Gentechnik: Der Tabubruch

Das Erbgut menschlicher Embryonen galt bis vor Kurzem für Gentechniker des Westens als unantastbar. Doch jetzt lassen Versuche in China die Mauer der Abwehr bröckeln.

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Von
  • Marcel Grzanna

Im Frühjahr 2015 sorgte ein Artikel in "Protein & Cell", einem Fachmagazin für biologische Forschung, für erhebliches Aufsehen. Dabei hielt sich die wissenschaftliche Signifikanz des Papiers mit dem sperrigen Titel "CRISPR/Cas9-mediated gene editing in human tripronuclear zygotes" in Grenzen. Das Thema jedoch war brisant: Erstmals stellten 16 chinesische Mitarbeiter der Sun-Yat-Sen-Universität im kantonesischen Guangzhou den Einsatz der Genschere CRISPR/Cas9 an menschlichen Embryonen öffentlich vor.

Im Fokus stand ein Gen, das als verantwortlich gilt für die vererbbare Blutkrankheit beta-Thalassämie. Die Erkrankten produzieren weniger Hämoglobin und werden dann nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt. Die Chinesen wollten das Gen aus dem Erbgut verbannen, um die Krankheit zu besiegen, bevor sie sich manifestieren kann.

Zwei renommierte Fachmagazine – "Nature" und "Science" – hatten aus ethischen Gründen eine Veröffentlichung abgelehnt. Denn das Projekt brach mit einem Tabu, das vor allem in westlichen Industrienationen die Wissenschaft bestimmt: die Frage, ob der Mensch in das Erbgut von menschlichen Embryonen eingreifen darf. Denn solche Eingriffe sind nicht nur unumkehrbar für denjenigen, der sich aus dem manipulierten Embryo entwickelt, sondern auch für dessen Nachfahren. Der Mensch greift damit elementar in die Evolution ein.

In China allerdings bleibt ein Aufschrei weitgehend aus. Die vom Staat konzertierte Vermittlung von Idealen dient in erster Linie dem Machterhalt der Kommunistischen Partei. Jenseits davon sind die Menschen sich selbst überlassen, ein Gefühl für ethische, gesellschaftliche Werte kann sich so kaum entwickeln. So sieht auch der Biologe Zhao Shimin von der Fudan-Universität in Shanghai in den Versuchen "absolut kein ethisches Problem". Schließlich werde ausschließlich mit nicht lebensfähigen Embryonen experimentiert. Die Forschung sei weit von einer klinischen Anwendung oder einer kommerziellen Nutzung entfernt.

Bei Tieren hat die Volksrepublik diese Grenze längst überschritten. Viele ihrer Forscher beschäftigen sich seit einer Weile intensiv mit den Eingriffen in tierische Gene. Sie produzierten muskelbepackte Hunde und langhaarige Schafe, Mikroschweine, die ausgewachsen gerade einmal 15 Kilogramm wiegen, und Affen mit Autismus-Erkrankung. Wer mag, kann in China auch sein Haustier klonen lassen, um beim Ableben des Originals einen genetisch identischen Nachfolger in petto zu haben.

Die Experimente erfahren große finanzielle Unterstützung der Zentralregierung – und die Folgen davon dürften kaum auf China beschränkt bleiben. Denn das Reich der Mitte verfügt über immer mehr exzellent ausgebildete Forscher, die den Tabubruch mit fundiertem wissenschaftlichen Handwerk verbinden. Was in China passiert, wird auch den Blick des Westens auf die Technologie beeinflussen. Das zeigte nicht zuletzt die Veröffentlichung in "Protein & Cell".

Den Befürwortern der Genmanipulation am Embryo lieferte das Papier neue Argumente für ihren Wunsch nach einer weitgehend liberalen Handhabe der Embryonalforschung. Sie warnen den Westen davor, in Rückstand zu geraten auf einem Gebiet, das einen Bereich der menschlichen Zukunft neu gestalten könnte. Während der Westen noch über moralische Bedenken streite, könnten die Chinesen längst wirksame Therapien gegen vermeintlich unheilbare Krankheiten entwickeln und damit Milliarden Dollar verdienen. Kritiker malen dagegen Horrorszenarien von der Kommerzialisierung von Designerbabys. Noch sind diese weit entfernt, weil es derzeit lediglich um Grundlagenforschung an nicht lebensfähigen Embryonen geht.

Aber die Arbeiten in China haben eine Bresche geschlagen: Nur wenige Monate dauerte es, bis zunächst in Schweden und danach in Großbritannien staatlich genehmigt wurde, noch vor der ersten Zellteilung in das Erbgut des entstehenden Lebens einzugreifen. Im Juni vergangenen Jahres erhielt der schwedische Wissenschaftler Fredrik Lanner vom Karolinska-Institut in Stockholm grünes Licht für seine Experimente. Er will mithilfe der CRISPR-Methode herausfinden, was in den ersten sieben Tagen der Embryonalentwicklung passiert und wodurch Schwangerschaftsabbrüche entstehen.

Ein ähnliches Ziel verfolgt die Stammzellenforscherin Kathy Niakan vom Francis Crick Institute in London, deren Forschung die britische Regierung Anfang des Jahres legitimierte. Wenn die Isolation der einzelnen Gene gelingt, kann Niakan wahrscheinlich präzise ihre Funktion und ihre Bedeutung für Erbkrankheiten bestimmen.

Genau an diesem Punkt hatte die Forschung der Chinesen gehakt. Für das Experiment benutzten sie nicht überlebensfähige Eizellen, die von zwei Samen gleichzeitig befruchtet waren. In insgesamt 86 davon injizierten sie das Enzym CRISPR/Cas9. Das Protein soll das HBB-Gen aus dem Erbgut herausschneiden, durch andere Moleküle ersetzen und das reparierte Gen sich anschließend bei der Zellteilung im Erbgut weiterverbreiten.

Das Resultat war für die Forscher enttäuschend. Zwar überlebte ein großer Teil der Embryonen den Eingriff, doch nur bei etwas mehr als der Hälfte fügten sich die Moleküle nahtlos in die DNA ein. Von denen wies auch nur ein Bruchteil die erhoffte Vererbung aus. Zudem sahen sich die Wissenschaftler einer großen Anzahl an Mutationen gegenüber, die sie gar nicht beabsichtigt hatten. Das Verfahren erwies sich als nicht ausreichend ausgereift, um es an überlebensfähigen Embryonen anzuwenden. Kritiker aus aller Welt sahen sich in ihrer Abwehrhaltung bestätigt.

Doch in der Volksrepublik gehen die Experimente weiter. Anfang April gab es im "Journal of Assisted Reproduction and Genetics" eine zweite Veröffentlichung aus dem Bereich der embryonalen Stammzellenforschung. Ein Team der Guangzhou Medical University hatte sich das CCR5-Gen vorgenommen, das für die HIV-Infektion verantwortlich ist. Die gezielte Manipulation dieses Gens könnte den Menschen immun machen gegen Aids. Wiederum jedoch blieben markante Resultate aus. In nur vier von 26 Embryonen wurde das veränderte Gen während der Zellteilung verlässlich weitergegeben. Bei den anderen blieb die Erbgutveränderung auf der Strecke, oder es kam zu unerwünschten Mutationen.

Die Veröffentlichung solcher Arbeiten provoziert im Westen Fragen nach der Sinnhaftigkeit. Manche Befürworter der Genmanipulation sehen allerdings in dem Tabubruch als solchem einen Fortschritt. Und weil in China die Staatspresse die Studien trotz aller Fehlschläge als Durchbruch und Beweis für Chinas Aufstieg in den Rang einer Spitzenforschungsnation feiert, dürfte es nicht der letzte Tabubruch sein. (bsc)