Post aus Japan: Reality, reloaded

Der überraschende Auftritt von Mark Zuckerberg bei Samsung auf dem Mobile World Congress war fast so surreal wie seine Botschaft: Das Zeitalter der 360-Grad-Realität soll über uns hereinbrechen.

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Von
  • Martin Kölling

Der überraschende Auftritt von Mark Zuckerberg bei Samsung auf dem Mobile World Congress war fast so surreal wie seine Botschaft: Das Zeitalter der 360-Grad-Realität soll über uns hereinbrechen.

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus – und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends.

Es gibt Momente, in der auf einmal alle Puzzleteile wie von selbst zusammenkommen und ein Bild ergeben. Diese Woche zwischen dem Mobile World Congress für Handys in Barcelona und der japanischen Fotomesse CP+ gab es für mich so einen Lichtblick.

Während der Vorbereitung auf die Fotomesse quälte mich die Frage, wie es mit der Foto-Video-Zukunft weitergeht. Der Absatz der Kamerahersteller sinkt. Nach einem Rückzug von Samsung-Kameras aus Deutschland und Großbritannien machen sogar Gerüchte die Runde, dass Südkoreas Elektronikgigant seinen Vorstoß in die Welt der Fotografie unterbricht oder wenigstens massiv abbremst. Doch dann kam der Mobile World Congress, genauer der überraschende Auftritt von Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei Samsung. Und alles ergab einen Sinn.

Für alle, die es noch nicht irgendwo gelesen oder gesehen haben: Zuckerbergs Auftritt war kultverdächtig. Unerkannt schritt der amerikanische Firmenboss mitten durch hunderte von Journalisten auf die Bühne. Denn die Anwesenden trugen Virtual-Reality-Brillen von Samsung (Gear VR) und dachten, dass es Samsung genau darum ging: virtuelle Realität (VR), meist für Computerspiele und Unterhaltung.

Doch Zuckerberg – und Samsung – öffneten die Tür in eine Welt jenseits virtueller Bespaßung. Erst Text, dann Foto, jetzt Video – die Erfahrungen, die wir teilten, würden reicher, sagte er. "Aber sehr bald werden wir in einer Welt leben, in der alle die Möglichkeit haben, ganze Szenen zu teilen und zu erleben, als ob sie selbst da wären."

VR sei die nächste Plattform, verhieß der Facebook-Chef. Oder wie ich es lieber nenne: 360°Reality. Die ersten Schritte des Kinds – und plopp, ich kann nicht nur das Lachen und Fallen des Kindes sehen, sondern mit einem Schwenk auch die Freude der Eltern. Und plötzlich scheint mit Samsungs Vollbremsung im Kamerageschäft eine Strategie zu entspringen.

Wie Zuckerberg setzt der Konzern darauf, VR-Brillen wirklich zum Mittelpunkt der sozialen Netzwerke zu machen. Daher haben sie sich verbündet: Facebook kaufte die VR-Company Oculus Rift und lässt nun Samsung, den Weltmarktführer bei kleinen OLED-Displays, die Hardware herstellen. Daher hat Samsung in Spanien eine 360-Grad-Kamera ganz groß herausgebracht, deren Rund-um-Videos uns noch mehr ins Geschehen hineinziehen sollen.

Natürlich ist dies bisher nur eine Wette in der industrieweiten Suche nach dem nächsten großen Ding, das auf das Smartphone folgen soll. Schon verschiedene interessante Ideen haben erfolglos versucht, sich als nächste Killerplatform zu etablieren: 3D-Fotos und Videos, Head-mounted-Displays (HMD) wie die Google-Brille.

Doch ungeachtet der Erfolgsaussichten hat mich beeindruckt, wie radikal Samsung offenbar umsteuert. Ich wenigstens sehe mehr Potenzial darin, auf eine neue Plattform zu bauen, anstatt sich in einem schrumpfenden Kameramarkt einen teuren und schier aussichtslosen Kampf mit Japans dominierenden Kameraherstellern zu liefern.

Der Bund mit Facebook und damit Oculus Rift sowie einem riesigen sozialen Netzwerk verschafft Samsung im Kampf um die vermeintliche VR-Zukunft zudem einen Vorteil gegenüber Sony. Die Japaner haben bereits VR-Brillen für ihre Videospiele auf dem Markt. Aber verglichen mit Facebook ist Sonys Playstation-Network ein Zwerg.

Und auch im Kampf mit Apple ums Hardwaregeschäft mag Samsung auf Facebook bauen. Die Kalifornier sind stark im Vertrieb kommerzieller Filme und Musik, aber nicht als Tauschplattform für Plattitüden, sorry, User-Generated Content. Sollte das neue Geschäft abheben, wäre vielleicht Samsung auf einmal auf der Überholspur.

Darüber hinaus ist die 360-Grad-Wirklichkeit vielleicht wirklich der nächste große Schritt. Wenn auch möglicherweise anders, als es sich die Propheten vorstellen. Ich bin noch nicht überzeugt, dass wir mit Taucherbrillen wie Samsungs oder Sonys VR-Betrachtern in die neue Realitäten abtauchen werden.

Sicher, diese Sichtgeräte mögen Sinn für Spiele ergeben. Aber wie Zuckerbergs Auftritt in Barcelona gezeigt hat, blenden sie die analoge Realität bisher aus. Zudem sind sie klobig und ein extrem individuelles Vergnügen.

Eine Lösung dieser Probleme mögen normalere Video-Brillen liefern. Seiko Epson stellte beispielsweise in Barcelona eine dritte Generation seiner Moverio vor. Sie soll nicht nur leichter sein, sondern auch schneller rechnen.

Neben der Abschottung soll dies nicht nur ermöglichen, Objekte virtuell in Echtzeit in reale Bilder einbauen zu können und damit Wirklichkeit aufzuwerten (Augmented Reality). Darüber hinaus schottet eine solche Brille auch die Welten nicht so von einander ab.

Welches Konzept sich durchsetzen wird, hängt vielleicht vom Grad der Individualisierung der neuen Generationen ab. Wer an Einzelgenuss gewöhnt ist und bessere virtuelle Erfahrungen wünscht, wird vielleicht die abgeschlossenen VR-Brillen bevorzugen. Für Normalanwender werden es eher offenere Systeme wie Seiko Epsons HMD-Gerät sein.

Doch ich denke noch immer, dass keines von beiden solch ein Killerprodukt wie das Smartphone werden wird. Bis die Filme direkt in unser Hirn übertragen werden, glaube ich sogar, dass das Smartphone auch bei 360-Grad-Inhalten das wichtigste Mittel der Wiedergabe bleiben wird. Der Grund: Im Zweifel schlägt Simplizität komplexere Inhalte.

Technisch sollte es möglich sein, durch die Bewegung des Handys nach links oder rechts, oben oder unten sich ebenso wie mit einer VR-Brille durch ein Rund-um-Video oder -Foto zu bewegen. Doch vor allem muss man sich ein Smartphone nicht erst aufsetzen. Zudem lassen sich die Inhalte auch sofort mit anderen anwesenden Personen teilen. Aber vielleicht sind meine Zweifel an den VR-Brillen und HMDs zu altmodisch. Ich lasse mich überraschen. ()