Studie belegt Selbstzensur von Internetnutzern nach Snowden-Enthüllungen

Die als "Chilling-Effekt" bekannte Abschreckungswirkung der Massenüberwachungen durch Geheimdienste wurde nun anhand konkreter Zahlen nachgewiesen.

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NSA Abhöraffäre

(Bild: dpa, Andreas Gebert)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Ute Roos

In einem Artikel für das Berkeley Technology Law Journal hat Jon Penney von der Oxford University die Ergebnisse einer interdisziplinären Studie zum sogenannten Chilling-Effekt veröffentlicht. Dieser beschreibt das veränderte Verhalten von Personen, denen bewusst ist, dass sie überwacht werden, und die darauf in vorauseilendem Gehorsam mit Selbstbeschränkungen reagieren - selbst bei legalen Aktivitäten.

Die Studie untersucht, wie sich der Zugriff auf potenziell "verdächtige" Wikipedia-Artikel nach den durch Edward Snowden enthüllten Massenüberwachungen entwickelte. Die beteiligten Forscher registrierten nicht nur einen unmittelbaren Einbruch der Zugriffe auf sicherheits- oder terrorrelevante Themen im Juni 2013, sondern fanden auch Hinweise auf eine längerfristig abschreckende Wirkung.

Zum ersten Mal konnte laut den Forschern somit auf Grundlage von Wikipedia- und allgemeinen Web-Traffic-Daten gezeigt werden, welchen Einfluss staatliche Überwachung auf Online-Aktivitäten inklusive des Zugangs zu Wissen und Informationen über das Internet hat.

Da 50 Prozent der Internetnutzer Wikipedia als Informationsquelle nutzen und die englischsprachige Seite über 500 Millionen Zugriffe monatlich verzeichnet, betrachten die Forscher die Zugriffszahlen als ausreichend aussagekräftig für eine solche Studie.

Untersucht wurden die Zugriffe auf Artikel zu Schlüsselbegriffen, die das U.S. Department of Homeland Security, die oberste Behörde für Innere Sicherheit der USA, selbst für seine Social-Media-Analysen verwendet. Sie sind nach Bereichen wie Gesundheitsbelange, Sicherheitsinfrastruktur oder Terrorismus zusammengefasst.

Die Forscher untersuchten die Zugriffe auf 48 Wikipedia-Artikel zum Themenfeld Terrorismus – darunter Begriffe wie "schmutzige Bombe", "Urananreicherung" oder "Ökoterrorismus" – in einem Zeitraum von 32 Monaten, von Januar 2012 bis Ende August 2014.

Obwohl die Artikelzahl relativ klein ist, lag die Gesamtzugriffszahl bei über 81 Millionen Abrufen im untersuchten Zeitraum. Waren die Zugriffe vor den Enthüllungen von Snowden kontinuierlich gestiegen, so brachen sie im Juni 2013 von über 3 Millionen auf 2,2 Millionen pro Monat ein. Nach weiterem Absinken pendelte sich die Zahl auf stabil 2,5 Millionen ein – also immer noch deutlich unter den Zahlen der Prä-Snowden-Ära.

Für eine Vertiefung der Untersuchungen bedienten sich die Forscher des Crowdsourcing. Über die Plattform MTurk halfen 415 unabhängige Internetnutzer, die Schlüsselbegriffe zu den Artikeln nach dem Grad der Aufmerksamkeit der Behörden zu gewichten, den sie nach einem Zugriff befürchten müssten ("privacy-related concerns for Internet users").

Die Einschätzung der Helfer korrespondierte mit der Analyse der einzelnen Artikelabrufe: Bei denjenigen, die sie am bedrohlichsten einschätzten, zeigte sich die Selbstzensur in den Zugriffen noch einmal verstärkt. Die Forscher betrachten ihre Arbeit als Grundstein für das Verständnis von Chilling-Effekten und ermuntern zu weitergehenden Analysen.

Die empirische Studie belegt damit die These von Datenschützern und Chilling-Effekt-Forschern, wonach Überwachung das individuelle und kollektive Verhalten von Menschen deutlich verändert, indem sie Furcht, Selbstzensur und Konformität fördert. (ur)