Lasst die Spiele beginnen

Die virtuelle Realität nimmt Kurs auf den Massenmarkt. Nun müssen die Programmierer und Filmschaffenden nachziehen.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Boris Hänßler

"Lieber Gott, ich komme!" Das Kind hatte schnell raus, was wirklich spannend an virtueller Realität ist. Es stand vor einer Leinwand und steuerte sich mit einem Controller pflichtbewusst durch die Anlage, dann aber bewegte es sich plötzlich nach oben, als wären ihm Flügel gewachsen. Es flog durch das Fenster hinaus, näherte sich dem Himmel. Eigentlich entwickeln Forscher am Karlsruher Institut für Technologie die virtuelle Umgebung, damit Firmen Produktionsanlagen testen können. Als die Öffentlichkeit sich eine Anlage ansehen durfte, war daher die Auffahrt in den Himmel nicht unbedingt Teil des Plans. Aber sie war auch nicht ausgeschlossen. Gott sei gegrüßt!

Für die Technikbranche hat der Glaube an den Erfolg der virtuellen Realität (VR) tatsächlich fast religiöse Ausmaße erreicht. Nach langer Anlaufzeit, die in den 1990er-Jahren begann, sehen VR-Anhänger jetzt endlich das virtuelle Zeitalter vor sich: Es soll die Welt so umkrempeln wie einst das Internet. VR verspreche neue Computerspiele, eine neue Art der Kommunikation, neue Film- und Konzerterlebnisse und nicht zuletzt eine neue Arbeitswelt. Die Branche könne laut Marktforscher TrendForce dieses Jahr mit dem Verkauf von 14 Millionen VR-Geräten rechnen. 2020 sollen es 38 Millionen sein.

Ihren Blick richtet die IT-Fachwelt vor allem auf Facebook. Das Unternehmen hatte für rund zwei Milliarden Dollar Oculus Rift gekauft, den Hersteller eines Head-Mounted Displays, das uns in hoher Qualität in Welten eintauchen lässt, die wir bislang nur eindimensional von vorn betrachten durften.

Andere Unternehmen ziehen nach: Google erlaubt auf YouTube 360-Grad-Videos und wirbt für Cardboards – Papp- oder Plastikschuber für das Smartphone, die man sich auf die Nase setzt, um virtuelle Realität über Linsen zu erleben. Samsungs Gear VR funktioniert nach dem gleichen Prinzip. Sony bringt mit Morpheus dieses Jahr eine VR-Brille für die PlayStation 4 auf den Markt. Auch HTC und Valve werden ihr Vive-Modell an erste Kunden verschicken. Dieses System arbeitet mit externen, in Ecken postierten Sensoren, die den Raum mittels Laserstrahlen abtasten, sodass die Bewegungen des ganzen Körpers im Raum – nicht nur die Kopfbewegung wie bei Oculus Rift – in die virtuelle Welt übertragen werden können.

So viel zur Hardware, doch welcher Inhalt ist überhaupt für VR geeignet? Philip Rosedale, der Erschaffer von "Second Life", einem virtuellen Social Network, in dem Menschen durch Avatare interagieren, spielen oder Handel betreiben, lässt das derzeit gerade testen. Er gründete High Fidelity und entwickelt eine Open-Source-VR-Plattform, mit der Entwickler experimentieren dürfen. Seine Vision: Er möchte den bisher eher hölzernen Avataren in virtuellen Welten mehr Leben einhauchen. Kameras sollen die Gesichter der Nutzer aufzeichnen, und die Mimik soll dann auf die Avatare übertragen werden. Mit Bewegungstrackern wie Razer Hydra und Leap Motion lassen sich auch Hände und Körperbewegung für die virtuelle Welt erfassen.

Damit wäre die virtuelle Welt zwar grafisch attraktiver als beim ursprünglichen Second Life, doch das Geschäftsmodell wäre dasselbe: Rosedale will Geld damit verdienen, virtuelle Immobilien oder Dienstleistungen anzubieten – Kleidung, Spiele, Konzerte, E-Learning-Kurse oder Kinofilme, die Nutzer auf der virtuellen Couch mit anderen Avataren schauen. Second Life hat mit dem Konzept keinen Massenmarkt erreicht – womöglich ist die Masse der User beim virtuellen Freundepflegen doch lieber mit dem eigenen Gesicht unterwegs, wie Instagram und Facebook beweisen. Und wie sich herausstellte, nutzen sogar Second-Life-User vor allem die Messaging-Funktion, statt virtuelle Kinos zu besuchen. Ob sich das ändern wird, wenn die Avatare "natürlicher" agieren und besser gestaltet sind, ist fraglich.

Aufwendige VR-Kinofilme sind ebenfalls noch nicht in Sicht. Für Blockbuster wie "Star Wars – Das Erwachen der Macht" wurden immerhin kleine VR-Demos gedreht. Dabei rast der Zuschauer in einem Fahrzeug über den Wüstenplaneten Jakku und kann in alle Himmelsrichtungen schauen. Der Sender HBO warb in einer Ausstellung für die Serie "Game of Thrones" sogar mit einem virtuellen Lift: Die Besucher, ausgestattet mit einer VR-Brille, stiegen auf eine ruckelnde Plattform und fuhren virtuell in die Festung "Castle Black" an der eiskalten nördlichen Mauer der Fantasywelt Westeros hoch. Dort blickten sie auf schneebedeckte Landschaften, und kalte Luft aus einer Windmaschine pfiff ihnen um die Ohren. Sie fühlten sich, als seien sie wirklich ein Mitglied der Nachtwache in der Serie. Beide VR-Erlebnisse waren freilich straffe Werbeshows, und Rob Bredow von Lucasfilm fragt nicht zu Unrecht: "Ist so etwas aufregend genug, um einen zwei Stunden lang zu fesseln? Und wenn ja, haben wir trotzdem noch nicht herausgefunden, in welcher Form VR-Filme gemacht werden müssen."

Denn das ist die große Frage, vor der die Branche steht: Welcher Inhalt ist überhaupt für VR geeignet? Wie actionreich, wie dicht darf die Handlung sein? Bei einem Agentenfilm, bei dem von allen Seiten auf den Zuschauer eingeschossen wird, dürfte der Spaß recht schnell aufhören. Und zweitens: Wie erzählt man überhaupt eine Handlung, wenn niemand weiß, wo der Zuschauer hinschaut? Beim klassischen Kinoerlebnis ist die Richtung klar: nach vorn auf die Leinwand. Aber wenn die Handlung auch hinter einem spielen kann, müssen sich die Filmer gute Tricks überlegen, um den Zuschauer dorthin zu lenken.

Fragen, die auch die Spieleentwickler erst einmal klären müssen und sich bislang zurückhaltend zeigen. Kleinere Unternehmen liefern derzeit zwar den ersten Content für VR. Doch sie gehen es langsam an. Die Hamburger Firma CrazyBunch hat ihr App-Spiel "Break a Brick", eine Mischung aus Tetris und Shoot 'em up, ohne großen Aufwand für VR-Geräte umgesetzt. So kann man sich um 360 Grad in einer Weltraumszenerie umgucken, doch das Spiel läuft zweidimensional auf einer eingeblendeten Fläche. "Wir glauben, dass wir die Leute so erst einmal an VR heranführen können, ohne dass sie unter zu vielen Bewegungen leiden", sagt Alexander Kraus von CrazyBunch.

Es fehlen Erfahrungen, wie VR-Spiele funktionieren. Fest steht nur: Bisherige Spielprinzipien müssen infrage gestellt werden. "Viele klassische Konzepte funktionieren in der VR nicht", sagt Kraus. "Schnelle Bewegungen wie bei Ego-Shootern verursachen Übelkeit. Wenn die erste VR-Erfahrung darin besteht, dass ihnen beim Spielen schlecht wird, werden die Nutzer nicht lange dabeibleiben." Noch zurückhaltender sind die Großen der Branche. Publisher wie Electronic Arts und Activision warten erst einmal ab, bis es erste Erfahrungen mit VR-Spielen gibt. "Erleben wir ,Battlefield', ,Mass Effect' oder ,Need for Speed' irgendwann in VR? Vielleicht, aber erwartet nicht, dass das so bald geschehen wird", erklärt Electronic-Arts-Chef Andrew Wilson.

Das Henne-Ei-Problem, unter dem die virtuelle Realität seit Jahren leidet, bleibt damit bestehen: Ohne gute Anwendungen keine Nutzer – und ohne Nutzer kein Geld für gute Anwendungen. Mit der neuen Generation von VR-Brillen hoffen die Entwickler zwar, das Problem zu lösen. Aber im Alleingang werden sie es wahrscheinlich nicht schaffen. Denn für das herbeigesehnte Gefühl der Immersion reicht es oft nicht, nur den Augen eine Rundumwelt vorzugaukeln. Auch der restliche Körper müsste Teil davon werden. Genau hier aber hakt es noch. In dem Spiel "Rock Band" etwa setzt der Nutzer sich die Oculus Rift auf und findet sich auf einer Bühne wieder. Er sieht die Gitarre an seinem Körper baumeln, blickt von hinten auf den Sänger und seitlich auf den Bassisten, die Fans himmeln ihn von vorn an – er soll sich als Rockstar fühlen. Aber auf der Gitarre fehlen Hände; es leuchten nur Farben auf, die simulieren, dass man die Saiten zupft: nicht gerade ein authentisches Bühnenerlebnis.

Wie wichtig es den Nutzern sein dürfte, virtuelle Gegenstände realistisch zu handhaben, zeigen verschiedene Experimente. Probanden möchten ungern eine Maus im Kreis bewegen, um eine virtuelle Schraube zu drehen. Da sei es besser, die Schraube drehe sich automatisch. Die Leute möchten Gegenstände untersuchen, in sie hinein oder unter sie schauen. "Die Immersion genießt immer die höchste Priorität", schrieb Jesse Schell, Gründer der Firma Schell Games in der Fachzeitschrift "Making Games". Je realistischer, desto besser. Sobald den Leuten etwas unnatürlich vorkomme, seien sie frustriert.

Datenhandschuhe, Gestenerkennung oder sogar komplett mit Sensoren ausgestattete Anzüge sollen das ändern. Erste Modelle sind bereits in der Entwicklung. Unklar ist allerdings, wie viel der User bereit ist, in eine möglichst realistische virtuelle Realität zu investieren. Der hohe Preis von knapp 700 Euro für die Oculus Rift Anfang des Jahres hat viele Fans enttäuscht. Die Marktforschungsfirma Gartner dämpfte die Erwartungen weiter mit dem Hinweis, dass nur ein Prozent der weltweit 1,43 Milliarden Desktop-PCs technisch auf einem Stand seien, der grafisch gute VR ermögliche. Die PC-Hardware der meisten User erlaubt Bildwiederholraten von 30, höchstens 60 Hertz. Sowohl Oculus Rift als auch Vive setzen auf 90.

Dabei bleibt es natürlich nicht. Die Computer werden schneller, die Hardware billiger, die Datenhandschuhe besser. Welche Räume sich dann mit VR eröffnen, zeigt sich in Forschungslaboren oder bei großen Firmen, die schon heute Geld für die hochwertige technische Ausrüstung ausgeben können: Abseits des Medien-Hypes ist die Technologie zum Beispiel in der Autoindustrie schon fast Routine. Ford hat ein "Immersion Lab" eingerichtet, in dem Entwickler sich virtuelle Autos per Head-Mounted Display ansehen können, bevor sie in die Produktion gehen. Die Techniker schauen sich die Innenausstattung bei Tages- oder Nachtlicht, mit und ohne Innenbeleuchtung an. Auch können sie den Innenraum mit einer virtuellen Taschenlampe ausleuchten. Sie nehmen dafür eine mit Sensorik ausgestattete echte Lampe in die Hand, und der Strahl wird im virtuellen Raum wiedergegeben. Die VR-Technik ist mit dem CAD-Programm verknüpft, sodass die Ingenieure Änderungswünsche schnell umsetzen und begutachten können. Im vergangenen Jahr hat Ford 193 virtuelle Fahrzeugprototypen auf diese Weise überprüft.

Polina Häfner und ihre Kollegen am Karlsruher Institut für Technologie entwickeln VR auch für mittelständische Unternehmen, die damit Produktionsprozesse simulieren und Fehler frühzeitig ausmerzen wollen. "Man kann zum Beispiel sehen, dass an einer Stelle Freiraum gelassen wurde, sodass der Monteur nicht an ein Bauteil herankommt." Für die Firmen lohne sich der Einsatz von VR oft, auch wenn er noch teuer sei.

Künftig können Firmen ihre Produktionsprozesse so genau simulieren, dass sie erkennen, wann beim Schleifen oder Bohren das Material splittern wird. "Solche Berechnungen können wir in gewissem Rahmen auf Hochleistungs-Clustern bereits durchführen – allerdings in Offline-Simulationen, die dann in der virtuellen Umgebung abgespielt werden", sagt Häfner. "Wir möchten sie auch in Echtzeit hinbekommen, sodass die Techniker beim Rundgang Werte in der Produktion verändern und gleich den Effekt am Material sehen können. Aber das ist ein weiterer Entwicklungsschritt." Der professionelle VR-Bereich werde laut Häfner jedenfalls ein immer wichtigerer Markt sein. Auch für Museen bietet VR ganz neue Möglichkeiten, um ihre wertvollen Schätze zu konservieren, sie den Besuchern ganz anders darzubieten oder Zerstörtes wieder aufleben zu lassen.

An solchen Spezialanwendungen dürfte Facebook kein Interesse haben. Das Unternehmen will möglichst bald in den Massenmarkt. Cheftechniker Mike Schroepfer erzählt auf Messen, dass das Unternehmen Teleporter einführen möchte – Profi- und Hobbyreporter, die ihre Umgebung in 360 Grad abfilmen, sodass sie ihre Facebook-Freunde per VR-Gerät in ihr Wohnzimmer, in ihre Stadt oder in ihr Büro einladen können. Auch suchte Facebook das Gespräch mit den Herstellern entsprechender Kameras wie Theta und Giroptic: Die Nutzer sollen den Content von den Kameras direkt bei Facebook teilen können. Nicht zuletzt will Facebook 360-Grad-Werbeanzeigen pushen. Zu den ersten Partnern gehören Firmen wie Nestlé, Samsung und Disney.

Nach Ansicht der meisten VR-Entwickler befindet sich die Technikwelt derzeit in einer Phase, die an das frühe Internet erinnere – man experimentiere, ohne zu wissen, wohin die Reise gehe. 2016 wird aller Voraussicht nach das VR-Jahr für Pioniere und Entwickler, aber noch nicht das für ungeduldige Konsumenten. (bsc)