Shirts, Leggins und kurzen Hosen. "Der Service zahlt sich aus", ist sich Deslandes sicher. Die Modemarke verzeichnet gerade einmal 20 Prozent Rückläufer.

Nicht jeder Kunde hat jedoch Zeit, während der Arbeitsstunden eine Hotline anzurufen. Und die meisten Unternehmen würden die Retourenquote gern noch weiter senken. Schließlich ist der Kostendruck in der Branche enorm. Daher testen viele Modeanbieter zurzeit noch einen anderen Trick: die virtuelle Anprobe. Sie erlaubt dem potenziellen Käufer, die Jeans oder das Kleid in einer Simulation am PC oder Smartphone schon mal anzuziehen und sich im neuen Outfit zu bestaunen.

Dazu gibt der Konsument in aller Regel seine Körpermaße ein, mitunter wird auch ein Foto seiner Figur oder ein Bodyscan der Anprobe zugrunde gelegt. Sitzt die Kleidung nicht wie erhofft, bestellt der Kunde sie erst gar nicht. Namhafte Unternehmen wie Hugo Boss, Adidas, H&M, Otto und Zalando experimentieren mit dieser Technik. Besonders der britische Software-Spezialist Metail konnte seit seiner Gründung 2008 etliche Versandhändler für sich gewinnen. Im virtuellen Schauraum des Technologielieferanten tauchen Stücke aus der Kollektion von H&M, Asos und Little Mistress auf.

Auch Zalando testete 2013 die Anprobe-Software. Bei den Kleidungsstücken des Berliner Onlineanbieters, die sich der Kunde vorab im Cyberspace überstreifen konnte, soll die Rücksendequote um 9,5 Prozent zurückgegangen sein, behauptet Metail.

Doch offenbar sind die Mode-Unternehmen mit dem Ergebnis der Software noch nicht zufrieden. Keines hat die virtuelle Anprobe standardmäßig in seinen Webshop integriert. "Uns war die Technologie noch nicht ausgereift genug", begründet Steffen Heinzelmann, Pressesprecher von Zalando, die Abkehr seines Unternehmens von der Cyber-Ankleide. "Mir wäre der Mehrwert einer solchen avatarbasierten Software nicht groß genug", kritisiert auch Anna Hilsmann, die sich am Berliner Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik mit der Programmierung eines virtuellen Spiegels befasst hat. "Den Fall des Stoffes und die tatsächliche Passform kann man nicht gut genug erkennen."

Die estländische Firma Fits.me versucht sich deshalb an einer anderen Technologie. Das Start-up hat robotergesteuerte Schaufensterpuppen entwickelt, die ihre Gestalt auf Knopfdruck verändern und 100000 verschiedene Körperformen annehmen können. Den transformierbaren Plastikkörpern zieht Fits.me die Kleidungsstücke an und fotografiert sie in verschiedenen Positionen ab. Der Kunde muss der Software lediglich seine Körpermaße mitteilen, dann wählt sie die passende Roboterstatur aus. Zur Präsentation der Ware wird schließlich noch die digitale Anmutung eines Models über die Roboterbüste gelegt.

Bei dieser Anprobe sind neben der Passform auch Faltenwurf und Textur des Stoffes klar zu erkennen. Und der Kunde kann angeben, ob er eine figurbetonte oder eher legere Passform bevorzugt. Mit der Software lasse sich die Rücksendequote um bis zu 77 Prozent senken, wirbt Fits.me. Doch das Angebot hat seinen Preis: 7000 Euro monatliche Gebühr plus 350 Euro für die Bereitstellung der Fotos je Konfektionsgröße verlangt Fits.me von jedem Online-Anbieter, der das System nutzen will.

Hugo Boss, Adidas und der Versandhändler Otto haben die virtuelle Umkleide dennoch ausprobiert. Das Ergebnis komme einer echten Anprobe "visuell recht nahe", so das Resümee von Otto. Trotzdem hat der Versand Fits.me nicht in seinen Webshop übernommen: "Wir konnten keinen nachhaltig positiven Effekt auf die Retourenquote erzielen", berichtet die Pressesprecherin Isabelle Ewald. Auch hätten Kosten und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis gestanden. Was ist so schwer am virtuellen Ankleiden? Bei starren Artikeln wie Schuhen gehe eine Anprobe per Software recht leicht, erklärt die Fraunhofer-Forscherin Anna Hilsmann. Für den Konzept-Store von adidas in Paris hat sie einen Schuhsimulator programmiert.

Die Füße der Kunden wurden mit einer 3D-Kamera vermessen und das Schuhmodell anschließend darübergelegt. Der Fuß war durch den Schuh hindurch zu sehen, per Klick konnte jeder sein eigenes Modell designen. Ob der Schuh weich oder hart ist, kann der Kunde so zwar nicht erkennen. Doch adidas möchte die Software bis 2017 in weiteren Filialen anbieten.

Jacken, Röcke oder Hosen sind schwerer lebensecht darzustellen. "Der Faltenwurf und die Textur von Bekleidung ist etwas sehr Komplexes", erläutert Hilsmann. "Die Fäden werfen Schatten, und je nach Beleuchtung sieht der Stoff anders aus." Deshalb braucht man möglichst genaue Informationen. Dazu gebe es im Wesentlichen zwei Ansätze: die Kleider zu simulieren oder Fotos der angezogenen Textilien zu nutzen.

Fotos haben zwar den Vorteil, dass sie bereits Informationen über den Fall, den Faltenwurf und die Textur des Stoffes in Form der Bildpunkte enthalten. Sie werden dann über das Abbild des jeweiligen Kunden gelegt – etwa einen Avatar, der anhand der Körpermaße mit einer Software erzeugt wird. Das digitale Kleidungsstück wird dabei aber nur verlängert oder verkleinert, bis es richtig auf den Avatar zugeschnitten ist. Details wie den Faltenwurf passt man dagegen nicht an. Das Ergebnis entspreche einer echten Anprobe deshalb bisher noch zu wenig, so Hilsmann.

Das Simulieren ist viel genauer, aber aufwendiger. Die Firma Human Solutions aus Kaiserslautern beispielsweise hat auf der Frankfurter Messe Texprocess 2015 eine entsprechende Software vorgestellt. Sie beansprucht für sich, die virtuelle Anprobe auf eine neue Stufe zu heben. Das Unternehmen hat dazu 13000 Deutsche per 3D-Bodyscanner vermessen. Aus diesem Pool soll sich für jeden Kunden ein passendes Alter ego finden lassen, dem dann ein virtuelles Kleidungsstück übergezogen werden kann – mit exakt simuliertem Faltenwurf und Fall des Stoffes.

Die hohe Genauigkeit erfordert allerdings viel Rechenzeit und ist bisher fürs Anprobieren per Mausklick am heimischen Computer wenig geeignet. Erst wenn die Rechnerkapazitäten weiter wachsen, könnten die Kunden zu Hause eine schnelle und realitätsgetreue virtuelle Anprobe erwarten, sagt Marketingmanagerin Alexandra Seidl von Human Solutions. Die Modeindustrie scheint sich trotzdem schon für das Angebot zu interessieren: Firmen wie Adidas, Benetton, Hugo Boss, Diesel und Max Mara zählen bereits zu den Kunden. (bsc)