Wenn die Rechner regieren

In "The Age of Em" skizziert der Physiker und Ökonom Robin Hanson eine Welt, in der Menschen nur noch am Rande eine Rolle spielen. Für ihn ist das nicht etwa Science-Fiction, sondern ein Szenario mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 32 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Sascha Mattke
Inhaltsverzeichnis

Irgendwann in den nächsten 100 Jahren wird die Welt ganz anders aussehen, als wir sie gewohnt sind: An bislang eher unbedeutenden Orten stehen riesige Städte, die kilometerweit in den Himmel und ebenso tief in die Erde ragen. Für Menschen sind sie kaum geeignet, unter anderem wegen der fehlenden Wege und des konstant herrschenden Überdrucks. Stattdessen sind diese Städte kaum mehr als riesige Rechenzentren, dort errichtet, wo Strom und Kühlung billig zu haben sind. In ihnen arbeiten Abermilliarden von Kopien ehemals menschlicher Gehirne, und zwar weitaus schneller und produktiver als ihre natürlichen Vorbilder, die in Wirtschaft und Gesellschaft nur noch eine marginale Rolle spielen.

Dies in etwa ist das Szenario, das der Physiker und Ökonomie-Professor Robin Hanson in seinem Anfang Juni erschienenen Buch "The Age of Em" skizziert. Wann es so weit sein wird, darauf will er sich nicht festlegen. Doch Hanson besteht darauf, dass dieses Szenario in den nächsten 100 Jahren viel wahrscheinlicher ist als beispielsweise die Entwicklung von rein Künstlichen Intelligenzen.

Das ist die Grundvoraussage, auf die man sich einlassen muss, wenn man sich für den Rest von Hansons Buch interessieren möchte. Wer sie für hinreichend plausibel hält, findet auf im englischen Original fast 400 Seiten eine bemerkenswert detaillierte Beschäftigung mit der neuen Wirtschaft und Kultur im Zeitalter der emulierten Gehirne (EMs): Sie werden loyale Clans bilden, ihre Geschwindigkeit variieren, gelegentlich Kurzzeit-Kopien anfertigen, die nach erledigter Arbeit wieder verschwinden, und nur selten einen Körper haben – dafür aber eine gute Chance auf ein ewiges Leben in einem langsameren Modus.

Das alles klingt nach Science-Fiction, und tatsächlich hat sich Hanson nach eigenem Bekunden viel mit diesem Genre beschäftigt. Allerdings ist er enttäuscht davon: "Je mehr ich gelernt habe, desto weniger konnte ich übersehen, wie wenig davon sinnvoll ist. Selbst Geschichten, in denen die Physik einigermaßen stimmt, sind in Bezug auf die Ökonomie lächerlich falsch."

Um es besser zu machen, unternimmt Hanson in seinem Buch den Versuch, aufbauend auf der Grundthese der Machbarkeit von EMs die Folgen dieser Entwicklung in einer fernen Zukunft vorauszusagen. Dazu nutzt er die Mittel der heute anerkannten Wissenschaft auf den Gebieten Physik, Elektrotechnik, Ökonomie, Management, Soziologie und Psychologie. Das Ergebnis ist keine direkte Vorhersage, wie alles kommen wird, sondern ein laut dem Autor "schlüssiges und einfaches Basisszenario", das im Detail viele Variationen zulässt.

Weil viele Menschen derart weit in die Zukunft blickende Prognosen für sinnlos halten, muss Hanson sich erst einmal dafür rechtfertigen: Erstens weist er darauf hin, dass es neben all den Fehlschlägen durchaus auch schon treffende Zukunftsprognosen gegeben habe, zum Beispiel in dem Buch "The Year 2000" von Herman Kahn und Anthony Wiener aus dem Jahr 1967. Und zweitens werde schließlich sehr viel Geld und Aufwand in die Geschichtsforschung gesteckt, um die Zukunft besser gestalten zu können – warum sollte man sich dann nicht gleich auch wissenschaftlich mit der Zukunft beschäftigen?

In dieser Zukunft wird es laut Hanson möglich geworden sein, menschliche Gehirne so genau zu scannen, dass jede einzelne Nervenzelle und ihre Verbindungen sichtbar werden; es wird exakte Modelle geben, wie diese Zellen auf Reize regieren, und hinreichend schnelle Hardware, um dieses Geschehen digital zu emulieren. Mehr brauche es nicht, um ein menschliches Gehirn in den Computer zu bringen (was als "Upload" schon Motiv vieler Science-Fiction-Geschichten war).

Sind solche EMs erst einmal möglich, wird es nicht lange dauern, bis jemand davon Gebrauch macht – ob zunächst eitle Milliardäre oder vom Staat finanzierte Gruppen. Und sobald ein Gehirn computerisiert ist, kann man es auch kopieren. Dies ist nach Hanson der entscheidende Unterschied, der dazu führen wird, dass die Welt so anders aussehen wird: Die besten Hirne in verschiedenen Bereichen werden millionenfach vervielfältigt werden, so dass sie trotz ihrer anfänglichen Seltenheit kaum mehr verdienen als die Kosten für Hardware und Betrieb. Dies mache Wirtschaftswachstum in einem unglaublichen Tempo möglich, bei dem der Beitrag der echten Menschen immer unbedeutender wird.

Angesichts solch aufwühlender Aussagen ist etwas enttäuschend, dass Hanson der Rolle des Menschen in dieser Zukunft nicht einmal ein Zehntel seines Buches gewidmet hat. Auch der Untertitel ("Arbeit, Leben und Liebe, wenn Roboter die Erde regieren") hätte eine intensivere Beschäftigung mit diesem Aspekt erwarten lassen. Andererseits passt diese Gewichtung auf gewisse Weise gut zu Hansons Prognose, dass wir Menschen ohnehin keine große Rolle mehr spielen werden.

Und immerhin hat er einige Ratschläge zu bieten, wie sich die Menschheit auf diese Zukunft vorbereiten kann: Sie sollte kollektiv in die Entwicklung des benötigten Hirn-Modells investieren, damit dieser Fortschritt nicht etwa von einem einzelnen Unternehmen erreicht und monopolisiert wird. Sie sollte Anlagemöglichkeiten schaffen, die an Wert gewinnen, wenn die EM-Welt wirklich kommt. Und sie sollte sich hinter die ersten Scans stellen und den Aufwand dafür als eine Art Geschenk an die neue Gattung der Computer-Hirne verstehen. Denn dann, so Hanson, bestehe die Hoffnung, dass die EMs Dankbarkeit und eine Verpflichtung gegenüber uns normalen Menschen empfinden.

(sma)