Der Futurist: Warme Worte

Was wäre, wenn wir alles aufzeichnen würden?

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Lieber Kunde,

es gibt in letzter Zeit Stimmen, die behaupten, die Einführung der "multimodalen perzeptionellen Rekonstruktion" wäre ein Fehler. Was Sie unter "totaler Erinnerung" kennen, sollte unbedingt gestoppt werden. Manche von Ihnen werden dadurch verunsichert. Aber sind Begriffe wie falsch und richtig nicht mittlerweile überholt? Vereinfachen sie die komplexe Datenlage nicht zu sehr? Lassen Sie uns gemeinsam zurückblicken.

Als Gordon Bell, der Großvater unseres Firmengründers, damals Forscher bei Microsoft, 2002 damit anfing, nahezu jeden Aspekt seines Lebens digital aufzuzeichnen, wurde er als Spinner verlacht. Dass Bell und andere Visionäre damals geschmäht wurden, war allerdings kein Wunder. Denn gemessen an dem, was heute möglich ist, war die Technik primitiv: Der "Narrative Clip" zum Beispiel schoss Standbilder ohne Ortsinformationen und Kontextdaten.

Schon ein paar Jahre später begann sich die Situation jedoch zu ändern. Berauscht von den Möglichkeiten der ersten Wearables, machte sich eine Generation technikaffiner junger Menschen daran, alle Aspekte des Lebens aufzuzeichnen und zu optimieren: Arbeit, Sport, Schlaf, Beziehungen, Unterhaltung, Lernfortschritte – einfach alles.

Dann kam der Wendepunkt: Der Bombenanschlag auf die Bibliothek des Britischen Museums am 5. November 2023. Über 100 Tote waren zu beklagen. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses war das europäische Gesetz über Datenfusion eine reine Formalität. Binnen weniger Tage beschloss der EU-Ministerrat, dass die Polizei auf sämtliche Aufzeichnungen zugreifen darf: Aufnahmen von Überwachungskameras, Ortsdaten von Telefonen, gescannte RFID-Tags, physiologische Daten von Fitnesstrackern. Wenige Tage später waren die Täter gefasst.

Natürlich haben sich die Datenschützer gewehrt. Aber 2024 wurde Julian Assange in Island zum Präsidenten gewählt. Bereits im ersten Monat seiner Regierungszeit verschaffte er den isländischen "Datenbunkern" mehr Geheimhaltungsrechte als den Schweizer Banken vor der Abschaffung der Nummernkonten. Damit war es erst mal legal, die Sensorfusion nicht nur zur Verbrechensbekämpfung, sondern auch für das Lifelogging zu verwenden. Ein Grundstein, auf dem auch unser Unternehmen gebaut ist.

Und heute? Leben wir tatsächlich in einer Welt, in der kein persönlicher Moment mehr verloren geht. Natürlich gibt es Kritiker. Juristen etwa beklagen, dass immer weniger Verträge schriftlich abgeschlossen werden. Selbst zwischen großen Unternehmen ginge es heutzutage zu "wie auf dem Pferdemarkt". Alles per Handschlag. Das mag schwierig sein für den Broterwerb mancher Leute. Aber der Beruf des Heizers ist auch ausgestorben.

Und die Linguisten beschäftigen sich mit obskuren Modethemen. Wörter wie "Ja" oder "Nein" sollen angeblich aus unserer Sprache verschwinden, weil niemand sich mehr eindeutig festlegen will. Aus Furcht, ihm oder ihr könnten später daraus Nachteile entstehen. Ein paar radikale Maschinenstürmer behaupten gar, die stetig sinkende Zahl der Eheschließungen hänge damit zusammen. Lächerlich!

Unfug! Was wir erleben, sind lediglich Geburtswehen einer neuen Gesellschaft, in der nichts mehr romantisch vernebelt wird. Alles ist real und wahrhaftig. Wie war der erste Kuss? Was war das erste Wort Ihres Kindes? Alles gespeichert. Jederzeit verfügbar. Bei uns in sicheren Händen. Wir danken Ihnen für Ihr Vertrauen.

Herzlichst,
Lazarus Long,
CEO Total Recall Inc.

PS: Bitte denken Sie rechtzeitig daran, die Gebühren für die Verlängerung Ihres individuellen Datenspeichers zu begleichen. Ihr Abo läuft am 31.12.2030 aus. Halten Sie Ihre Erinnerungen am Leben! (wst)