Das Mikrobiom-Mysterium

Der menschliche Körper ist von einer Unzahl von Mikroorganismen besiedelt. Ihre genaue Bedeutung ist noch nicht geklärt, trotzdem entstehen schon die ersten Medikamente auf dieser Basis.

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Von
  • Mike Orcutt

Der menschliche Körper ist von einer Unzahl von Mikroorganismen besiedelt. Ihre genaue Bedeutung ist noch nicht geklärt, trotzdem entstehen schon die ersten Medikamente auf dieser Basis.

Welche Rolle spielt das so genannte Mikrobiom für die Gesundheit? Die Antwort ist immer noch ein Mysterium, doch neue wissenschaftliche Belege sprechen dafür, dass es bei der Behandlung vieler chronischer Erkrankungen helfen könnte. Bereits in der Entwicklung ist eine neue Klasse von Mikrobiom-Medikamenten zur Bekämpfung hartnäckiger Probleme in den Bereichen Magen-Darm, Stoffwechsel, Immunsystem und sogar Neurologie.

Das Mikrobiom ist ein komplexes Ökosystem aus Mikroben, die in und zwischen den Zellen des Körpers leben. Je nachdem, wo sie angesiedelt sind, besteht es aus unterschiedlichen Gemeinschaften – das Mikrobiom im Mund ist also anders zusammengesetzt als im Magen. Änderungen bei der Zusammensetzung – wenn zum Beispiel pathogene Mikroorganismen eindringen und die guten verdrängen – werden mit vielen Krankheiten in Zusammenhang gebracht.

Die meisten der schon in Entwicklung befindlichen Medikamente zielen auf das Mikrobiom im Magen ab. Der Grund dafür ist "eine Mischung aus dessen Bedeutung für wichtige Krankheiten und der Einfachheit, mit der sich hier Proben nehmen lassen", sagt Peter DiLaura, CEO von Second Genome in San Francisco. Gewebebiopsien aus Darmspiegelungen und Stuhlproben sind eine reichhaltige Informationsquelle über die Unterschiede bei den Mikrobiomen von gesunden und kranken Menschen.

Einige Unternehmen, angeführt von Seres Therapeutics, entwickeln und testen Medikamente, die aus Mikroben bestehen. Die Idee dahinter: Dem Körper sorgfältig ausgewählte Bakterienarten und -stämme zuzuführen, könnte die Gesundheit des Ökosystems im Mikrobiom wiederherstellen, ähnlich wie auch Fäkaltransplantationen wirken sollen.

Laut DiLaura ist allerdings noch nicht geklärt, ob die bei Krankheiten zu beobachtenden Veränderungen am Mikrobiom diese Krankheiten auslösen oder nur die Folge davon sind. Aus diesem Grund interessiere sich Second Genome nicht nur für die Zusammensetzung der Mikrobiome von gesunden und kranken Menschen, sondern auch für ihre Funktion. Das erste Medikament des Unternehmens soll gegen manchmal lebensbedrohliche entzündliche Darmerkrankungen helfen, bei denen die Darmschleimhaut oder andere Teile des Verdauungstrakt entzündet sind.

Um die Funktion des Mikrobioms besser zu verstehen, untersuchen die Wissenschaftler bei Second Genome den "Dialog" zwischen den Mikroben und ihrem menschlichen Wirt. Bei manchen chronischen Krankheiten wie etwa den Darmentzündungen "gibt es irgendeine Art von Übersprechen zwischen Mikrobiom und Wirt, das sich immer wieder zeigt", erklärt DiLaura. Second Genome wolle dieses Übersprechen "entziffern".

Konkret gehe es dabei darum, "was die Bakterien absondern", also die Proteine, Peptide und Stoffwechselprodukte der Bakterien. Dazu werden die Genom-Informationen aus der Bakteriengemeinschaft in Gewebebiopsien von kranken und gesunden Menschen sequenziert, so dass die Forscher die einzelnen Komponenten des Dialogs zwischen Mikrobiom und Wirt bestimmen können. Laut DiLaura hilft dies dabei, Hypothesen darüber zu bilden, was bei einer Erkrankung passiert. Mit Techniken wie Maschinenlernen werden Terabytes an Sequenzierungsdaten analysiert und Moleküle identifiziert, die eine therapeutische Wirkung haben könnten. Anschließend werden diese Kandidaten im Labor evaluiert.

Das erste Medikament von Second Genome verhindert, dass sich ein bestimmtes Molekül an einen Rezeptor auf der Oberfläche von Zellen an der Darmwand bindet. Die Hypothese dahinter ist, dass sich so die Entzündung blockieren lässt, die ansonsten zur entzündlichen Darmerkrankung führt.

Eine der größten Herausforderungen beim Begreifen der funktionalen Unterschiede des Mikrobioms von entzündetem und gesundem Gewebe liegt darin, das "Zusammenspiel" der beteiligten Bakterien zu entschlüsseln, sagt Marcus Claesson, Mikrobiologe am APC Microbiom Institute in Irland, der zurzeit eine Forschungskooperation mit Second Genome betreibt. Wie interagieren die unterschiedlichen Stämme und wie sehen dabei die Unterschiede zwischen gesunden Menschen und solchen mit Darmentzündungen aus? Laut Claesson ist es weitaus einfacher, mittels Genom-Sequenzierung herauszufinden, welche Stämme in einer Gemeinschaft vorhanden sind, als die kollektive Funktion dieser Gemeinschaft aufzuklären.

Second Genome beschäftigt sich außerdem mit Mikrobiom-basierten Therapien für Diabetes, was laut DiLaura einen ähnlichen Entdeckungsprozess erfordert wie bei den entzündlichen Darmerkrankungen: Welche Besonderheiten weisen Zusammensetzung und Funktion des Mikrobioms von Diabetikern auf? Zukünftige Mikrobiom-Medikamente könnten auch gegen Atemwegserkrankungen und sogar Erkrankungen des zentralen Nervensystems helfen, sagt DiLaura.

Bei diesen Erkrankungen spielen viele Faktoren eine Rolle. Doch das Mikrobiom "ist eindeutig relevant dafür, und wir müssen besser verstehen, mit welchen Mechanismen Mikrobiom und Wirt zusammenarbeiten", so der CEO.

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